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1.7.2 Dämonen
Dämonen (gr. daimónia) sind, etymologisch betrachtet, Wesen, welche den Menschen das göttlich bestimmte Schicksal zuteilen (gr. daíomai, zuteilen).1 Sie sind demnach Mittlerwesen zwischen der göttlichen und der menschlichen Sphäre, Engeln und Geistern vergleichbar.2 Die terminologische Vielfalt3 signalisiert die umstrittene Personhaftigkeit der Mittlerwesen.4 – Im Textbeispiel rettet ein Dämon Apollonius von Tyana das Leben (Philostrat, VitApoll 4,44,5–16):
„Man hatte sich gegen ihn einen Ankläger verschafft, der schon vielen zum Verderben geworden war und zahlreiche Olympische Siege dieser Art vorzuweisen hatte. Dieser Mann hielt eine Anklageschrift in der Hand, die er wie ein Schwert gegen Apollonius schwang, mit den Worten, sie sei ganz scharf gewetzt und werde ihn dem Verderben preisgeben. Als nun Tigellinus dieses Schriftstück auseinanderrollte, fand er darin nicht die geringste Spur einer Schrift vor, sondern sah nur ein unbeschriebenes Buch vor sich. Er kam deshalb auf den Gedanken, dass hier ein Dämon im Spiel sei. Ein ganz gleicher Vorgang soll sich auch später unter Domitian ereignet haben.“5
Das AT hält Dämonen für Gott unterstellte Boten.6 Dämonenglaube wird weithin abgelehnt.7 Engel und Dämonen werden unterschieden (Dan 8f.; vgl. Gen 6,1–4 als Dämonen-Ätiologie). Für Philo von Alexandria sind Dämonen unkontrollierbare Mächte, die Gutes und Schlechtes bewirken (Gig 16–18; Somn 1,141). Josephus sieht in ihnen gequälte Totengeister sündiger Menschen bzw. Rachegeister Ermordeter (Bell 7,185; Ant 13,317). Die frühjüdische Apokalyptik verortet sie im kosmischen Dualismus von Licht und Finsternis (1 QS 3,25; 4,9ff.).
Im NT gelten Dämonen als Handlanger Satans, die für Krankheiten, Verführung, Irrlehre und die Lügenpropaganda des röm. Imperiums verantwortlich sind.8 Die Unterscheidung der Geister ist daher eine existenzielle Aufgabe im frühen Christentum (1 Kor 12,10; 1 Joh 4,1). Jesu Exorzismen sind das Fanal des kosmischen Endkampfes zwischen Gott und Satan nach dessen Entmachtung im Himmel; der Heilige Geist überwindet die Dämonen in Exorzismen (Mt 12,28).9
1.7.3 Magie und Zauberei
„Ich träume davon, dass die Magie wieder Einzug in die Medizin hält und diese sich mehr auf ihre Wurzeln besinnt. Der Placeboeffekt ist keine Täuschung, sondern eine Bestärkung des Patienten […]. Wenn Menschen etwas Zauber brauchen, um sich zu motivieren, warum geben wir ihnen den nicht?“1
Antike Magie ist eine schriftbasierte, aus Persien stammende Wissenschaft.2 Ihr Spektrum reicht von Astrologie, Pharmakologie und Volksmedizin bis hin zu Liebes- und Schadenzauber (→ 1.6.9e). Die Magie hatte eigene, von der antiken Medizin nicht anerkannte Heilmethoden, wie Medizincocktails, magische Formeln, Handauflegung, Berührung und performatives Wort. Magie stößt in der Antike nicht nur auf Akzeptanz. Sie gilt vielerorts aufgrund undurchsichtiger Praktiken und fragwürdiger Wirkungen als dämonische Zauberei;3 mágos (Magier) und goétes (Gaukler, Zauberer, Scharlatan) werden mitunter synonym verwendet.4 Das röm. Zwölftafelgesetz (5. Jh. v. Chr.) stellt Schadenzauber unter Strafe.5 Apollonius von Tyana und andere Wundertäter stehen unter Magieverdacht (VitApoll 8,7.2f.; Josephus Bell 2,262f.; Ant 20,92.167f.).
