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Draußen sahen wir viele von den Schülern, die gestern Abend mit uns getanzt und gefeiert hatten. Sie sahen heute Morgen so anders aus. In einer Gruppe konnte ich Mädchen von Jungen nicht unterscheiden. Sie waren sehr schick und sauber.
Huschiar erklärte: „Das sind Japaner. Sie sind erst gestern Abend angereist.“
Oh, ein Mädchen lächelte mich von Weitem an. War es wirklich ein Mädchen? Sie – oder er? – kam auf mich zu, gab mir die Hand und sagte etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand. Ich stellte mich kurz vor und sagte auf Englisch: „Hallo, ich freue mich, mein Name ist Ezadi.“ Und in meiner eigenen Sprache fügte ich hinzu: „Ich komme aus Marivan, also mein Name ist Ezadi, made in Iran.“
Mein Gegenüber, dessen Geschlecht ich noch immer nicht erkannt hatte, lachte; die anderen um uns herum auch. Nun hatte ich meinen Spitznamen im Camp weg: „Ezadi, made in Iran.“
Der Tag nahm seinen Lauf. Wir hatten Sport in kleinen Gruppen. Diese Gruppen waren gemischt aus den Pishahang der einzelnen Regionen und den Schülern aus anderen Ländern, deren Sprache wir nicht verstanden. Jedoch zeigte ein jeder Kampfgeist für seine Gruppe und wir verständigten uns mit Mimik und Gestik. Sport vereinigt die Menschen, dachte ich. Man hatte mich in eine Fußballmannschaft gesteckt. Zu der gehörten auch zwei kleine Japaner. Das war mir sehr angenehm. Im Vergleich zu ihnen war ich zwar nur wenige Zentimeter größer, aber ich wusste, ich hatte viel Kraft, um vielleicht ein Tor zu schießen. Und tatsächlich: Ich schoss ein Tor! Meine Mannschaft rannte auf mich zu und alle umarmten mich voller Begeisterung. Die Japaner riefen: „Ezadi, made in Iran! Du hast uns gerettet!“ Ach, mir war es fast peinlich. Wir gewannen zwei zu eins und ich ging glücklich, aber körperlich ausgelaugt mit den anderen zum Duschen. War ich heute ein kleiner Held? Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, bis wir später zum Abendessen in die Kantine gingen.
An unserem Tisch sagte Huschiar zu Mohamed und mir: „Ich habe vorhin mit den Musikern von Sene gesprochen und sie waren damit einverstanden, dass sie heute Abend beim Azerga gute Tanzmusik spielen.“ Ich nahm mir heimlich einen Becher Joghurt und etwas Salz mit, weil ich wusste, was auf mich zukam.
Dieses Mal brachte Huschiar eine Flasche Schnaps mit. Es war meine zweite Mutprobe – ein weiterer Schluck Schnaps. Ekelhaft, es wurde wieder heiß in meiner Brust bis hinunter zum Bauch, genau wie gestern. Aber ich ließ mir nichts anmerken, schließlich wollte ich akzeptiert werden. Ich löschte dieses brennende Gefühl auf der Toilette mit dem Joghurt und dem Salz. Niemand bemerkte es. Nachdem die Flasche leer war, traten wir alle vor den kleinen Spiegel im Zimmer und kontrollierten unser Aussehen in der kurdischen Kleidung. Hossein entsorgte zuvor noch den Müll und vor allem die Flasche in der Nähe unserer Unterkunft, damit uns niemand entlarven konnte. An der Straßenecke warteten wir auf ihn und gingen dann vergnügt, aber mit heißem Kopf zu unserem Treffpunkt.
Von Weitem sahen wir das Azerga in lodernden Flammen und die schöne Musik wehte zu uns herüber. Als wir ankamen, spürten wir die gute Stimmung unter den Tanzenden. Wir sangen mit und reihten uns farbenfroh gekleidet in den Tanz ein. Alles war bunt und berauschend im Licht des Feuers. Die schönen Mädchen in ihren wehenden langen Kleidern zu sehen, war wie in einem Traum. Ihre geschminkten Augen spiegelten sich im Licht des Feuers und alles drehte sich im Kreis. Wir waren unbeschwert und konnten für ein paar Stunden die Gedanken des Lebens ausschalten. Die Musiker gaben ihr Bestes und ein Hauch von Romantik schlich sich in meine Gedanken. Wir tanzten weiter im Kreis um das Feuer, bis auf einmal einige Perser dazukamen, sich an unsere Mädchen heranmachten und sie belästigten. Wir Jungs verteilten einige Ohrfeigen, beschimpften die Störenfriede und jagten sie weg, was uns für unsere Mädchen zu Helden machte. Bis Mitternacht genossen wir den Tanz rund um das Feuer.
