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1.5.4 Kontingent-liberativer Wunderbegriff
Dieser Wunderbegriff betrifft einmalige, überraschende, unverfügbare Ereignisse, die das Leben heilvoll und nachhaltig verändern (Befreiung, Erlösung, lat. liberatio). Wunder im kontingent-liberativen Sinne sind nicht gegen Naturgesetze gerichtet, sondern sprengen den Rahmen des Normalen, Gewöhnlichen, allgemeiner Lebenserfahrung oder statistischer Wahrscheinlichkeit.1 Auf sie passt der gr. Terminus parádoxon. Solche Ereignisse lassen sich als göttliche Fügung oder als Zufall deuten, das heißt, sie sind kontingent.2 Typische Reaktionen sind Staunen, Verwunderung, Dankbarkeit, Freude, Erleichterung und Hoffnung.
Beispiele: Wer aus schwerer Krankheit glücklich heraus und wieder ins Leben findet, kann das als Wunder ansehen. Wer unbeschadet an einem Verkehrsunfall vorbeikommt, vielleicht wegen einer ungewollten Verzögerung bei der Abfahrt, kann das Geschehen ebenfalls als glückliche Fügung deuten. Dass ein verloren geglaubter Sohn nach Jahren wieder auftaucht und Kontakt sucht, ist für jemanden, der nicht mehr damit gerechnet hat, erstaunlich und erfreulich zugleich; die glücklichen Eltern deuten es möglicherweise als Wunder.
Kontingent-liberative Wunder sind unverfügbare Heilsereignisse.3 Sie sind weder planbar noch machbar. Sie haben Geschenkcharakter, sind in der Regel einmalig und lassen sich nicht im Reagenzglas reproduzieren. Damit sind sie im wissenschaftlich-technischen Sinne nicht beweisbar.
1.5.5 Biblisch-konfessorischer Wunderbegriff
Der biblisch-konfessorische Wunderbegriff setzt eine religiös-mystische Weltwahrnehmung voraus. Sie erkennt in allem, was geschieht, einen höheren Sinn, ein Ziel und eine glückliche, gottgewirkte Fügung. Wer so denkt, glaubt nicht an Zufälle und hat prinzipiell Hoffnung, dass selbst aussichtslose Situationen eine wunderbare Wendung zum Guten nehmen könnten. Selbst Naturgesetze erscheinen überwindbar. – Der biblisch-konfessorische Wunderbegriff hat fünf Merkmale: Erstens, er weist auf ein göttliches Eingreifen ins Weltgeschehen hin; zweitens, er impliziert die Durchbrechung vielfältiger Ordnungen; drittens, er führt zu religiös-mystischer Erkenntnis; viertens, er setzt nachhaltige Hoffnung frei; fünftens, er kollidiert mit dem naturwissenschaftlich-rationalen Weltbild.
ad 1) Hinweis auf ein göttliches Eingreifen: Biblische Wunder sind Zeichen der heilvollen Zuwendung des Schöpfergottes zur Welt. Als solche sind sie gleichsam die Spitze des biblischen Gottesglaubens und damit theologisch unverzichtbar.
Beispiel: Das JohEv nennt die Wunder Jesu wiederholt Zeichen (gr. semeía). Was Jesus tut, hat Hinweischarakter. Seine Wundertaten offenbaren die ‚Werke Gottes‘ und seine Schöpfermacht. Für den glaubenden Menschen gibt es allenfalls einen graduellen Unterschied zwischen subtilen Fügungen und spektakulären Wundern. Entscheidend ist, dass überhaupt mit göttlichen, wunderhaften Wendungen zum Guten gerechnet werden kann.
ad 2) Durchbrechung vielfältiger Ordnungen: Der biblische Wunderbegriff impliziert die Sprengung festgefügter Grenzen.1 Die Durchbrechung von Naturgesetzen ist dabei nur ein Aspekt; gleichgewichtig ist die Durchbrechung sozialer und religiös-moralischer Regeln. In deren heilvoller Durchbrechung zeigen sich Gottes Schöpferkraft und seine kompromisslose, liebende Zuwendung zum Menschen. In ihrer Gesamtheit weisen die Regelverstöße auf einen ganzheitlichen, den Menschen in all seinen Bezügen einbeziehenden, Wundervorgang hin.