Die Unterscheidung zwischen Magie und religiös anerkannten Wunderpraktiken fällt schwer. Merkmale der Magie sind das Gottesbild (Gott ist manipulierbar; synkretistisches Denken) und die Erfüllung fragwürdiger Wünsche wie Schadenzauber6 auf Bestellung (weiter → 2.3.4). – Dtn 18,9–12 verbietet Zauberei, Wahrsagerei, Totenbeschwörung und Ähnliches mehr. Die Apg bietet intensive Magierpolemik. Die Apostel überwinden die Magier mithilfe des Heiligen Geistes und demonstrieren damit ihren Wahrheitsanspruch.7
Schriftliche, meist fragmentarisch erhaltene Zeugen antiker Magie sind Zauberbücher, Zauberpapyri, Zaubersprüche, Amulette, ‚Voodoo‘-Püppchen und Fluchtäfelchen (lat. defixiones) aus dem 1. Jh. v. Chr. bis zum 4. Jh. n. Chr.8 Ägyptische Priester verfassten im Rahmen des ägyptischen Tempelkults (‚Haus des Lebens‘) Rezepturen für magische Anwendungen.9 Sie arbeiteten in hell.-röm. Zeit im gesamten Römischen Reich als Magie-Dienstleister. Das methodische Spektrum umfasst Schaden- und Beziehungszauber, Nekromantie, das Herbeirufen jenseitiger Mächte (Invokation), Dämonenbeschwörung, medizinische Maßnahmen (etwa gegen Fieber), die Herstellung von Amuletten, Kleinwunder (Unsichtbarmachen, verriegelte Türen öffnen, Spielglück u.ä.) und (Traum-)Visionen. Apg 19,19 berichtet von der demonstrativen Verbrennung wertvoller Zauberbücher.
1.7.4 Schamanismus
Ein Schamane ist ein „Zauberpriester, bes. bei asiat. u. indones. Völkern, der mit Geistern u. den Seelen Verstorbener Verbindung aufnimmt.“1 Religionsgeschichtlich betrachtet, sind Schamanen bzw. Medizinmänner Mittler zwischen Menschen und Gottheiten in ‚primitiven‘ Stammesgesellschaften.2 Sie stellen Kontakt mit jenseitigen Mächten her, um deren Kräfte für menschliche Belange zu nutzen. Die Kontaktaufnahme erfolgt mittels (Opfer-)Riten, Musiktherapie, Jenseitsreisen in Trance und Totengeleit. Ziel ist es, von Dämonen geraubte Seelen zurück in die zugehörigen Körper zu holen, um eine innere Harmonie im Menschen zu erreichen und dadurch Heilung zu bewirken.
1 Sam 28 verurteilt Jenseitskontakte als Verstoß gegen das Erste Gebot. Die schamanische Praxis der ‚Hexe‘ von Endor hat zwar Erfolg – der Geist des verstorbenen Propheten Samuel kommt zurück –, König Saul als Auftraggeber wird jedoch bestraft.3 Antike Heiler und Visionäre wie Epimenides (7. Jh. v. Chr.), Pythagoras (6. Jh. v. Chr.), Empedokles (5. Jh. v. Chr.), Apollonius von Tyana (1. Jh. n. Chr.) und Alexander von Abonuteichos (2. Jh. n. Chr.) gelten in der Forschung als Schamanen. – Zur schamanischen Deutung Jesu → 3.3.3.