Hundemüde fielen Mohammed und ich nach diesem wunderbaren Abend in unser Bett. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte sich der Abend noch einmal in meinem Traum gezeigt. Mein Unterbewusstsein hatte wohl die ganze Nacht nicht geschlafen. Aber es war ein schönes Gefühl gewesen, ein Gefühl von Freiheit und Unbeschwertheit mit den Farben im Licht des Feuers. Ich rieb mir die Augen und sah, dass es draußen bereits hell wurde. Plötzlich hörte ich eine Stimme aus dem Lautsprecher, bekam aber nicht mit, was sie sagte. Bei der Wiederholung stand ich kerzengerade neben meinem Bett. Angst, was soll das? Über dem Lautsprecher hörte ich die Namen „Mohamed“, „Huschiar“, „Hossein“, einige andere Namen und „Hussein“. War ich gemeint? Es schien so. Wir alle sollten uns im Büro des Camps melden. Voller Angst gingen wir vor dem Frühstück dorthin. Mohamed war der Meinung, dass wir wegen des Tragens von kurdischer Kleidung beim Tanzen eine Rüge oder eine Strafe bekämen. So etwas war hier wohl nicht erlaubt.
„Na, jedenfalls hatten wir gestern Abend viel Spaß und haben gezeigt, dass wir eine andere Kultur vertreten.“ Hossein glaubte nicht daran, dass unser Handeln falsch gewesen war. „Man kann uns zwar tagsüber die Pishahang-Uniform aufzwingen, aber wir haben unseren Stolz, den uns niemand nehmen wird.“
Am Camp-Büro angekommen, klopften wir leise an die Tür. Unser Lehrer war schon dort. Wir standen da wie Schwerverbrecher, aber wir hatten doch nichts Falsches getan. Oder?
Der Chef des Camp-Büros sagte in wenigen Sätzen: „Ihr alle habt gegen die Regeln des Camps verstoßen. Wir haben eure Zimmer durchsucht und Alkohol gefunden. Abends tragt ihr keine Pishahang-Uniform. Ein Pishahang hat ein Vorbild zu sein. Ihr seid es jedoch nicht.“
Hossein widersprach dem Direktor und wollte uns verteidigen.
Auch Rezgar setzte an: „Aber Herr Direktor …“
Aber man ließ uns nicht zu Wort kommen. Wir hatten keine Chance der Erklärung.
„Packt sofort eure Sachen zusammen, ihr werdet das Camp verlassen und nach Hause gebracht. Eure Schule und eure Eltern werden mit der Post einen Brief bekommen, damit sie von eurem Fehlverhalten erfahren.“ Für den Direktor war die Sache erledigt.
Mit gesenkten Köpfen verließen wir das Camp-Büro. Wir alle hatten Tränen in den Augen, tauschten unsere Adressen aus, reichten uns die Hand und schworen uns, dass wir zu unserer Kultur stehen würden.
Die Fahrt nach Hause war für mich sehr lang und voller Gedanken über das, was passiert war und was noch kommen würde. Ich begann die Ungerechtigkeit zu begreifen, schaute aus dem Fenster des Autos und fühlte mich allein gelassen – wie unser Volk in der Unterdrückung durch andere. Was würde mein Vater sagen? Und meine Mutter? Sie würden überrascht sein, wenn ich bereits nach drei Tagen wieder zu Hause ankam. Die Ferien waren für drei Wochen geplant. Ich dachte an meinen Vater, an das, was er Mele, meiner Mutter, von der Savak und von Hajeje erzählte hatte und wie traurig er über dessen Folterung gewesen war. Ich würde einfach sagen, dass der Hauptgrund dafür, aus dem Camp geflogen zu sein, unsere kurdische Kleidung gewesen sei. Den kleinen Schluck Schnaps würde ich so erklären, dass ich kein Spielverderber sein wollte und dass es mir dabei schlecht gegangen war. Ach, meine Eltern würden mich schon verstehen! Und doch hatte ich das schlechte Gefühl im Bauch, versagt zu haben. Aber ich war auch sehr stolz, stolz, ein junger Mensch zu sein, der über die Ereignisse nachdachte und unsere Kultur schätzte. Mehr wusste ich nicht, aber ich konnte mir selbst ein Bild machen. Ja, ich war stolz, ein Mensch zu sein, der es nicht akzeptierte, was andere befahlen, schrieben oder sagten, ohne selbst darüber nachzudenken. Ich begriff nicht, warum man im Camp so hart gegen uns vorgegangen war, warum sie uns rausgeschmissen hatten. War es wegen des bisschen Alkohols? War es wegen unserer Kleidung? Unsere Kleidung war doch so schön! Besonders die Kleidung unserer Mädchen. Die anderen Gruppen hatten unsere Kleidung bewundert. Und die Schüler anderer Nationen, zum Beispiel die Pakistaner, hatten doch auch ihre traditionelle Kleidung getragen. Warum war es nur uns verboten gewesen? Was war schlimm daran? Vielleicht hatte Huschiar recht gehabt und die harte Reaktion beruhte tatsächlich auf unserer Kleidung. Die Machthaber des Iran wollen die Ungerechtigkeit gegen unser Land versteckt halten, damit die Außenwelt nichts davon erfuhr. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass das nichts Gutes bedeutete. Warum herrschte in diesem Schüler-Camp eine so starke Überwachung? Wir waren doch noch Kinder, Jugendliche! Warum waren dort Savak-Beamte, die uns ausspionierten und überwachten? Welche Gefahr barg ein Schülertreffen? Mit all diesen Gedanken schaute ich aus dem Fenster und bemerkte, dass ich wieder in Marivan angekommen war.
