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Und so ist es auch bei uns. In der Taufe werden wir als geliebte Kinder Gottes identifiziert, und unsere Adoption in diese ausufernde, schöne, dysfunktionale Familie, die die Gemeinde Gottes ist, wird von denen gefeiert, die mit Fön und gefüllten Eiern am Ufer stehen. Daher steht das Taufbecken in aller Regel in der Nähe der Kirchentür. Der Mittelgang symbolisiert die Lebensreise des Christenmenschen zu Gott hin, eine Reise, die mit der Taufe beginnt.
Die gute Nachricht ist: Du bist ein geliebtes Kind Gottes. Die schlechte ist: Du kannst dir deine Geschwister nicht aussuchen. Nadia ist eine lutherische Pastorin, die in der fundamentalistischen Tradition der Gemeinde Christi aufgewachsen ist, die es, wie meine auch, Frauen verbietet, Pastorinnen zu werden. Als sie zur evangelisch-lutherischen Kirche übertrat, bat sie ihren lutherischen Mentor, sie zu taufen. Ihr Mentor lehnte weise ab und erinnerte sie daran, dass eine Handlung Gottes weder rückgängig gemacht noch wiederholt werden kann. Obwohl sie die Gesellschaft und die Verhaltensweisen ihrer ersten Gemeinde abgelegt hatte, konnte sie sie nicht aus ihrem geistlichen Stammbaum löschen. Sie waren immer noch ihre Familie.
Wie Nadia habe ich mit der evangelikalen Tradition gerungen, in der ich aufgewachsen bin. Oft plump. Zuweilen habe ich versucht, die Wasser meiner ersten Taufe aus den Kleidern zu wringen, sie aus meinem Haar zu schütteln, und in einer anderen Gemeinschaft um eine Wiederholung gebeten, wo sie Frauen ordinieren, die Demokraten wählen und an die Evolution glauben. Aber Jesus hatte diese seltsame Eigenschaft, normalen, verkorksten Leuten zu erlauben, ihn vorzustellen, und deswegen waren es normale, verkorkste Leute, die mir zuerst erzählten, dass ich ein geliebtes Gotteskind bin, die mich zuerst als eine Christin bezeichneten. Ich weiß nicht, wohin mich meine Glaubensgeschichte führen wird, aber sie wird immer an diesem Punkt beginnen. Das wird sich nie ändern.
Ich wurde von meinem Vater getauft. Und von meiner Mutter. Von Pastor George, von meinen Sonntagsschullehrerinnen, von meiner Schwester, von dem Gebrauchtwagenhändler, der zu Ostern immer eine Gospelvariante von „The Old Rugged Cross“ sang, von dem Jungen, der Popel in meine Haare schmierte, von dem kleinen Mädchen im Rollstuhl, das nicht sprechen konnte. Ich wurde von Alabama getauft, von Reaganomics, von den Evangelikalen, der Parkway Christian Academy und von der Bible Chapel. Ich wurde von Martin Luther King Jr. und George Wallace und Billy Graham getauft. Ich wurde von dem Schlag Mensch getauft, der Angelgeschichten in Predigten verwandelt und Rush Limbaugh hört und mich manchmal auf die falsche Art und Weise liebte. Ich wurde durch Wasser und durch Geist getauft und durch diese seltsame Ansammlung von Atomen und Genen und Erfahrungen, die Gott zusammengesetzt, an der er sich erfreut und die er in einem Akt absurder Gnade Geliebte genannt hat.
DREI
Nackt an Ostern
Wie keck wird man, wenn man sich geliebt weiß!
– Sigmund Freud
In den frühen Zwanzigerjahren legten Archäologen eine Reihe grober Fresken an der Wand eines römischen Hauses frei, während sie die Ruinen der Wüstenstadt Dura-Europos erforschten, die an der antiken römischen Grenze im heutigen Syrien lag. Die Fresken umgaben ein Becken und stellten ein paar eindeutige Szenen dar: eine Frau an einem Brunnen, zwei Personen, die über das Wasser gehen, während ihre Kameraden vom Schiff aus zusehen, drei Frauen, die sich einem Grab nähern. Die Archäologen hatten das Baptisterium der bis heute ältesten bekannten Kirche der Welt gefunden.
