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Bei diesen Treffen lernte die Jugendgruppe der Grace Bible Church ihre Einzigartigkeit richtig schätzen. Jedes Jahr bewiesen wir sie erneut, indem wir den heißbegehrten Klospülkastenpreis mit nach Hause brachten. Der Klospülkastenpreis sah genauso aus, wie er sich anhört: Es war ein Klospülkasten, der auf einem Holzbrett angebracht war und derjenigen Jugendgruppe verliehen wurde, die das Wochenende über die meisten Punkte für Siege beim Sport, bei Spielen, bei Bibelquizzen und dem alles überragenden Talentwettbewerb ergattern konnte. Die meisten dieser Aktivitäten waren leichtes Spiel für uns, weil wir alle so grundverschieden waren. Wir konnten Musiker, Athleten, Bibelnerds und Theaterfreaks gleichermaßen vorweisen. In einem Jahr haben wir stehende Ovationen bekommen, weil wir eine Minivariante von Stomp aufführten, bei der Mitglieder der Drumline aus der Highschool auf leeren Mülltonnen herumtrommelten.
Unsere Schwäche war der Spielebereich. Jetzt muss man wissen, dass das Wort „Spiele“ im Kontext einer christlichen Jugendgruppe etwas völlig anderes meint als in jedem anderen Umfeld. Ich vermute, dass alleine in den späten 90ern die Spiele christlicher Jugendgruppen Millionen Ansteckungen am Pfeiffer’schen Drüsenfieber zu verantworten haben, ebenso tausende gebrochener Knochen, dutzende Fälle, in denen jemandem der Magen ausgepumpt werden musste, und zahllose Therapiestunden. Denn typischerweise ging es darum, unsichere, hormongeladene Teenager in so peinliche wie gefährliche Situationen wie möglich zu bringen. Meistens führte das unweigerlich dazu, dass jemand sich entweder erbrach oder eine Erektion bekam.
Es gab Vertrauensspiele und Stafetten, Hochgeschwindigkeitsvarianten von „Faules Ei“, der Reise nach Jerusalem, Völkerball und Red Rover, eine Art Kettenfangen, bei dem ein Mitspieler des einen Teams versuchen muss, die Kette des anderen Teams zu durchbrechen (aber nur bis das verboten wurde, weil ich glaube, dass wirklich Leute dabei gestorben sind). Wir haben Sardinen gespielt (man stopfe 25 Jugendliche eine Stunde lang in das gleiche, dunkle Versteck), Ansaugen-und-Weitergeben (im Kreis eine Kreditkarte weitergeben, indem man sie nur mit dem Mund ansaugt) und Two-Buck-Chuck (bei dem man zwei Dollar bekam, wenn man es schaffte, zwei Liter Milch zu trinken, ohne sich zu übergeben). Dann gab es da dieses Spiel, bei dem man mit dem Mund nach Snickers fischen musste, die in einer Kloschüssel voller Limonade schwammen, und das Spiel, wo man eine Banane essen musste, während man eine Feinstrumpfhose über dem Kopf hatte, und dann noch das, bei dem man seinem Partner Käseflips ins Gesicht werfen sollte – das über und über mit Rasierschaum bedeckt war. Ganz klar: ein immerwährender Zirkus purer Freude und Glückseligkeit für die Introvertierten unter uns.