Der Fahrer des Wagens setzte mich vor unserer Haustür ab. Ich nahm meinen Koffer und bedanke mich. Allerdings aus reiner Höflichkeit. Innerlich kochte ich, weil der Fahrer bestimmt auch ein Savak war.
Meine Mutter schaute aus dem Küchenfenster und sagte: „Junge, was machst du denn schon hier? Es sind erst drei Tage, die du weg warst.“ Sie machte eine einladende Handbewegung. „Komm rein, ich mache dir ein Glas Milch.“
Kleinlaut erzählte ich meinen Eltern, die in der Küche saßen, alles, was passiert war und warum ich wieder zu Hause war. Ich war schuldbewusst, aber meine Befürchtungen traten nicht ein.
Mein Vater sagte: „Junge, du brauchst dich nicht weiter zu erklären. Was passiert ist, kann man nicht rückgängig machen.“ Und doch schaute er mich traurig an. Nach einer Weile fuhr er fort: „Hussein, mein Junge, pass immer auf dich auf da draußen, kümmere dich um die Schule und lerne! Die unwichtigen Dinge vergisst du am besten. Versuche, nicht mehr an dieses Erlebnis zu denken.“
Ich war erleichtert, dass meine Eltern nicht böse auf mich waren.
Am nächsten Tag traf ich Jewad auf der Straße. „Oh, Hussein, ich freue mich, dich wiederzusehen. Wie geht es dir? Was machst du hier? Ich dachte, du bist für mehrere Wochen in diesem Ferien-Camp, und jetzt bist du hier?“
Ich schüttelte den Kopf und antwortete zerknirscht: „Ja, ja du hast recht, ich bin vorzeitig wieder zurück. Die haben mich und meine Freunde rausgeschmissen.“
Dich und deine Freunde? Wer sind deine Freunde?“ Mit erstauntem Gesicht wartete Jewad auf meine Antwort.
Ich sagte: „Jewad, wenn du Zeit hast, erzähle ich dir, was passiert ist.“
„Ja, natürlich habe ich Zeit, erzähle schon!“
Dann begann ich von der Reise zu erzählen. Ich sprach von Huschiar, Hossein, Mohamed und den anderen neuen Freunden, die ich kennengelernt hatte. „Jewad, weißt du, trotz dieser kurzen Reise und obwohl man uns rausgeschmissen hat, war es schön und beeindruckend. Ich habe gute neue Freunde gefunden, und noch wichtiger: Ich habe große Städte gesehen und sehr große Straßen, die man dort Autobahnen nennt. Es ist jammerschade, dass du nicht dabei warst. Wärst du mitgekommen, wäre es noch schöner gewesen. Es hätte dir auch gefallen.“
Jewad lächelte mir zu. „Ja Hussein, ich glaube dir. Eine Reise ist immer gut und man kann viel Neues sehen und neue Erfahrungen sammeln. Aber du weißt doch, dass wir eine arme Familie sind und meine Eltern mir diese Reise nicht erlauben konnten. Ich freue mich, wenn ich während der Sommerferien arbeiten und etwas Geld für Schulsachen sparen kann. Einen Teil gebe ich meinen Eltern für den Haushalt. Du weißt doch, mein Vater verdient sehr wenig, und mein Bruder und ich müssen mithelfen, damit unsere Familie nicht um Hilfe bitten oder gar wie Bettler die Hand aufhalten muss. Es ist ein Geschenk, wenn meine Mutter einmal lächelt, weil ihr Gesicht sonst nur von Sorgenfalten gezeichnet ist. Ich liebe meine Mutter, weil sie für uns Kinder immer das Beste versucht, sodass wir alle zwei Tage eine warme Mahlzeit haben. Auch verstehe ich, dass mein Vater manchmal auf dem Basar trinkt, es sind seine Sorgen, und ich schäme mich dafür. Aber was kann ich schon tun?!