Beinahe zweitausend Jahre früher wird das flackernde Licht der Öllampen am Ostermorgen kurz vor Sonnenaufgang die Zeichnungen beleuchtet haben, während die neu zum Christentum Bekehrten splitternackt im Wasser des Taufbeckens knieten. Einer nach dem anderen, die Männer getrennt von den Frauen, bestätigte jeder Täufling die Grundsätze des Glaubens und entsagte Satan und seinen Dämonen, ehe er dreimal ins kalte Wasser untergetaucht wurde – im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.
„Entsagst du dem Satan und allen seinen Werken und allen seinen Engeln und all seinem Dienst und all seinem Hochmut?“, fragen orthodoxe Priester bis heute erwachsene Konvertiten.
„Ich entsage“, sagt der Konvertit.
„Hast du dich Christus angeschlossen?“
„Ja, ich habe mich Ihm angeschlossen.“
„So falle vor Ihm nieder und bete Ihn an!“
„Ich bete an den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist.“
Nach der Taufe wurden den Konvertiten weiße Gewänder gegeben, die ihr neues Leben in Christus symbolisierten, und sie wurden mit Öl gesalbt, das sie als Mitglieder der königlichen Priesterschaft kennzeichnete. Dann gesellten sie sich zu ihren Glaubensgeschwistern, um das Abendmahl zu nehmen. Dieser Prozess wiederholte sich jedes Jahr: Er begann mit einigen Fastentagen und fand seinen Höhepunkt in der feierlichen Osterwache.10
Heutzutage fangen die meisten Kirchen ihren Ostergottesdienst nicht damit an, dass ein Häufchen nasser, nackter Menschen morgens um sechs Satan und seinen Dämonen entsagt. Das würde wohl deutlich weniger Leute anziehen als ausgefeilte Passionsspiele oder Ostereiersuchen mit Geldpreisen. Und doch begann, historisch betrachtet, das Leben eines Christen damit, zwei unbequeme Wirklichkeiten – das Böse und den Tod – öffentlich und offen einzugestehen, und bei der Taufe stellt der Christ die kühne Behauptung auf, dass keine von beiden das letzte Wort behält.
Jetzt fühle ich mich, was den Exorzismus von Dämonen angeht, genauso unwohl wie mein Honda fahrender, Kulturradio hörender, New York Times lesender progressiver Nächster. Wenn ich diese Geschichten im Neuen Testament lese, neige ich dazu, den raffinierteren Ansatz zu wählen und anzunehmen, dass die Leute, die von Dämonen befreit wurden, von psychischen Krankheiten oder Epilepsie oder so etwas geheilt wurden (was, wenn man mal genauer drüber nachdenkt, nur bedeutet, eine wirklich wenig plausible Geschichte durch eine andere auszutauschen). Aber in letzter Zeit habe ich mich gefragt, ob dadurch nicht etwas ganz Wesentliches verloren geht, etwas Wahres über die Form und die Natur des Bösen, das, wie Alexander Schmemann es sagt, nicht nur die Abwesenheit des Guten ist, sondern „die Anwesenheit einer dunklen und irrationalen Macht“.11
Tatsächlich können unsere Sünden – Hass, Furcht, Gier, Eifersucht, Lust, Materialismus, Stolz – zuweilen so konkrete Formen in unserem Leben annehmen, dass wir sie in den Formen und Grimassen der grotesken Wasserspeier über unseren Kathedralentüren wiedererkennen. Und diese Sünden stimmen ein in einen Chor – man könnte auch sagen, in die Legion – der Stimmen, die in einen immerwährenden Kampf mit Gott verstrickt sind, bei dem es um das Anrecht über unsere Identität geht, Stimmen, die uns davon überzeugen wollen, dass wir zu ihnen gehören, dass sie das Recht haben, uns zu benennen. Wo Gott die Getaufte Geliebte nennt, nennen die Dämonen sie Abhängige, Schlampe, Sünderin, Fehler, fett, wertlos, Hochstaplerin, Versagerin. Wo Gott sie Kind nennt, locken die Dämonen mit reich, mächtig, hübsch, wichtig, religiös, geschätzt, kultiviert, richtig. Satan begann seine Schmeicheleien nicht aus Zufall, indem er sagte: „Wenn du der Sohn Gottes bist …“, als er Jesus nach seiner Taufe in Versuchung führen wollte. Wir alle sehnen uns danach, dass uns jemand sagt, wer wir sind. Der größte Kampf im Leben eines Christen ist es, den Namen, den Gott für uns hat, anzunehmen, zu glauben, dass wir geliebt sind, und zu glauben, dass das genug ist.