Ich habe neulich mit ein paar meiner Leser auf Twitter Berichte aus dem Schlachtgetümmel unserer Jugendgruppen ausgetauscht, und ihre Geschichten waren mehr als unerquicklich:
„Ich habe gesehen, wie Leute Milchshakes tranken, die aus kompletten Happy Meals hergestellt wurden.“
„Ich habe mal gesehen, wie jemand einem anderen Erdnussbutter aus der Achselhöhle lecken musste.“
„Wir haben die kleinsten Mittelstufenschüler genommen und sie mit Gaffertape an die Wand geklebt. Das Team, dessen Mitglied am längsten kleben blieb, hat gewonnen.“
„,Klau-den-Speck‘ mit Vaseline und Wassermelone. Drei Teilnehmer mit Gehirnerschütterung und ein Jugendleiter mit herausgerissenem Brustwarzenpiercing.“
„Drei Worte: Volleyball bei Strobolicht.“
„Einmal musste ich eine Zwiebel wie einen Apfel essen. Warum, weiß ich nicht mehr.“14
Die Jugendgruppe der Grace Bible Church hatte das Glück, dass Brian unter einer schwachen Angststörung litt und deswegen Jugendgruppenspiele ebenso wenig leiden konnte wie wir. Daher wurden wir ihnen nur bei Veranstaltungen wie dem im Camp Maxwell ausgesetzt, wo wir schreckerstarrt zusahen, wie andere, sonst eigentlich völlig normale Teenager, versuchten, mit ihren Zähnen Kaugummis von den Sohlen ihrer Turnschuhe abzuziehen.
An dem kühlen Abend, an dem sich unsere Geschichte zutrug, war das Spiel, das zwischen der Jugendgruppe der Grace Bible Church und dem Klospülkastenpreis stand, natürlich „Chubby Bunny“. Bei Chubby Bunny geht es darum, dass sich mehrere „Freiwillige“ so viele Marshmallows wie möglich in den Mund stopfen und versuchen, „Chubby Bunny“ zu sagen, ohne sich zu übergeben oder daran zu ersticken. Die Person, die das mit den meisten Marshmallows im Mund schafft, gewinnt.
Jetzt war es so, dass wir, die Jugendgruppe der Grace Bible Church, Chubby Bunny hassten. Wir waren zu cool für Chubby Bunny. Wir durchschauten die heimtückische List. Aber wir brauchten jemanden, der für uns Chubby Bunny spielte, wenn wir den Klospülkastenpreis gewinnen und die anderen Jugendgruppen ein für alle Mal auf ihre Plätze verweisen wollten.
Während die Wettbewerber ihre Delegierten unter Jubelrufen auf die Bühne schickten, saßen wir still in unseren fünf hölzernen Bankreihen und scharrten mit den Füßen in den Sägespänen.
„Wir brauchen einen Freiwilligen von der Grace Bible Church!“, rief jemand mit viel zu vielen Gummiarmbändern am Handgelenk ins Mikrofon.
Namen wurden geflüstert. Blicken wurde ausgewichen. Brian sah so verängstigt aus wie wir anderen auch.
Dann kam von ganz hinten eine ruhige, sichere Stimme.
„Ich mach’s.“
Wir drehten uns alle um.
Mike war ein Junge aus der letzten Reihe wie aus dem Bilderbuch. Er war groß und rothaarig, hatte ein freches Mundwerk und war ein echter Draufgänger, der sich seine Zeit so einteilte, dass er sie wahlweise beim Nachsitzen oder in der Notaufnahme verbrachte. Wenn Mike etwas nicht mochte, teilte er das mit, und Mike mochte weder die Gemeinde noch die Schule noch Camp Maxwell besonders. Aber er hatte ein sanftes Zwinkern in den Augen, und er hatte so einen schrägen, punktgenauen Witz, dass selbst wir Bibelnerds ihn mochten. Ich weiß, dass ich nicht das einzige Mädchen war, das es genoss, ihm ein Lächeln auf die trotzigen Lippen, über das sommersprossige Gesicht, das kantige Kinn und diese dicken Backen zu zaubern … Backen, die für Chubby Bunny wie geschaffen waren.
Ohne ein weiteres Wort marschierte Mike den Mittelgang hinunter und nahm seinen Platz zwischen einem Mädchen in ausgebeulten Latzhosen aus Birmingham und einem völlig verängstigten Junior-High-Schüler aus Huntsville ein. Sie zwangen ihn, einen Müllsack wie ein Schlabberlätzchen zu tragen. Er war unsere Katniss Everdeen, der Tribut, den wir zollen mussten. Unnötig zu sagen: In diesem Jahr gewannen wir den Klospülkastenpreis zum dritten Mal in Folge.