Beispiele: ‚Normenwunder‘ durchbrechen soziale Regeln und religiös-moralische Werthaltungen. Naturwunder, Geschenkwunder und Totenerweckungen sprengen Naturgesetze: Ein Sturm lässt sich nicht durch Bedrohung stillen, fünftausend Menschen werden nicht von fünf Broten und zwei Fischen satt, ein Toter kommt nicht zurück ins Leben. An solchen Wundertexten macht sich die wissenschaftliche Grundsatzkritik am biblischen Weltbild fest (→ 3.2.1).
ad 3) Provokation religiös-mystischer Erkenntnis: Biblisch-konfessorische Wunder provozieren eine göttliche Erkenntnis bzw. ein Bekenntnis (lat. confessio). Typische Reaktionen sind, neben Staunen und Verwunderung, Bewunderung, Dank und Bekenntnis oder Furcht und Entsetzen angesichts der beklemmenden Präsenz Gottes. Darüber hinaus provozieren diese Wunder oftmals eine Kontroverse über die Vollmacht des Wundertäters (eschatologisch-kritische Funktion → 3.6.5g).
ad 4) Wirkung nachhaltiger Hoffnung: Die heilvolle, wunderbare Durchbrechung des ‚Normalen‘ führt zu einer nachhaltig veränderten Weltsicht: Der Blick weitet sich; was zuvor unmöglich schien, scheint auf einmal möglich. Wunder begründen die Hoffnung auf Erlösung von Leid, Vergänglichkeit und Tod. Wunder „sind der letzte Ankerpunkt der Hoffnung da, wo es, nüchtern-rational betrachtet, nichts mehr zu hoffen gibt“2 (‚da hilft nur noch ein Wunder!‘).
Wer an Wunder glaubt, für den gibt es keine Grenzen des Möglichen. Gottes Fürsorglichkeit, die sich oft in subtiler Führung im Alltag zeigt (kontingent-liberativer Wunderbegriff), und Gottes Schöpferkraft, die in biblischen Erzählungen aufscheint, sind nicht voneinander zu trennen. Derselbe Gott, der mich durch den Alltag führt, kann mich auch in aussichtslosen Situationen bewahren und zu neuem Leben führen – selbst dann, wenn andere mich auf Grundlage empirischer Statistik oder Lebenserfahrung schon aufgegeben haben.
ad 5) Konflikt mit dem naturwissenschaftlich-rationalen Weltbild: Die biblischen Wunder durchkreuzen die Lebenserfahrung und sprengen festgefügte Grenzen. Während soziale und religiös-moralische Grenzüberschreitungen rational ‚unverdächtig‘ sind, stellt die Durchbrechung natürlicher Ordnungen, wissenschaftlich-rational betrachtet, eine unmögliche Möglichkeit (gr. adýnaton) dar. Doch die Wundertexte lassen keinen Zweifel daran, dass auch Naturgesetze durchbrochen werden; sie konfrontieren die menschliche ratio mit der Wirklichkeit des naturhaft Unmöglichen, mit der Befreiung aus festgefügten sozialen Strukturen und mit der Durchbrechung religiös-moralischer Werthaltungen.3
1.5.6 Fazit: Provokation der menschlichen ratio
Biblisch-konfessorische Wunder provozieren Staunen, Entsetzen, Lobpreis und göttliche Erkenntnis, denn sie überschreiten die Grenzen des mit menschlicher ratio Erwartbaren und Erklärbaren. Sie legen gleichsam den Finger in die Wunde eines sich selbst absolut setzenden, naturwissenschaftlich-rationalen Wahrheitsbegriffs. Der Wunderglaube impliziert eine unsichtbare Wirklichkeit jenseits empirisch beschreibbarer, naturwissenschaftlich erforschbarer und mathematisch berechenbarer Wirklichkeit. Wunder verweisen auf Geschehnisse zwischen Himmel und Erde, die mit nüchtern-analytischem Blick nicht zu erfassen sind.