1.7.5 Mythos
a) Klassische Definition
Der Duden definiert Mythos als „Sage und Dichtung von Göttern, Helden und Geistern [der Urzeit] eines Volkes“ bzw. als „legendär gewordene Gestalt od. Begebenheit, der man große Verehrung entgegenbringt.“1 Im Fokus stehen hier die gr. Götter- und Heldensagen. Ihre Merkmale sind die Personifizierung abstrakter, unbegreiflicher oder bedrohlicher Naturmächte, die Durchlässigkeit zwischen menschlicher und göttlicher Sphäre und die posthume Deifizierung wichtiger Gestalten der geschichtlichen Frühzeit. Mythen sind historisch nicht verifizierbar, transportieren aber das Selbstverständnis antiker Kulturen. – Auch biblische Wundertexte werden zum Teil als supranaturale Mythen gewertet; ihr Wahrheitsgehalt wird daher auf einer übertragenen Sinnebene gesucht (→ 3.2.3).
b) Moderner Mythosbegriff
Den poetischen Charakter des Mythos arbeitet Kurt Hübner heraus:
„Der Mythos ist ein weitgehend kohärentes Erfahrungssystem; es beruht auf Grundvorstellungen, mit denen das Seiende und Wirkliche im allgemeinen aufgenommen, geordnet und gedeutet wird.“1
Als poetische Wirklichkeitsdeutung verweise er auf metaphysische oder tiefenpsychologische Wahrheiten und arbeite menschlichen Urängsten entgegen. Für Klaus Berger sind Mythen Reminiszenzen an göttliche Epiphanien und Hinweise auf verborgene göttliche Zeichen in der Welt.2 Mythen sind nicht irrational, sondern folgen, so Berger, einer eigenen Logik, die um die Erfahrung verdichteter Wirklichkeit und göttlicher Macht kreist. Von hier aus ergebe sich eine neue Perspektive auf die Alltagswirklichkeit.3
c) Mythos als Gattungsbegriff
Konstante Formelemente einer literarischen Gattung ‚Mythos‘ fehlen. Mythische Elemente begegnen in unterschiedlichen Literaturgattungen und darüber hinaus in nicht-literarischen Bereichen. Sie thematisieren jenseits des historisch Beweisbaren den Grenzübertritt zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre. Ihr Zweck ist es, soziokulturelle Gegebenheiten ätiologisch zu erklären bzw. die Bedeutung bestimmter Menschen für eine bestimmte Gesellschaft und Kultur hervorzuheben. Ein historischer Wahrheitskern des Erzählten bleibt davon unberührt.
d) Fazit: Ankerpunkte des kollektiven Gedächtnisses
Mythische Texte erklären ätiologisch, unter Verweis auf vorgeschichtliches, göttliches Wirken, politische, religiöse und gesellschaftliche Gegebenheiten. Die wissenschaftlich-rationale Weltsicht sieht in Mythen Relikte eines überholten Weltbildes. Doch leben Mythen und mythische Erfahrungen bis heute weiter. Charakteristisch ist dabei der Eindruck sich verdichtender, konzentrierter Wirklichkeit; die Grenzen von Raum und Zeit scheinen durchlässig. Mythische Ereignisse haben eine eigene Qualität: Sie werden als eminent bedeutsam erfahren und werden zu Ankerpunkten des kollektiven Gedächtnisses.1
1.7.6 Rationalismus
Rationalismus (von lat. ratio: Vernunft, Verstand) bezeichnet eine wissenschaftliche Grundhaltung, eine metaphysische Theorie, ein erkenntnistheoretisches Prinzip und eine Epoche der europäischen Aufklärung, welche die ratio des Menschen zum alleinigen Ausgangspunkt philosophischer Welterklärung machte.1 René Descartes (1596–1650) erklärte die Vernunft zur Erkenntnisquelle schlechthin. Dies führte zur Loslösung der Philosophie sowie der Natur- und Humanwissenschaften von Theologie und Kirche mit ihrem bis dato normativen Welterklärungsmodell. – Als wahr gilt rationalistisch nur das, was rationale Logik, naturwissenschaftliches Experiment, empirische Untersuchung oder historische Forschung erklären bzw. beweisen können. Wissenschaftlich nicht erklärbare Phänomene wie die Wunder Jesu unterliegen einer Grundsatzkritik und werden als Relikte einer vorwissenschaftlichen Weltbetrachtung bzw. als unwahr etikettiert. – Der Rationalismus führte auf Seiten aufgeklärter Theologen zum breit angelegten Versuch, biblische Wundertexte rational zu erklären (→ 3.2.2).