Ob sie nun aus uns herauskommen oder von außen, ob sie als reale Persönlichkeiten auftreten oder als Systeme, die um unsere Treue wetteifern: Dämonen sind so wirklich wie die rivalisierenden Identitäten, die von uns Besitz ergreifen wollen. Aber anstatt sie aus unseren Kirchen zu verbannen, neigen wir dazu, sie hereinzubitten, wo sie sagen, dass wir Kinder Gottes sein werden, wenn …
wir die Sucht besiegen.
wir die Lehrmeinung unterschreiben.
wir im Kinderdienst aushelfen.
wir unseren Scheiß zusammenkriegen.
wir unseren Zehnten bezahlen.
wir uns an die Regeln halten.
wir glauben, ohne zu zweifeln.
wir verheiratet sind.
wir heterosexuell sind.
wir religiös sind.
wir gut sind.
Aber „die erste Handlung im christlichen Leben“, sagt Schmemann, „ist eine Entsagung, eine Herausforderung“. In der Taufe steht der Christ nackt und ohne Scham vor all diesen Dämonen – all diesen Impulsen und Versuchungen, Sünden und dem Versagen, den leeren Verkaufsversprechen und seltsamen Etiketten – und sagt: „Ich bin ein geliebtes Kind Gottes, und ich entsage allem und jedem, der etwas anderes behauptet.“12 In manchen orthodoxen Traditionen spuckt der Bekehrte tatsächlich dem Bösen ins Gesicht, bevor er untergetaucht wird.
Das zu tun ist mutig und trotzig. Und Christen sollten es viel häufiger tun, wenn nicht in unseren Taufen, dann in unserer Erinnerung an die Taufe. Oder vielleicht immer, wenn wir duschen.
Zusätzlich dazu, dass sie Gottes Macht über Mächte und Gewalten erklären, erklären die ältesten Taufriten auch Gottes Macht über den Tod. Viele der ersten Taufbecken hatten die Form von Särgen. Taufen fanden am Ostersonntag kurz vor Sonnenaufgang statt, um Christi Triumph über den Tod zu gedenken. Das Hinabsteigen des Christen in das Wasser stellt ein Aufgeben, einen Tod des alten Lebensstils dar. Sein Auftauchen symbolisiert die Auferstehung, einen Neuanfang.