„Die neutestamentlichen Wundergeschichten sind nicht irrational, paranormal oder schamanisch, sondern friktional zu verstehen. Sie sind Ausdruck einer alternativen Wirklichkeitserschließung, die sich ihren Blick nicht durch die Sachzwänge von Normierungen und Normalisierungen verstellen lässt.“1
Es ist eine Aufgabe dieses Buches, die Wundertaten und Wundertexte von der Messlatte aufgeklärter Vernunft zu befreien und ihnen den Stellenwert in Wirklichkeit und Theologie zurückzugeben, der ihnen angemessen ist.
Wunderbegriffe
profan-ästhet. Wunderbegriff kontingent-liberativer W.-begriff bibl.-konfessorischer W.-Begriff gr. Terminus thaumásion parádoxon adýnaton Messlatte das Gewöhnliche das Wahrscheinliche das Mögliche/feste Ordnungen Gegenstand ästhetische Objekte (Natur, Kultur, Technik) heilvolle, kontingente Ereignisse heilvolles, Normen sprengendes Eingreifen Gottes Ursache/Wertung rational erklärbar; ‚kein Wunder‘ göttliche Fügung oder Zufall? göttliche Wundertäter, rational nicht erklärbar Reaktionen Staunen, Verwunderung, Erweiterung des Weltbildes Dankbarkeit, Glück, Freude, Erleichterung, Hoffnung Furcht, Entsetzen, Lobpreis, Bekenntnis, Glaube, Nachfolge, Hoffnung, WiderstandDifferenzierung der Wunderbegriffe

Abstufungen des Begriffs ‚Wunder‘
1.5.7 Exkurs: Naturgesetze und Quantenphysik
Die bahnbrechenden Entdeckungen Albert Einsteins (1900), Max Plancks (1905), Werner Heisenbergs (1925/27) und anderer Quantenphysiker waren eine grundsätzliche Anfrage an das bis dato herrschende Verständnis der Naturgesetze als unveränderliche Elemente eines deterministischen Weltbildes.1 Die veränderte Einschätzung erweckt den Eindruck, als seien naturwissenschaftliche ratio und Wunderglaube doch vereinbar.2 Wunderhermeneutisch ändern die Erkenntnisse allerdings nichts, da die Texte den unmöglichen Charakter des wunderhaften Geschehens ausdrücklich betonen und die ratio gezielt provozieren. Eine wissenschaftlich-rationale Wunderdeutung wird auch unter verändertem Vorzeichen dem Wahrheitsanspruch der Texte nicht gerecht (→ 3.4.4; 3.5.7).
1.6 Antike Wundergattungen
Auf Grundlage der von Gerd Theißen formkritisch entwickelten Wundertypen zeigt der Abschnitt das Spektrum antiker und biblischer Wundertexte auf.1 Eine Einteilung in textpragmatisch begründete Textgruppen erfolgt unter → 3.6.5.