1.7.7 Spiritualität
Der lat. Begriff spiritualis (gr. pneumatikós, geistlich) bezeichnet eine persönlich-religiöse, auf Gottesbeziehung und Ethik ausgerichtete Lebenshaltung jenseits des regulierten kirchlichen Lebens bzw. den emotionalen Bereich des Glaubens.1 Der Theologe Hans Urs von Balthasar (1905–1988) definiert Spiritualität als
„praktische und existentielle Grundhaltung eines Menschen, die Folge und Ausdruck seines religiösen – oder allgemeiner: ethisch-engagierten Daseinsverständnisses ist: eine akthafte und zuständliche (habituelle) Durchstimmtheit seines Lebens von seinen objektiven Letzteinsichten und Letztentscheidungen her.“2
Spiritualität enthält einen religionssoziologischen (individuelle Frömmigkeit, überkonfessionelle Gemeinschaftserlebnisse, unkirchliches Interesse an einem göttlichen Mysterium), einen religionspsychologischen (Spiritualität als besondere Form der Wirklichkeitswahrnehmung) und einen religionsgeschichtlichen Aspekt (Gnostizismus, Esoterik). Gemeinsam ist die Abgrenzung von intellektuell-theologischer und dogmatisch-liturgisch festgelegter, religiöser Praxis. Der Begriff Spiritualität bleibt jedoch schillernd; eine übergreifende Definition versucht der Mediziner Arndt Büssing (*1962):
„Mit dem Begriff Spiritualität wird eine nach Sinn und Bedeutung suchende Lebenseinstellung bezeichnet, bei der sich der/die Suchende seines/ihres ‚göttlichen‘ Ursprungs bewusst ist (wobei sowohl ein transzendentes als auch ein immanentes göttliches Sein gemeint sein kann, z.B. Gott, Allah, JHWH, Tao, Brahman, Prajna, All-Eines u.a.) und eine Verbundenheit mit anderen, mit der Natur, mit dem Göttlichen usw. spürt. Aus diesem Bewusstsein heraus bemüht er/sie sich um die konkrete Verwirklichung der Lehren, Erfahrungen oder Einsichten im Sinne einer individuell gelebten Spiritualität, die durchaus auch nicht-konfessionell sein kann. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die Lebensführung und die ethischen Vorstellungen.“3
Spiritualität gibt es in jeder Religion. Spirituelle Praktiken sind Meditation, Kontemplation, Askese, mystische Versenkung, Exerzitien, Wallfahrten, Heiligenverehrung, Kirchenmusik und Glaubenskurse. Ein profaner Begriff von Spiritualität hebt dagegen auf allgemeine Sinn- und Wertfragen ab.4
a) Religionssoziologischer Aspekt: Das frühe Christentum kennt eine individuelle Spiritualität. Von der spirituell-mystischen Gottesreich-Vorstellung aus (Lk 17,20f.; EvThom Log 113) entwickelte sie sich in verschiedenen Ausprägungen bis in die Gegenwart. Spiritualität ist tendenziell überkonfessionell. Im Gefolge der Postmoderne hat unkirchliche Spiritualität Hochkonjunktur (Meditation, Mystik, Pilgerfahrten). Das weist auf eine neue Sehnsucht nach religiöser Erfahrung und auf eine sich etablierende religiöse Alternativkultur hin.5 Diese ist von der Grundtendenz her monistisch-synkretistisch ausgerichtet.6
b) Religionspsychologischer Aspekt: Spirituelle Wirklichkeitserfahrung folgt nicht den Regeln wissenschaftlich-rationalen Denkens, sondern einer eigenen Logik. Ähnlich wie bei mythischen Erfahrungen ist die Konzentration bzw. Verdichtung von Wirklichkeit, Macht und Zeit charakteristisch.7
c) Religionsgeschichtlicher Aspekt: Im antiken und modern-esoterischen Gnostizismus zielt Spiritualität auf die innere Harmonie des göttlichen Wesenskerns im Menschen mit der das All durchwaltenden Weltseele sowie auf innere Erleuchtung und erlösendes Wissen (gr. gnósis). Letzteres bezieht Elemente verschiedener Kulte und Religionen mit ein (esoterischer Synkretismus). Typisch ist der Rekurs auf keltische und germanische Kulte, auf Schamanismus und Magie sowie auf fernöstliche Religionen (z.B. Zen, Yoga → 1.7.3f.).