„Wisst ihr denn nicht, dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind?“, schrieb der Apostel Paulus den Römern. „Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod; und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben“ (Römer 6,3+4). Cyril von Jerusalem sagte den Frischgetauften: „Durch diese Handlung seid ihr gestorben und geboren worden, und für euch war das rettende Wasser Grab und Mutterschoß zugleich.“ Luther beschreibt die Taufe als das Ertränken des alten, sündigen Selbst, von dem er sagt, dass es „ein mächtig guter Schwimmer“ sei. Und der argentinische Prediger Juan Carlos Ortiz ist bekannt dafür, eine verstörende Taufformel zu verwenden: „Ich töte dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und ich gebäre dich in das Reich Gottes hinein, in seinen Dienst und zu seiner Freude.“13
Tod und Auferstehung. Das ist die Unmöglichkeit, um die herum alle anderen Unmöglichkeiten des christlichen Glaubens kreisen. Die Taufe erklärt, dass es Gottes Sache ist, Totes wieder lebendig zu machen. Wenn du also in Gottes Angelegenheiten unterwegs sein willst, stell dich besser darauf ein, Gott bis in die hinterletzten Ecken dieser Welt zu folgen, in die verkrusteten, wo die Erde verbrannt und man selbst bei der Ankunft schon tot ist – auch in die Ecken deines eigenen Herzens –, weil Gott genau dort arbeitet, weil er genau dort gärtnert. Die Taufe erinnert uns daran, dass es keine Leiter gibt, auf der man Richtung Heiligkeit klettern kann, keinen Selbstverbesserungsplan, dem man einfach nur folgen muss. Es gibt nur Tod und Auferstehung, wieder und immer wieder, Tag für Tag, während Gott in unsere tiefsten Gräber hineingreift und uns unserem Stolz, unserer Gleichgültigkeit, unserer Angst, unseren Vorurteilen, unserer Wut, unseren Verletzungen und unserer Verzweiflung abringt mit derselben Kraft, die Jesus von den Toten auferweckte. An den allermeisten Tagen weiß ich nicht, was ich schwerer glauben kann: dass Gott die Gehirnfunktionen eines Mannes, der bereits drei Tage lang tot war, reanimiert hat oder dass Gott all die schönen Dinge, die wir getötet haben, wieder ins Leben zurückholen kann. Beides scheint mir ziemlich unwahrscheinlich.
Dieser Tage haben alle so ihre Meinung, warum Menschen die Kirche verlassen. Manche wollen das Problem lösen, indem sie das Christentum gefälliger machen – du weißt schon, den ganzen seltsamen, mystischen Kram von wegen Sünde, Dämonen und Tod und Auferstehung weglassen und durch Selbsthilfebücher, Politik, theologische Systeme oder hippe Kaffeebars ersetzen. Aber manchmal glaube ich, was die Kirche am meisten braucht, ist die Wiederentdeckung ihrer seltsamen Seiten. Es hat wenig Sinn, sie einer Typberatung zu unterziehen, wenn sie immer das seltsame, ungelenke Mädchen sein wird, das nur aufgrund einer Wette zum Abschlussball eingeladen wird.
Beim Taufritual spielten unsere Vorfahren die bizarre Wahrheit der christlichen Identität durch: Wir sind Menschen, die ganz und gar entblößt vor dem Bösen und dem Tod stehen und diesen erklären, dass sie der Liebe gegenüber machtlos sind.
Nichts daran ist normal.
VIER
Chubby Bunny
Es muss wunderbar sein, 17 zu sein und alles zu wissen.
– Arthur C. Clarke
Am Tag nach dem Amoklauf auf der Columbine Highschool bin ich zur Schule gegangen, obwohl die meisten meiner Klassenkameraden zu Hause blieben.
„Es ist die perfekte Gelegenheit, Zeugnis abzulegen“, sagte ich meiner Mutter auf dem Weg zum Bus, schon halb aus der Tür. „Alle haben Angst.“
Die Rhea County Highschool in Dayton, Tennessee, ist genau 2121 Kilometer von der Columbine Highschool entfernt, wo tags zuvor, am 20. April 1999, Eric Harris und Dylan Klebold zwei Sturmgewehre, 99 Sprengkörper und zwei Schrotflinten unter ihren schwarzen Trenchcoats hervorzogen, um ein Dutzend ihrer Mitschüler und einen Lehrer umzubringen, bevor sie sich selbst töteten. Ich hatte in den Nachrichten gehört, manche der Opfer seien gefragt worden, ob sie an Gott glaubten. Während also das erste bläuliche Morgenlicht durchs Busfenster fiel, betete ich, Gott möge mir im Falle eines befürchteten Trittbrettfahrerszenarios, das an jenem Morgen so vielen Eltern, Schülern und Lehrern Sorgen machte, die Stärke verleihen, zu meinem Glauben zu stehen.