1.6.1 Heilungswunder/Therapien
Die verbreitetste Form antiker und biblischer Wunderberichte sind Heilungswunder (Therapien). Sie beschreiben die Heilung eines physischen Gebrechens, einer Behinderung oder psychogenen Störung. Regelmäßige Bestandteile solcher Wundertexte sind die Beschreibung der Not (ohne medizinische Präzisierung), die Begegnung des Kranken mit dem Wundertäter, der Wundervollzug und Reaktionen darauf. Die Krankheitsursache spielt nur eine marginale Rolle. – Der Babylonische Talmud bietet als Beispiel für eine Therapie ein Wunder Chanina ben Dosas:
„Einst erkrankte der Sohn Rabbi Gamaliels, und er sandte zwei Schriftgelehrte zu Rabbi Hanina ben Dosa, daß er für ihn um Erbarmen flehe. Als dieser sie sah, stieg er auf den Söller und flehte für ihn um Erbarmen. Beim Herabsteigen sprach er zu ihnen: Geht, das Fieber hat ihn verlassen. Da sprachen sie zu ihm: Bist du denn ein Prophet? Er erwiderte: weder bin ich ein Prophet noch der Sohn eines Propheten; allein so ist es mir überliefert: ist mir das Gebet im Munde geläufig, so weiß ich, daß es angenommen, wenn nicht, so weiß ich, daß es gewirrt wurde. Hierauf ließen sie sich nieder und schrieben die Stunde genau auf, und als sie zu Rabbi Gamaliel kamen, sprach er zu ihnen: Beim Kult, weder habt ihr vermindert noch vermehrt; genau dann geschah es, in jener Stunde verließ ihn das Fieber, und er bat uns um Wasser zum Trinken.“1
Das Krankheitsspektrum reicht von Lähmungen (Mk 2,1–12 u.a.) über Leiden der Sinnesorgane (Blindheit, Taubheit, Taubstummheit) bis hin zu psychogenen Erkrankungen wie Blutfluss und Besessenheit. Die Wunderinitiative geht meistens vom Patienten aus (anders Joh 5,1–9; 9,1–7). Die einzelnen Erzählteile können unterschiedlich lang und pluriform ausfallen. Manche Heilungen dienen als Anlass für einen Normenkonflikt (z.B. Sabbatheilungen; ‚Normenwunder‘), bei Fernheilungen kommt es zu einer kontaktlosen Heilung über Distanz.
1.6.2 Exorzismen
Dämonenaustreibungen gelten in den Evangelien und im religionsgeschichtlichen Umfeld als eigenständige Wunderform.1 Das gr. Wort exhorkízein bezeichnet den Vorgang der Beschwörung.2 Magische Papyri bieten Exorzismus-Formulare (2.–6. Jh. n. Chr.), was die Nähe zwischen Exorzismus und Magie belegt.3 Ntl. Exorzismen sind Teil eines kosmischen Kampfes gegen satanische Mächte und der Etablierung der basileía Gottes auf Erden (expressis verbis in Mt 12,28). Typisch sind die dramatische Schilderung der Not und der eigentlichen Austreibung. Heftige Dialoge zwischen Dämon(en) und Wundertäter unterstreichen den kosmischen Charakter: Die Dämonen wehren sich, schreien Jesu Identität heraus, weisen auf den unpassenden Zeitpunkt hin. Jesus spricht eine Bannformel (Mk 1,25; 9,25 u.a.) und vertreibt den Dämon, der ein neues Zuhause sucht (Mt 12,43–45; Mk 5,1–20). Auch die Sturmstillung (Mk 4,35–41parr.) trägt exorzistische Züge. – Ein Beispiel exorzistischer Technik eines hell. Magiers bietet PGM IV,1239ff.:
„‚Ich beschwöre dich, Dämon, wer du auch immer seist, bei diesem Gott (Zauberworte): komm heraus, Dämon, wer du auch immer seist, und verlasse den N.N. jetzt, jetzt, sofort, sofort. Komm heraus, Dämon, da ich dich fessele mit stählernen, unlöslichen Fesseln und dich ausliefere in das schwarze Chaos der Hölle.‘ Handlung: Nimm 7 Ölzweige und binde 6 an Ende und Spitze [des Besessenen], jeden für sich, mit dem einen übrigen aber schlage unter Beschwörung. Halt es geheim; es ist schon erprobt. Nach dem Austreiben hänge dem N.N. als Amulett, das der Leidende also nach dem Austreiben des Dämons umzieht, auf einem Zinnblättchen mit folgenden Worten um: ‚(Zauberworte), schütze den N.N.‘“4
1.6.3 Totenerweckungen
Totenerweckungen sind gesteigerte Therapien; der Patient wird vom Wundertäter ins Leben zurückgeholt. Totenerweckungen finden sich im AT (1 Kön 17,9–24; 2 Kön 4,8–37), in den Evangelien und in der Apg.1 Die Erzählungen sind seit jeher ein Stein des Anstoßes (vgl. 1 Kor 15,12–19!). – Philostrat, VitApoll 4,45, äußert Skepsis gegenüber einer angeblichen Totenerweckung des Apollonius:
„Auch jenes war ein Wunder des Apollonius: Ein Mädchen schien in der Stunde der Hochzeit gestorben zu sein, und der Bräutigam folgte der Bahre und rief aus, was man bei einer unerfüllten Hochzeit erwartet. Und mit ihm trauerte auch Rom, denn das Mädchen gehörte zu einer konsularischen Familie. Apollonius begegnete ihrer Trauer (sc. dem Trauerzug) und sagte: ‚Setzt die Bahre nieder! Denn ich werde eure Tränen über das Mädchen aufhören lassen.‘ Und zugleich fragte er, welches ihr Name sei. Die meisten glaubten nun, daß er eine Rede halten werde nach der Art, wie sie zu den Trostreden gehören und die Trauer aufrichten. Er aber tat nichts, als sie zu berühren und heimlich etwas zu ihr zu sagen, und er weckte das Mädchen von ihrem scheinbaren Tod auf. Und das Kind äußerte ein Wort und ging in das Haus des Vaters wie Alkestis, als sie von Herakles ins Leben zurückgebracht wurde. Und die Verwandten des Mädchens gaben ihm 150000 Sesterzen, er aber sagte, sie sollen diese dem Mädchen als Mitgift mitgeben. – Und ob er in ihr einen Funken der Seele gefunden, der denen, die sie pflegten, verborgen geblieben war – denn man sagt, daß, obwohl es regnete, ein Dampf von ihrem Gesicht gegangen sei – oder ob das Leben erloschen war und er es durch die Wärme seiner Berührung wiederherstellte, das ist ein geheimnisvolles Problem, das weder ich noch die, die dabei waren, entscheiden konnten.“2
Typisch sind die Darstellung der Trauer – zum Teil auch als Klage gegen den vermeintlich zu spät agierenden Wundertäter (Joh 11,21.32) –, die Deutung des Geschehens durch den Wundertäter (Mk 5,39; Joh 11,11) und die Schilderung des Erweckungsvorgangs. Zum Teil wird die Möglichkeit physischer Totenerweckungen diskutiert (Mk 5,40; Joh 11,23f.37; 1 Kor 15,12–19; VitApoll 4,45).
1.6.4 Geschenkwunder
Geschenkwunder stellen die lebensspendende Gabe in den Mittelpunkt. Das AT kennt einige Geschenkwunder.1 Populär sind die Speisung der Fünf- bzw. Viertausend (Mk 6,30–44parr.; Mk 8,1–9par.) und das Weinwunder von Kana (Joh 2,1–11). Die Beschreibung der Notlage, die Bitte um die Beseitigung der Not, die Anweisungen für den Wundervollzug und die Bestätigung des wunderhaften Vorgangs sind feste Motive. – Textbeispiel ist ein Geschenkwunder Chanina ben Dosas:
„Es pflegte seine (Hanina b. Dosas) Frau, den Ofen zu heizen an jedem Vorabend des Sabbats und pflegte Rauchwerk hinein zu werfen wegen der Beschämung (d.h., weil sie sich vor den Leuten schämte). Sie hatte jene böse Nachbarin. Sie (diese Nachbarin) sagte: dies ist doch merkwürdig, da ich doch weiß, daß sie nichts haben, und zwar gar nichts. Was soll all dies? Sie (die Nachbarin) ging hin und klopfte an die Tür (des Hauses des Hanina). Da schämte sie (die Frau des Hanina) sich und ging hinein in das Zimmer. Da geschah ihr (der Frau des Hanina) ein Wunder; denn sie sah den Ofen voll von Brot und die Mulde voll von Teig. Da sagte sie (die Nachbarin) zu ihr: (Du) N.N. bringe eine Schaufel; denn deine Brote brennen an. Da sagte sie (die Frau des Hanina) zu ihr: auch ich ging zu diesem Zweck hinein.“2
1.6.5 Natur- und Rettungswunder
Im Fokus steht hier die unerwartete Rettung aus einer aussichtslos scheinenden Situation. Natur- und Rettungswunder durchbrechen in der Regel Naturgesetze. Die Beschreibung der aussichtlosen Ausgangssituation, der Hilferuf an den göttlichen Retter, ein spektakulärer Wundervollzug, Angst und ungläubiges Staunen als Reaktion der Geretteten bzw. der Augenzeugen sind regelmäßige Erzählelemente. Die Evangelien und die Apg enthalten mehrere Natur- und Rettungswunder.1 – Als gr. Textbeispiel dient ein Seenot-Rettungswunder von Homer:
„Sie (sc. die Dioskuren) wurden Retter der Menschen auf Erden und Retter der sausenden Schiffe. Wenn Orkane sich türmen im unerbittlichen Meere, ruft die Söhne des großen Zeus mit Gebeten das Schiffsvolk, schreitet zum Bug des Decks, um weiße Lämmer zu opfern. Schon ist das Schiff vom mächtigen Wind, von den Wogen des Meeres tief ins Wasser gedrückt. Da! – welche Erscheinung! – sie stürmen hoch vom Äther auf fahlen Schwingen plötzlich hernieder, bannen sofort den Wirbel der furchtbaren Winde und breiten Glätte über die See im Geflute des leuchtenden Salzschaums: gute Zeichen den Schiffern, daß nicht ihre Mühe vergebens. Freude gibt ihnen der Anblick, zu Ende sind Jammer und Müh.“2
1.6.6 Normenwunder
Diese Wundergattung thematisiert eine umstrittene Norm, deren Geltung bzw. Nicht-Geltung durch das Wundergeschehen festgestellt wird. Klassisches Beispiel sind Jesu Sabbatheilungen, die einen Normenkonflikt auslösen. Sie bezeugen Jesu Vollmacht, die Tora auszulegen, und markieren einen Paradigmenwechsel: Anstelle eines restriktiven gilt bei Jesus ein an der menschlichen Not orientiertes Toraverständnis.1 – Der Legitimierung liberaler Auslegung von Reinheitsgeboten dient folgender Text aus dem Jerusalemer Talmud:
„Sie wollten den über R. Eliezer ausgesprochenen Bann mitteilen. Sie sagten: ‚Wer soll gehen und ihn mitteilen?‘ R. Akiba sagte: ‚Ich werde gehen und ihn mitteilen‘. Er ging zu ihm und sagte: ‚Meister, deine Genossen exkommunizieren dich.‘ Er (R. Eliezer) nahm ihn nach draußen und sagte: ‚Johannisbrotbaum, o Johannisbrotbaum, wenn die Halacha so ist, wie sie sagen, so sei entwurzelt.‘ Und er wurde nicht entwurzelt. (Darauf) sagte er: ‚Wenn die Halacha so ist, wie ich sage, so sei entwurzelt.‘ Und er wurde entwurzelt. (Er sagte): ‚Wenn die Halacha so ist, wie sie sagen, so soll der Baum zurückkehren.‘ Er kehrte nicht zurück. (Da sagte er:) ‚Wenn die Halacha so ist, wie ich sage, soll er zurückkehren.‘ Und er kehrte zurück.“2
1.6.7 Strafwunder