1.7.8 Mystik
Mystik ist ein Begriff mit unklaren Konturen.1 Laut DUDEN ist Mystik eine
„besondere Form der Religiosität, bei der der Mensch durch Hingabe u. Versenkung zu persönlicher Vereinigung mit Gott zu gelangen sucht; vgl. Unio mystica.“2
Mystisch sind Erfahrungen unmittelbarer Gottesbegegnung und klarster Erkenntnis. Mystik ist, so betrachtet, eine intensive Form der Spiritualität. Mystische Erfahrungen sind wie Wunder unverfügbar, nicht reproduzierbar und setzen eine religiös-mystische Optik auf die Wirklichkeit voraus. Auch Wunder haben eine mystische Dimension: das Einswerden zwischen menschlichem Gebet, Glauben und Hoffnung mit der erbarmenden, liebenden Zuwendung des göttlichen Wundertäters. Das Einswerden mit Gott setzt die Aufhebung der Grenze zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt voraus. (Traum-)Vision und Audition, Ekstase, Glossolalie, Prophetie, Inspiration, Gebete und Askese sind Wege dorthin.
Okkulte Kontaktaufnahme mit jenseitigen Mächten wie Engeln, Dämonen oder den Geistern Verstorbener gehört nicht zur Mystik. Der mystische Kontakt beschränkt sich im NT auf Gott oder den erhöhten Christus, der als Einziger autorisierte Auskünfte über Gott machen kann (Joh 1,18).3 – Mystik ist auch eine Facette apokalyptischen Denkens. Entrückungen und Himmelsreisen sorgen für mystische Erfahrungen (Paulus: 2 Kor 12,1–4; Johannes: Apk 4ff.). Entrückt in die göttliche Sphäre, bekommen die Visionäre Einsicht in jenseitige oder zukünftige Vorgänge. Das Gesehene muss zum Teil von Deuteengeln entschlüsselt werden und unterliegt der Geheimhaltung; nur zu bestimmten Zeiten und an ausgewählte Adressaten darf es veröffentlicht werden.
1.7.9 Weiche Fakten
Weiche Fakten sind solche, die sich, wie etwa Wunder, naturwissenschaftlich-empirisch weder erklären noch beweisen lassen. Ihre Wahrheit erschließt sich Wahrnehmungsarten jenseits der nüchtern-analytischen Optik auf die Wirklichkeit.
Beispiele: Wer atl. Weisheit zustimmt, für den sind Sprichwörter wie ‚Lügen haben kurze Beine‘ wahr. Für Esoteriker steht der Einfluss des Mondes auf Alltagsphänomene außer Zweifel. Musikliebhaber sehen in manchen Kompositionen regelrechte Offenbarungen. Kunstbeflissenen Menschen ergeht es mit Exponaten moderner Kunst ähnlich. Begegnungen mit dem Göttlichen sind für religiös-mystisch gestimmte Menschen real erlebbar. Liebende sehen in ihrem Gegenüber einen ganz besonders liebenswerten Menschen. – Nichts von alledem ist beweisbar, steht aber für Menschen mit entsprechendem Sensus außer Frage.