Als Oberstufenschülerin und Präsidentin des Bibelclubs hielt ich es für meine Pflicht, die Erweckungsbewegung anzuführen, die von der Tragödie unter den Schülerinnen und Schülern der Highschools im ganzen Land ausgelöst werden würde, wie ich ganz sicher glaubte. Ich bereitete mich innerlich auf eine Erweckung vor, seitdem wir zwei Jahre nach meiner Taufe nach Tennessee gezogen waren. Ein Plan, der jedoch nicht unwesentlich von der Tatsache erschwert wurde, dass sich beinahe jeder in Dayton ohnehin schon als Christ bezeichnete (immerhin war die Stadt Schauplatz des berühmten Scopes-Affenprozesses, bei dem ein 1925 verabschiedetes Gesetz angewandt wurde, welches verbot, Theorien zu lehren, die der biblischen Schöpfungslehre widersprechen). Vor jedem Footballspiel wurde gebetet, auf jeder Messehalle prangten Bibelverse. McDonald’s und Hardee’s veranstalteten jeden zweiten Donnerstag ein Gospelliedersingen für die etwas reiferen Mitbürger, und später wurde auf dem Rasen des Gerichtsgebäudes eine Bronzestatue von William Jennings Bryan, einem legendären Verteidiger des Fundamentalismus, aufgestellt. Bei „See you at the Pole“, einer jährlich stattfindenden Veranstaltung am Flaggenmast der Schule, bei der wir vor Schulbeginn beteten, in der Bibel lasen und sangen, mussten wir zwei große Kreise bilden, weil so viele kamen, um sich zu Jesus zu bekennen. Die Erweckung war lange vor mir im Tennessee Valley angekommen und hatte sich dort niedergelassen wie ein Nebel.
Dennoch war ich jeden Tag, wenn ich zur Schule ging, wildentschlossen, die Christen dort zu evangelikalen Christen zu machen und sie für Gott in Brand zu stecken. Morgens brachte ich mich mit Musik von DC Talk und Audio Adrenaline in Stimmung. Ich schrieb „Gott ist wunderbar“ mit Edding auf rotes Klebeband und klebte es wie einen Autoaufkleber auf meinen JanSport-Rucksack. Ich war immer auf der Suche nach Möglichkeiten, Gespräche über Freitagsfootballspiele in Diskussionen über den Sühnetod Christi umzulenken. Mit meinem Laborpartner debattierte ich über die Evolution. Und am Tag nach dem Amoklauf in Columbine fand ich mich im Wettstreit mit Julie Andrews und den anderen Darstellern von „Meine Lieder – meine Träume“ wieder (ich hätte wissen müssen, dass wir den ganzen Tag nur Filme schauen würden), als ich der Cheerleaderin zwei Plätze vor mir zuzischte: „Weißt du, wo du die Ewigkeit verbringen wirst, wenn du heute sterben würdest?“ Wäre ich nicht so ganz und gar aufrichtig, so wahrhaftig dem ewigen Wohlergehen meiner Mitmenschen hingegeben gewesen, ich hätte den Blick verdient gehabt, den sie mir zuwarf. Aber größtenteils waren meine Klassenkameraden geduldig mit mir, sogar freundlich. Ein paar von ihnen, vor allem Jungs, von denen ich inzwischen annehme, dass sie hauptsächlich wegen meiner „Stolpersteine“ an mir interessiert waren, taten mir den Gefallen und kreuzten zwischen den Schulstunden an meinem Spind auf, um sich mit mir über die Vorteile des Glaubens zu unterhalten – und darüber, ob ich vorhatte, zum Schulball am Samstagabend zu kommen. Es gab genau zwei bekennende Atheisten in meiner Abschlussklasse, und ich freue mich, euch mitteilen zu können, dass ich einen von ihnen zum Glauben geführt habe.