Und so kam es, dass ein Mädchen, das in der Bereitschaft, zu sterben, zur Schule ging, vor Begeisterung kreischte, während Mike-aus-der-letzten-Reihe sich im Ringen um den Klospülkastenpreis Marshmallows ins Gesicht schob. Ich schreibe jedes bisschen Sozialkompetenz in meinem Leben Brian Ward und meiner Zeit in der Jugendgruppe der Grace Bible Church zu. Zu einer Zeit, in der die meisten meiner Altersgenossen sich damit abmühten, herauszufinden, wer sie waren, wusste ich ganz genau, wer ich war: das Kirchenmädchen, das Mädchen, das immer einen Platz in ihrer Jugendgruppenfamilie hatte, das Mädchen, das für Gott in Flammen stand. Ich weiß nicht, ob ich den Wert dieser Gemeinschaft, dieses Zugehörigkeitsgefühls und des Wissens, dass ich geliebt bin, je richtig einschätzen kann.
Es kam mir nie in den Sinn, dass solch ein Feuer ausgelöscht werden könnte.
FÜNF
Genug
Die meisten von uns finden auf Wegen zur Kirche, die die Kirche nicht erlaubt.
– Flannery O’Connor
Ich habe nie jemanden kennengelernt, der sich so sehr auf seine Taufe freute wie Andrew.
„Nur noch 13 Tage!“, sang der 19-Jährige, als würde er die Tage bis zu einer Abschlussfeier oder einer Hochzeit zählen. „Willst du kommen?“
„Den ganzen weiten Weg aus Tennessee?“, scheute ich zurück und reichte ihm die größere Hälfte des Brownies, den ich gerade für uns geteilt hatte. „Das ist ein hübsches Stück zu fahren bis nach St. Louis.“
Wir saßen um einen runden Klapptisch im verlassenen Keller einer Methodistengemeinde in Columbia, Missouri, wo wir die Nachmittagseinheit der Konferenz, die wir besuchten, schwänzten, um stattdessen als selbst ernannte Gastronomie-Kritiker das vom Mittagessen übrig gebliebene Gebäck zu verkosten. (Wenn die Baptisten den Vogel abschießen, was hausgemachtes Chili angeht – und das tun sie –, dann machen die Methodisten das in Sachen Feingebäck. Ich habe noch nie eine methodistische Zitronenschnitte gegessen, die ich nicht gemocht hätte.) Wir hatten uns, nach meinem Vortrag früher am selben Morgen, getroffen, als Andrew – ein blonder Collegestudent mit Grübchen und treuer Leser meines Blogs – mich im Hörsaal in einer Bärenumarmung umschloss und ausgelassen lachte. „Das ist schon in Ordnung“, versicherte ich den verblüfften Umstehenden. „Wir kennen uns aus dem Internet.“
„Ich habe ehrlich nie gedacht, dass ich mich je taufen lassen würde“, bekannte Andrew, während er seine Browniehälfte musterte. „Ich habe nicht geglaubt, dass ich je gut genug dafür sein könnte.“
„In was für einer Gemeinde bist du denn aufgewachsen?“, fragte ich.
Statt einer Antwort zog Andrew sein Smartphone heraus, scrollte eine Weile durch die Fotos, fand, was er gesucht hatte, und reichte mir dann sein Telefon. Auf dem gesprungenen Bildschirm prangte das Bild des Vorworts eines Gemeindebriefs. Nachdem ich reingezoomt hatte, konnte ich erkennen, dass es in dem Artikel um gleichgeschlechtliche Beziehungen ging, die der Autor als widerwärtig bezeichnete. Links neben der Überschrift schaute mich ein silberhaariger Mann in Anzug und Krawatte aus Augen an, die mir sehr bekannt vorkamen.
„Das ist mein Dad“, sagte Andrew. „Er ist Pastor und hat das gleich nach meinem Coming-out veröffentlicht.“
Mein Herz sank. Für jede Jugendliche wie mich, die in ihrer Gemeinde nur Liebe und Akzeptanz erfahren hatte, gibt es irgendwo einen Teenager wie Andrew, der sich wie ein Fremder in den Kirchenbänken fühlte, ein Fremder sogar bei sich zu Hause.