Im AT sind Strafwunder breit bezeugt. Sie markieren den Willen Gottes, das Heil seines Volkes Israel durchzusetzen bzw. Verstöße gegen seine (Schöpfungs-)Ordnung zu sanktionieren.1 Auch die Apg und die Apk nennen mehrere Strafwunder.2 In den Evangelien fehlen Strafwunder; Jesus tut ausschließlich Wunder, um Menschen in Not zu helfen.3 – Ein hell. Textbeispiel bietet Plutarch (1. Jh. n. Chr.), Über den späteren Vollzug der göttlichen Strafe § 22:
(Thespesios v. Soli führt einen schimpflichen Lebenswandel und fragt das Orakel von Amphilochos) „… ob er den Rest des Lebens besser leben könne. Er aber erhielt zur Antwort, daß er besser leben werde, wenn er gestorben sei. Und auf eine besondere Weise ereignete sich dieses kurze Zeit später für ihn. Denn er fiel von einer Höhe herunter auf das Genick, erlitt keine Verwundung, sondern nur den Schlag und war wie tot. Und nach drei Tagen, als man sich schon um sein Begräbnis (kümmerte), lebte er wieder auf. Schnell gekräftigt und zu sich gekommen, ließ er eine unglaubliche Veränderung der Lebensführung erkennen.“4
1.6.8 Epiphanien
Epiphanien sind plötzliche Auftritte einer Gottheit unter Menschen in direkter Begegnung, in Ekstase oder Traumvisionen. Die Gottheit bleibt unverfügbar, entzieht sich menschlichem Zugriff. Sie präsentiert sich mit Formeln wie „Ich bin XY“ und baut durch Ansagen wie „Fürchte dich nicht!“ Vertrauen auf. Am Ende steht oft sprachloses Staunen. Epiphanien werden mitunter von wunderhaften Ereignissen begleitet (Erdbeben, Öffnung des Himmels bei Jesu Taufe, Ohnmacht der Grabwächter am Ostermorgen u.a.). – Unterscheiden lassen sich Gottes- (Theophanien), Engel- (Angelophanien), Christus- (Christophanien) und Geisterscheinungen (Pneumatophanien).
a) Theophanien
Göttliche Erscheinungen sind ein verbreitetes Phänomen der antiken Religionsgeschichte. In den Mythen erscheint die Gottheit oftmals in Maskerade; der Auftritt zieht wunderhafte Folgen nach sich. Atl. Beispiele sind die Theophanie in Gestalt dreier Männer vor Abraham (Gen 18,2), der Kampf Jakobs mit dem Fremden am Jabboq (Gen 32,23–33) und die Erscheinung Gottes im brennenden Dornbusch vor Mose (Ex 3,2). Die Besuchten erhalten Kenntnis über ein bevorstehendes Ereignis (Abraham), Gottes persönlichen Segen (Jakob) oder einen besonderen Auftrag (Mose). Im NT dominieren Angelo- und Christophanien. – Als Beispiel einer hell. Theophanie sei Hippokratesbrief 15 (1. Jh. v. Chr.) zitiert:
„In jener Nacht … hatte ich einen Traum, aus dem, wie ich glaubte, nichts Gefährliches entstehen würde. Erschreckt aber wachte ich auf. Denn ich meinte, Asklepios selbst zu sehen, und er erschien nahe bei mir … Asklepios aber erschien nicht so anzusehen, wie er auf den Bildern gewöhnlich ist: leicht und sanft, sondern bewegt in seinen Gebärden und ziemlich schrecklich anzusehen. Es folgten ihm Drachen … der Gott aber reichte mir die Hand, und ich nahm sie freudig und bat ihn, mir beim Heilen zu helfen und mich nicht zu verlassen. Er aber (sagte): ‚Im Augenblick bedarfst du meiner nicht, sondern diese Göttin … wird dich führen …‘ Ich aber wandte mich um und sah eine schöne große Frau, mit einfachem Haarschmuck, glänzend gekleidet. Ihre Augäpfel strahlten reines Licht aus, sie glichen Blitzen von Sternen. Und der Gott entfernte sich, jene Frau aber ergriff meine Hand … als sie sich schon umwandte, sagte ich: ‚Ich bitte dich, wer bist du und wie soll ich dich nennen?‘ Sie aber sagte: ‚Wahrheit‘ … die du aber hinzukommen siehst: ‚Schein‘ …‘“1