Na ja, ich habe einen von ihnen zur Jugendgruppe mitgebracht, Brian Ward hat ihn dann zum Glauben geführt. Brian Ward war Jugendpfarrer und so beliebt, dass Teenager aus dem ganzen Umkreis am Mittwochabend zu „The Planet“ in die Grace Bible Church kamen, um auf dem Boden zu sitzen und ihm zuzuhören, wie er Gitarre spielte und von Jesus erzählte. Brian reagierte allergisch auf Christinesisch, deshalb kam es ihm nie in den Sinn, von seinem „Weg mit dem Herrn“ zu sprechen oder warum er sich „berufen fühlte“, dies oder jenes zu tun, weil ihm etwas „aufs Herz gelegt“ wurde. Brian war ein Fan der Georgia Bulldogs, hatte einen schweren Atlanta-Akzent, trug ausgeblichene Baseballmützen und T-Shirts, sang wie Eddie Vedder, und hin und wieder rutschte ihm ein Schimpfwort heraus. Wir nahmen an, dass er häufig mit unseren Eltern aneinandergeriet, was seine geheimnisvolle Ausstrahlung nur verstärkte. Wenn wir Brian wegen seines lichter werdenden Haares neckten, erinnerte er uns an die merkwürdige Geschichte in der Bibel, in der Gott zwei Bärinnen schickte, um 42 Kinder zu zerreißen, die den Propheten Elisa wegen seiner Kahlköpfigkeit verspottet hatten. „Zwei Bärinnen“, sagte er. „Steht in der Bibel. Schaut ruhig nach.“
Es war Brians Idee, unsere Treffen am Mittwochabend „The Planet“ zu nennen und sie aus dem Gemeindegebäude in ein Ladenlokal in der Innenstadt zu verlegen, damit wir nicht das Gefühl hatten, wir würden zur Kirche gehen. Es war seine Idee, die Schüler in die Leitung, in die Band und in wichtige Entscheidungen, die die Zukunft der Gruppe betrafen, miteinzubeziehen. Er sah die gleichen Fernsehsendungen wie wir und lachte an den gleichen Stellen. Seine Frau, Carrie, war hübsch, süß und vernünftig, und ich kannte ihr kleines Haus am Fluss so gut wie das Zuhause meiner besten Freunde.
Brian schaffte es, die Kirche ansprechend zu gestalten, ohne auf die verzweifelten, angestrengten Strategien anderer Jugendpfarrer aus der Umgebung zurückzugreifen, die versuchten, das Christentum „für die Jugend relevant“ zu machen. Er wusste, dass man nicht ein Volleyballnetz spannen, christliche Rockmusik anschmeißen und dann erwarten kann, dass Sportskanonen und Bandnerds, Goths und Cheerleader, Hinterwäldler und FroKis ihre Unterschiedlichkeiten beiseitelassen und sich gegenseitig im Geiste Christi annehmen und genießen. Seine Abscheu für Jugendleiter, die verzweifelt genug waren, genau das zu versuchen, verbarg er nur gerade so. Stattdessen stattete er unseren Laden in der Innenstadt mit superbequemen Sesseln in einer Ecke aus, stellte einen Kicker in eine andere. In einem Nebenraum gab es Computerspiele, im hinteren Bereich eine riesige Bühne und Basketballkörbe sowie ein Volleyballnetz auf dem Parkplatz. Wir betrachteten es als Erfolg, ungefähr 70 Teenager drei Stunden pro Woche zur gleichen Zeit am gleichen Ort zusammenzubringen, mit oder ohne „Breakfast Club“-Momente. Brian hatte den Wunschzustand jedes ehemaligen, gegenwärtigen und zukünftigen Teenagers erreicht: Er war cool, ohne es zu versuchen. Wir himmelten ihn an.
Selbst die Jungs aus der letzten Reihe liebten Brian, obwohl sie so taten, als sei das nicht der Fall, indem sie während der Anbetungszeiten die Hände in den Hosentaschen vergruben und während der Andacht am Teppichflor herumzupften. Brian ging mit ihnen fischen und bowlen, teilte Insider-Witze mit ihnen und nahm, viele Jahre später, ihre Trauungen vor. Bei der ganzen Zeit, die Brian darauf verwendete, den Jungs aus der letzten Reihe zu dienen, hätte man meinen können, dass sie vielleicht eines Tages näher an den vorderen Teil des Raumes heranrücken und sich beim Singen zu uns anderen gesellen würden, die wir für Gott brannten.