Andrew wuchs als sechstes von sieben Kindern in einer kleinen, fundamentalistischen presbyterianischen Kirche in den Südstaaten auf, wo sein Vater als Pastor diente. Es gab vieles, das Andrew an seiner eng gestrickten Glaubensgemeinschaft liebte – ihre Konzentration auf die Bibel, wie sie sich der Evangelisation verpflichtet fühlte, ihre familiäre Atmosphäre –, aber als Andrew langsam in die Pubertät kam, merkte er, dass er mit einigen der gesetzlicheren Auslegungen der Kirche nicht einverstanden war, besonders damit, dass sein Vater moderne christliche Musik verbot und darauf bestand, dass in der Kirche und auch zu Hause nur die King-James-Übersetzung benutzt wurde. Während sein Vater Ehrfurcht, Gerechtigkeit und Selbstkontrolle betonte, hatte Andrew schon immer einen zarten, offenen Geist und eine emotionale Bindung an Gott an den Tag gelegt. Während der Predigten seines Vaters schrieb er endlos lange in sein Gebetstagebuch und unterhielt sich mit Gott wie mit einem guten Freund. Obwohl er hin und wieder rebellierte (als er das erste Mal einen Film im Kino sah, war Andrew 18 Jahre alt. Er schlich sich mit Freunden raus, um sich „Die Tribute von Panem“ anzuschauen), liebte Andrew Jesus innig und leidenschaftlich.
Was sein Geheimnis umso schwerwiegender machte.
Um den Zeitpunkt herum, als seine Freunde anfingen, über Mädchen zu sprechen, fing Andrew an, andere Jungen wahrzunehmen. Er war zu dem Glauben erzogen worden, sexuelle Orientierung wäre eine Entscheidung und gleichgeschlechtliche Beziehungen seien ein Gräuel. Deswegen befürchtete Andrew, seine Impulse seien ein Ergebnis von Sünde. Sünde, von der er Gott bat, dass er ihn von ihr befreien möge, Nacht für Nacht, Tag für Tag.
Ein Eintrag in Andrews Tagebuch aus dem Jahre 2012 liest sich so:
Ich habe solche Angst. Ich will kein Ausgestoßener sein … Interessiert dich, was ich durchmache, Gott? Warum hast du mich so geschaffen, wie ich bin? Was willst du mich lehren, Gott? Ich hebe meine Hände zu dir auf. Ich bin in deinen Händen … Gib mir Glauben! Bitte! Ich halte nicht mehr lange durch.
Aber nicht noch so viel Gebet und Bibelstudium und Selbstdisziplin konnten Andrews sexuelle Orientierung verändern. Am Ende, nach vielen Phasen der Depression und Anfällen von Verzweiflung, fand sich Andrew mit seiner Sexualität ab. Er zog von zu Hause aus, um in St. Louis aufs College zu gehen, und fand eine Kirche, die ihn akzeptierte, wie er war. Seine neue Glaubensgemeinschaft leitete sogar in die Wege, dass er getauft werden konnte, eine Erfahrung, nach der sich Andrew seit seiner Kindheit sehnte.
„Als ich aufwuchs, hat man mir Taufe und Abendmahl immer verweigert“, sagte Andrew. „Mein Dad hat mir gesagt, es würden sich nicht genug Früchte des Heiligen Geistes in meinem Leben manifestieren. Er wollte, dass ich wartete, bis ich gut genug war, heilig genug.“
Andrew hat sich vor seiner Familie in den Herbstferien in seinem ersten Jahr am College offiziell geoutet. Das lief nicht gut. Jetzt lebt Andrew in seinem Zimmer im Wohnheim, von seiner Familie abgeschnitten, und arbeitet schwer dafür, seine akademische Ausbildung selbst zu finanzieren. Als er das letzte Mal mit seinem Vater sprach, wurde Andrew gesagt, er würde in die Hölle kommen.