Bestimmte weiche Fakten sind nur für Einzelne wahrnehmbar (Visionen, Träume), andere für Gruppen von Menschen, die dieselbe Wahrnehmung teilen (z.B. Therapien, Speisungen). Voraussetzung ist die Offenheit für die religiös-mystische Dimension der Wirklichkeit und die intensive Beziehung zu einem gleichgestimmten Gegenüber. Wunder sind das Ergebnis eines Einswerdens von Gott und Mensch oder gleichgestimmter Menschen untereinander (→ 3.6.3). Dieses Einswerden führt zu intensiven, mitunter umstürzenden und befreienden Erfahrungen, die für die Betroffenen und Augenzeugen durchaus real sind. Weiche Fakten haben für sie eine Wertigkeit, die harten Fakten vergleichbar ist, selbst wenn sie rational nicht beweisbar sind. Die Wahrheit weicher Fakten ist zum Teil intersubjektiv vermittelbar, ‚objektiv‘ überprüfbar und an ihrer Wirkung erkennbar, aber nicht im Sinne rationaler Kausalität beweisbar.1
1.7.10 Faktualität/Fiktionalität
Diese literaturwissenschaftlichen bzw. erzähltheoretischen Kategorien umschreiben den Wahrheitsanspruch eines Textes.1 Vor dem Hintergrund des wissenschaftlich-rationalen Wahrheitsbegriffs bilden Faktualität und Fiktionalität ein Gegensatzpaar – tertium non datur. Faktual sind demnach Texte, die sich auf ein konkretes historisches Geschehen beziehen. Faktualität ist semantisch, textpragmatisch oder durch Kontextbezug ausweisbar und ist nicht gleichbedeutend mit Faktizität. Faktizität meint die minutiös korrekte Wiedergabe des historischen Ereignisses (Zeitungsmeldung, Nachrichtensendung), Faktualität lediglich den grundsätzlichen Verweis auf eine historische Grundlage. Geschichtsschreibung, Reportagen, Zeugenberichten und Ähnlichem kommt insofern keine Faktizität zu, als sie das real Geschehene subjektiv deuten und darstellen.
Fiktional sind dagegen Texte, die sich als Phantasieprodukt zu erkennen geben (Märchen, Gleichnis, Fabel, Mythos, Roman, Lyrik, Traumvision). Fiktionalität ergibt sich aus der Semantik (z.B. die Märchen-Einleitung ‚es war einmal‘, die Überschrift ‚Gleichnis‘ u.ä.) oder aus dem unrealistisch-fiktiven Sujet (Fiktivität: Tiere als Handlungsträger, sprechende Pflanzen, Superhelden u.a.). Die ‚Wahrheit‘ fiktionaler Texte ist jenseits der wörtlichen Sinnebene zu suchen.
Ein fiktionaler Text kann durchaus reale Erzählelemente enthalten, ein faktualer Text kann auch fiktive Erzählzüge tragen. Gleichnisse erzeugen den Eindruck von Pseudo-Realistik; die alltäglich, realistisch anmutende Erzählwelt wird durch extravagante, die Realistik sprengende, Erzählzüge durchbrochen. Solche Extravaganzen fungieren als Hinweis (Transfersignal) auf eine weitere Sinnebene. Da faktuale Erzählungen immer auch fiktive, der subjektiven Deutung geschuldete, Elemente und fiktionale Texte durchaus realistische Züge beinhalten, verlaufen die Grenzen zwischen Faktualität und Fiktionalität fließend. – Aus dem Gesagten ergeben sich vier grundsätzliche Erzählmodi:

Faktuale und fiktionale Erzählungen
Anhand dieser Kategorien wird über das Verhältnis zwischen Erzähltem und Erzählung in Wundertexten nachgedacht. Konzediert wird ihnen ein faktualer Anspruch: Sie weisen auf historisches Geschehen hin (vgl. Mt 11,5; Lk 1,1–4; 4,18–21 u.a.). Dieses Geschehen (Wundertaten Jesu) wird indes kontrovers beurteilt. Seine Faktizität (genau so ist es geschehen!) wird gemeinhin bestritten. Das historische Geschehen sei allenfalls in Grundzügen real (Jesus hat erstaunliche, aber rational erklärbare Dinge getan) und hermeneutisch sei es irrelevant. Damit wird die historische Wunderfrage relativiert. Das führt zu Aussagen wie:
„Unbeschadet möglicher historischer Wurzeln ist der faktuale Anspruch allerdings ein erzählerisches Mittel im Dienst der Aussage über die Person.“2 Oder: „Die Wahrheit solcher Geschichten liegt nicht in historischen Tatsachen vor 2000 Jahren, sie liegt darin, dass, wer sie liest, selber sie wahrmacht in der eigenen Person, durch Taten im eigenen Leben.“3 Oder: „Die Wundergeschichten erzeugen mit ihren faktualen Anteilen ein Porträt des Wundertäters Jesus, das in der damaligen Alltagswelt eine plausible Realität besaß. Alle faktual berichteten Heilungen und Naturwunder waren real möglich, mussten aber nicht auf historisch verifizierenden Fakten beruhen.“4
Kritik: Wundertexte verweisen auf weiche Fakten, das heißt: Der faktuale Anspruch der Wundertexte bezieht sich auf ein historisches Geschehen, das nur subjektiv von einem Menschen (Vision, Traum, Epiphanie) oder intersubjektiv von einer Gruppe von Menschen als reales Geschehen wahrgenommen werden kann (z.B. Therapie, Rettung, Sättigung). Was für diese Menschen Realität ist, ist für andere Menschen phantastische Fiktion. Die Entscheidung über Faktualität und Fiktionalität fällt nicht in der Semantik des Wundertextes, sondern in der Optik auf die Wirklichkeit. Die historische Wunderfrage ist nicht nüchtern-analytisch, sondern religiös-mystisch zu klären und hängt von der Bereitschaft ab, die Phantastik des Erzählten als reale Erfahrung zu verstehen bzw. das ‚Unmögliche‘ des Wunderhaften für real erfahrene und real erfahrbare Wirklichkeit zu halten.

Harte Fakten, weiche Fakten und Fiktion
Die Grafik verdeutlicht den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungsarten bzw. Optiken auf die Wirklichkeit (→ 3.6.2d) und der Wahrnehmbarkeit von harten Fakten (HF), weichen Fakten (WF) und Fiktion (Fi). Die Grafik zeigt, dass die kindlich-vorrationale Optik das weiteste und die nüchtern-analytische Optik das engste Wahrheits- bzw. Wahrnehmungsspektrum aufweist. Die religiös-mystische Optik bewegt sich dazwischen und erfasst auch religiöse oder mythische Dimensionen harter Fakten, was der nüchtern-analytischen Optik nicht möglich ist. Was für diese Optik irrational und fiktiv erscheint (WF, Fi), ist aus religiös-mystischer bzw. kindlich-vorrationaler Optik durchaus wahrnehmbar real. Die Entscheidung, was faktual, faktisch und fiktiv ist, wird je nach Wahrnehmungsart unterschiedlich bewertet. Dazu kommt, dass auch die nüchtern-analytische Optik nie frei von Deutung der Wirklichkeit ist. Eine Fiktion ist daher die Rede von Objektivität im Sinne unverfälschter, von subjektiven Einflüssen freier Beschreibung eines Vorgangs.
2 Historische Fragestellungen
Das Kapitel beleuchtet das Welt- und Menschenbild der Wundertexte (2.1), ihr medizin- und religionsgeschichtliches Umfeld (2.2) sowie Jesu historische Außenwahrnehmung (2.3). Überlegungen zur Genese des ntl. Wunderglaubens (2.4) und zur polarisierenden Wirkung der Wunder Jesu (2.5) runden das Kapitel ab.
2.1 Welt- und Menschenbild
Eine Kontrastierung von antik-biblischem und neuzeitlich-modernem Welt- und Menschenbild ist nicht möglich, da beides in sich uneinheitlich ist.
2.1.1 Sichtbare und unsichtbare Wirklichkeit
Das ntl. Weltbild lässt sich modellhaft als Haus mit drei Etagen (Himmel, sichtbare Welt, Unterwelt) beschreiben. Die Grenzen zwischen den Etagen sind durchlässig. Natürliche Kausalitäten können von göttlichen Kräften unterbrochen werden. Spürbare Wirkungen göttlichen Eingreifens sind z.B. Krankheiten, Wunder und Segen. Spirituell-mystische Erfahrungen mit der göttlichen Sphäre durchziehen die Bibel (z.B. Gebete, Epiphanien, Wunder, heilige Orte und Zeiten).1