„Es ist nicht meine Aufgabe, Leute zu verändern“, sagte Brian, als ich ihm deswegen auf die Nerven ging. „Meine Aufgabe ist es nur, Leute zu lieben.“
Ich schloss daraus, dass er wohl eine Art Spiel auf Zeit spielte und sich in ihre Leben hineinarbeitete, bevor er sie für die große Erweckung rekrutierte. Es kam mir nie in den Sinn, dass es vielleicht Zeiten gab, in denen Brian mich auch einfach nur liebte.
Ich erinnere mich an recht wenig, was die Gemeinde außerhalb unserer Jugendgruppe angeht, außer dass ich an den Sonntagmorgen die Jungs aus der Jugendgruppe in ihren ordentlichen Hemden zu sehen bekam und sie mich in Röcken. (Zu dem Zeitpunkt hatte ich die Laura-Ingalls-Wilder-Sache fallen gelassen und Lippenstift aufgelegt.) Zusammen saßen wir in den letzten vier Reihen des Kirchenraums der Grace Bible Church – einem fensterlosen Gebäude mit Gewölbedecke, das von außen aussah wie ein Planetarium. Die Grace Bible Church war die größte konfessionslose Kirche der Stadt und gerade erst mit einem lebbaren Kompromiss und verheilenden Fleischwunden aus den Lobpreisschlachten der 90er hervorgegangen. Der sah so aus, dass unsere etwa 200 Mitglieder starke Gemeinde den einen Teil des Gottesdienstes aus einem Gesangbuch sang und den anderen von Tageslichtprojektor-Folien. Unser Pastor war ein alter Freund der Familie, der mit meinem Vater im Seminar gewesen war. Die beiden waren zusammen zur Musterung gegangen und erinnerten sich an das Ereignis wie zwei alte Kriegskameraden, obwohl keiner von beiden einberufen wurde. Pastor Doug war ein eher gelehrterer, exegetischerer Prediger als Pastor George – und zu allem Überfluss ein Fan der Baseballmannschaft der St. Louis Cardinals. Unsere Gemeindebriefe enthielten detaillierte Gliederungen seiner Predigten, deren Unterüberschriften häufig mit demselben Buchstaben anfingen: Gnade, Gerechtigkeit, Gehalt. Ich füllte jede Lücke aus und riet manchmal den nächsten Punkt (Gottesdienst!), während mir die Jungs aus der letzten Reihe durchgekaute Papierkügelchen ins Haar schossen.
Nicht viele Jugendliche gehen zur Jugendgruppe, um ihre Religiosität abzumildern, aber Brians beziehungsorientierter Stil trug dazu bei, dass mein Kreuzritterkomplex sich etwas mäßigte. Er sah, dass ich ein Händchen für Lehre und für Leitungsaufgaben hatte, und lud mich mehr als einmal dazu ein, die Andacht zu halten (ein unerhörtes Privileg für eine junge Frau in diesem Umfeld). Er überzeugte mich außerdem davon, die Super-Bowl-Party nicht durch einen Bekehrungsaufruf während der Halbzeit zu ruinieren und mich während all der holprigen Kleinbusfahrten zu Konzerten und Jugendfreizeiten – die mein Haar durcheinanderbrachten (die Fenster standen immer offen) und meine Gedanken von einem süßen Jungen zum nächsten springen ließen – zu entspannen und die Zeit mit meinen Freunden zu genießen.
Einer dieser Ausflüge brachte mich jedes Jahr nach Alabama zurück. Es ging um ein Wochenendgottesdienstprojekt im Camp Maxwell in Haleyville. Camp Maxwell beherbergte während des Sommers wenig privilegierte Jugendliche, lud im Frühjahr aber privilegierte Jugendliche aus dem ganzen Südosten ein, die dann für Jesus Beton gossen, Baumstümpfe ausgruben und Wasserleitungen beschädigten. Alle Mädchen kauften sich extra für diesen Anlass neue Latzhosen. Abends trafen wir uns in einem Versammlungsraum ohne Dach, um anzubeten, zu zittern und Feuer-und-Schwefel-Predigten von Männern zu lauschen, deren Theologie Brian dann auf der Heimfahrt sanft korrigierte.