Aber Andrew war in diesen schwierigen Herbstferien nicht alleine. Ein ganzes Team aus seiner neuen Kirche hatte sich dazu verpflichtet, während dieser vier Tage für ihn zu beten. Andrew wusste in jedem schmerzhaften Augenblick um ihre Unterstützung.
„Keine Gemeinde ist perfekt“, sagte er. „Aber sie waren gut zu mir.“
Da verstand ich, warum Andrew mich zu seiner Taufe einlud. Ich war Teil der einzigen Familie, die er noch hatte. Andrews Adoption in Gottes Familie hinein war sehr viel turbulenter und schmerzhafter abgelaufen als meine eigene, aber er wollte gerne, dass ich Teil davon war, einfach weil ich unter denen war, die ihn nicht abwiesen, einfach weil ich ihn so liebte, wie er war. Manchmal muss die Kirche ihren eigenen Geflüchteten Zuflucht bieten.
Ich schaffte es nicht zu Andrews Taufe, aber ich betete an jenem Tag für ihn, und ich sah mir das Video an, das die Gemeinde zu diesem Anlass drehte. In seinem Bekenntnis vor der Taufe sagte Andrew: „Ich habe die Taufe vor mir hergeschoben, weil ich das Gefühl hatte, in Sünde zu leben, als wäre ich nicht gut genug dafür. Aber dann wurde mir klar, dass die Taufe am Anfang eines Glaubensweges steht, nicht in der Mitte oder am Ende. Man muss nicht alles geordnet haben, um getauft zu werden … Man muss einfach nur Gottes Gnade annehmen. Gottes Gnade ist genug.“
SECHS
Flüsse
Wir tendieren dazu, vor der wilden Stille und der wilden Dunkelheit zu fliehen, unsere Götter einzupacken und uns hinter die Stadtmauern zu kauern, die Götter in Götzen zu verwandeln … Und wenn wir dann in den Tempeln sitzen, wer wird dann den Rufer aus der Wildnis hören? Wer wird das Schilfrohr hören, das im Wind schwankt?
– Chet Raymo
Johannes den Täufer erkennt man in jeder Ansammlung von Heiligen wieder.
Unter den mürrischen, in Roben gekleideten Patriarchen ist er derjenige mit dem wilden Blick und dem zerzausten Haar, die Rippen stechen unter der sonnengebräunten Haut hervor, und in den Händen hält er einen kreuzförmigen Stab oder eine Schriftrolle, auf der steht: „Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe!“ Kurz gesagt, er ist der Typ, dem man auf dem Supermarktparkplatz lieber aus dem Weg gehen möchte.
Johannes war das Wunderkind von Elisabeth und Zacharias und sah seinem Vater wahrscheinlich dabei zu, wie er als Priester im Tempel rituelle Reinigungen vornahm. Das levitische Gesetz forderte von den Juden, sich von Unreinheiten zu reinigen, die man sich durch Dinge wie die Menstruation, Hautkrankheiten oder den Kontakt zu Leichen zuziehen konnte, und viele Juden unternahmen Pilgerreisen zum Tempel, um dort in Vorbereitung auf Feste und Feiertage in Wasser untergetaucht zu werden. Freunde und Familie erwarteten von Johannes möglicherweise, dass er in die Fußstapfen seines Vaters treten und Tempelpriester werden würde. Aber Johannes blieb nicht im Tempel. Johannes ging aus der Stadt hinaus aufs Land und tauschte die zeremoniellen Badebecken gegen frei fließende Flüsse ein.15
Indem er sich von Heuschrecken und Honig ernährte und die Menschen zu einer einzigen, dramatischen Taufe aufrief, die ein neu ausgerichtetes Herz symbolisierte, verkörperte Johannes das Bild, das Jesaja von einer Stimme in der Wüste zeichnete, die erklärte, dass Gott in Bewegung ist und sich bald alles verändern wird. Johannes wusste, dass diese Gottes-Bewegung nicht auf den Tempel beschränkt bleiben würde, sondern „jede Schlucht […] aufgefüllt werden [soll], jeder Berg und Hügel sich senken. Was krumm ist, soll gerade werden, was uneben ist, soll zum ebenen Weg werden. Und alle Menschen werden das Heil sehen, das von Gott kommt“ (Lukas 3,5+6).
„Bereitet dem Herrn den Weg!“, sagte er den Leuten, „ebnet ihm die Straßen!“ (Markus 1,3)
Die Menschen brauchten nicht mehr zu Gott hinzugehen; Gott kam zu den Menschen. Und Gott, in Seiner unnachgiebigen Liebe, würde keinem Berg oder Hügel – keiner Ideologie oder Voraussetzung, keinem Ritual oder Gesetz – erlauben, sich in den Weg zu stellen. Einen Gott, der Berge platt macht, konnten Tempel nicht fassen, zeremonielle Bäder keinen Gott, der durch Flüsse fließt. Umkehr bedeutete dann, sein Leben um diese Wirklichkeit herum neu auszurichten. Umkehr bedeutete, Buße zu tun für die alten Verhaltensweisen, die Wege blockierten, und sich zum großen Wegebahnen dazuzugesellen. Es bedeutete, dabei mitzuhelfen, jedes menschengemachte Hindernis zwischen Gott und seinen Leuten zu zerstören, und Gottes wilde, ungehemmte Gegenwart zu feiern, die jeden Winkel der Erde füllt. Es bedeutete, in Flüssen getauft zu werden und Gott den Weg freizumachen. Immerhin kann eine Person einen Berg versetzen, wenn sie genug glaubt … sogar einen Berg aus eigener Herstellung.
„Das Himmelreich ist nicht da oben, es ist genau hier“, sagte Johannes. „Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe. Bereitet dem Herrn den Weg! Ebnet ihm die Straßen!“
Ich frage mich, ob diese Worte auch Philippus durch den Kopf gingen, als er einen der ersten Nichtjuden, die sich zum Christentum bekehrten, taufte: einen äthiopischen Eunuchen.
Die Geschichte geht so: Nachdem Jesus von den Toten auferstanden ist und seine Jünger angewiesen hat, hinauszugehen und ihrerseits in der Welt die Auferstehung zu praktizieren, schickt der Heilige Geist den Evangelisten Philippus auf die Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt und durch eine einsame Gegend verläuft. Dort begegnete Philippus einem königlichen Eunuchen aus dem fernen Lande Äthiopien, der hinten auf seinem Wagen die hebräische Bibel las. (Apostelgeschichte 8,26 - 40)
Als Eunuch war es dem Mann streng verboten, das Tempelgelände zu betreten, geschweige denn an den Ritualen im Tempel teilzunehmen. (3. Mose 21,20; 5. Mose 23,2) Er gehörte einer sexuellen und ethnischen Minderheit an und wird somit völlig von der religiösen Gemeinschaft Jerusalems ausgeschlossen gewesen sein, selbst wenn er an den Gott Israels glaubte. Hätte er sich dem Tempel genähert, um sich taufen zu lassen, wäre er abgewiesen worden.
Und dennoch hatte dieser religiöse Ausgestoßene, dieser Mann, der dachte, er befände sich in einem Zustand ewiger Unreinheit, eine heilige Schriftrolle in die Finger bekommen und einen Abschnitt gefunden, der deutlich in seinen eigenen Erfahrungen widerhallte:
Wie ein Schaf wurde er zum Schlachten geführt;
und wie ein Lamm, das verstummt, wenn man es schert,
so tat er seinen Mund nicht auf.
In der Erniedrigung wurde seine Verurteilung aufgehoben.
Seine Nachkommen, wer kann sie zählen?
Denn sein Leben wurde von der Erde fortgenommen.
Als Philippus hörte, wie der Eunuch diese Worte laut las, näherte er sich dem Wagen und fragte, ob der Eunuch verstand, was er da las.
„Wie könnte ich es, wenn mich niemand anleitet?“, erwiderte der Eunuch.
Philippus stieg auf, und während der Wagen durch die Wildnis rumpelte, erzählte er dem Eunuchen von Jesus – darüber, wie Gott einer von uns wurde und litt.
Überwältigt sah sich der Eunuch in der rauen Umgebung um und rief: „Hier ist Wasser. Was steht meiner Taufe noch im Weg?“
Wir wissen nicht, wie lange diese Frage, die so voller herzzerreißender kindlicher Freude ist, in der Luft hing, verletzlich wie ein Tropfen Wasser in der heißen Wüstenluft. Zu einem anderen Zeitpunkt in seinem Leben hätte Philippus vielleicht die Herkunft des Eunuchen aufgezeigt oder seine Anatomie oder die Tatsache, dass er nicht imstande war, sich Zugang zu den rituellen Bädern zu verschaffen, die einen Menschen rein machten. Aber stattdessen, ohne weitere Unterhaltung zwischen den Reisenden, hält der Wagen an, und Philippus tauft den Eunuchen in der ersten Wasserstelle, die die beiden finden konnten. Das kann ein Fluss oder eine Pfütze auf der Straße gewesen sein.
Philippus hat Gott den Weg freigemacht. Er erinnerte sich daran, dass das Evangelium nicht durch die Leute anstößig wird, die es draußen lässt, sondern wegen derer, die es hereinlässt. Nichts konnte den Eunuchen davon abhalten, getauft zu werden, denn die Berge, die im Weg standen, waren eingeebnet worden, felsige Hügel geglättet, und Gott hatte einen Weg geschaffen. Überall war heiliges Wasser.
Zweitausend Jahre später bleibt Johannes’ Ruf ein Ruf in der Wüste, ein Ruf von den Rändern. Weil wir religiösen Typen so gut darin sind, Mauern zu bauen und uns in Tempel zurückzuziehen. Wir sind gut darin, aus unseren Ideologien Berge zu machen, Hindernisse aus unseren Theologien und Hügel aus unseren verdrehten Ansichten darüber, wer rein darf und wer nicht, wer würdig ist und wer unwürdig. Wir sind gut darin, uns in den Weg zu stellen. Vielleicht haben wir Angst, Gott könnte Menschen und Methoden benutzen, mit denen wir nicht einverstanden sind, wenn wir uns bewegen; es könnten dann ja Regeln gebrochen und theologische Lehren infrage gestellt werden. Vielleicht haben wir Angst, dieses Ding mit der Gnade könnte aus dem Ruder laufen, wenn wir aus dem Weg gehen.
Und jetzt rate mal? Das ist doch schon lange passiert.
Die Gnade ist aus dem Ruder gelaufen, als der Gott des Universums an einem römischen Kreuz hing, mit ausgebreiteten Armen auf die hinuntersah, die ihn dort aufgehängt hatten, und erklärte: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“
Gnade ist schon seit über zweitausend Jahren aus dem Ruder gelaufen. Gewöhnen wir uns besser daran.
Und so gilt der Ruf auch heute noch: Kehrt um. Richtet euch neu aus. Bereitet den Weg des Herrn. Ebnet ihm den Weg. Gott bricht durch die Welt wie weiß schäumendes Wasser durch die Felsen. Es bleibt nichts anderes, als aufzugeben.
TEIL II
SIEBEN
Asche
Wie ein Vater sich seiner Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über alle, die ihn fürchten. Denn er weiß, was wir für Gebilde sind; er denkt daran: Wir sind nur Staub.
– Psalm 103,13+14
Wir bestehen aus Sternenstaub, sagen die Wissenschaftler – das Eisen in unserem Blut, das Kalzium in unseren Knochen und das Chlor in unserer Haut, geschmiedet in den Essen uralter Sterne, deren Explosionen die Elemente über die Galaxie verteilt haben. Aus den Aschen wuchsen neue Sterne und um sie herum ein Planetensystem und Asteroiden und Monde. Ein Haufen Staub verband sich und formte die Erde, und das Leben erhob sich aus der Schutthalde von acht Milliarden Jahre alten Toden.