„Jewad, ich würde auch gern etwas Geld verdienen, aber ich weiß gar nicht, wie und wo ich in den Ferien arbeiten könnte.“ Der Gedanke erschien mir gar nicht so schlecht. Ich sagte: „Auch ich möchte meinen Eltern eine Freude machen und vielleicht heimlich etwas sparen.“
Jewad kam etwas in den Sinn: „Ich kenne zwei Jungs aus unserer Schule, die arbeiten in einer Autowerkstatt. Die haben von dem Meister viel gelernt und wissen, wie man Autos repariert. Sie lernen, schauen zu und später wollen sie eine eigene Autowerkstatt aufmachen – also später, wenn die Schule beendet ist.“
Ich hatte Bedenken. „Jewad, ohne Studium können die doch nicht selbständig werden!“
Jewad war anderer Meinung und erwiderte: „Die können, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt, als praktisch zu denken. Meine Freunde können nicht lange auf Kosten ihrer Eltern leben, weil die nämlich arm sind.“
„Aber auch ich möchte mein eigenes Geld eher verdienen.“ Der Gedanke nahm immer mehr Formen an. „Und weißt du, Jewad, wenn ich einmal eine Freundin habe, möchte ich ihr imponieren und ihr jeden Freitag ein Geschenk kaufen, damit sie mich mag. Danach würde ich sie zum Zarivar-See auf einen Spaziergang einladen und sie küssen. Dann würde ich ihr eine Seerose aus dem See holen und wir würden verliebt, Hand in Hand, um den See wandern. Es wäre mein Traum, einem Mädchen aus Marivan zu gefallen.“
Jewad hatte mir die ganze Zeit zugehört, ohne mich zu unterbrechen. Nach einer Weile sagte er: „Hussein, ich finde, dein Vater hat recht. Du hast einen sehr guten Vater.“
„Wie meinst du das?“, fragte ich.
„Das weißt du ganz genau, mein lieber Freund. Wir Kurden haben keine Möglichkeit, wichtige Beamte dieses Landes zu werden oder gar in ein Ministerium zu gehen. Wir werden doch offensichtlich gehasst, wenn schon unsere Kleidung wie im Camp nicht erlaubt ist. Wir haben in unserem Land niemals eine Chance weiterzukommen.“
„Aber wir sind stolze Menschen.“
„Ja, Hussein, das weiß ich auch, aber trotzdem hat dein Vater recht. Du musst lernen zuzuhören und solltest erst dann sprechen. Du hast noch gar nicht begriffen, warum dein Vater recht hat. Er ist ein kluger Mensch und weiß, dass Lernen nicht nur für dich gut ist, sondern auch für unsere Stadt und unser Volk. Nur mit Wissen kann man den Menschen helfen, also den Armen. Nimm doch als Beispiel meinen Vater. Vor lauter Kummer betrinkt er sich dreimal die Woche und wird mit der Schubkarre nach Hause gebracht. So möchte ich in meinem Leben nicht enden.“ Jewad seufzte und sprach weiter: „Mein armer Vater hat nicht studiert und weiß es nicht besser. Er sorgt sich um seine Familie und wie er sie ernähren soll. Dabei sinkt er immer tiefer. Hussein, du weißt es. Ich will nicht so werden wie er, aber er ist mein Vater! Er war doch nie in einer Schule und hat nur einziges Ziel vor Augen: das Überleben. Sonst nichts. Ich wollte dir damit sagen: Nur das Lernen bringt den Menschen weiter. Stell dir vor, du hättest Medizin studiert, dann könntest du Wunder vollbringen, den armen Menschen helfen, gesund zu werden, du könntest Krankheiten bekämpfen, gerade bei den armen Menschen in unserem Volk.“ Als ich nichts auf seine Worte erwiderte, fragte mich Jewad: „Hussein, hast du schon mal von unserem großen Dichter Qaneh gehört und was er in seinen berühmten Gedichten schrieb? Das hörte sich so ungefähr an: Kurden, Kurdistan, steht alle auf, senkt nicht mehr euren Kopf aus Unwissenheit, wir leben im zwanzigsten Jahrhundert. Andere Nationen bereisen die Sterne, fliegen mit Menschen auf den Mond, schicken Satelliten in den Himmel, ergründen andere Planeten. Deshalb müssen wir auch lernen und unser Wissen ständig erweitern. Nur mit Wissen kommen wir weiter oder wir sind verlorene Schafe.“
„Ja, Jewad, natürlich weiß ich von Mamosta Qaneh. Und ich verstehe, was du meinst. Mein Vater liest manchmal zu Hause aus seinen Büchern. Oft habe ich ihm gelauscht. Ohne Studium kann keiner von uns Politiker werden und für unsere Gerechtigkeit kämpfen. Ohne Wissen kann man nie kämpfen. Das weiß ich auch. Die Machthaber wollen uns in Dummheit hüllen. Nur mit Wissen können wir deren Kampagnen entgegenwirken und kämpfen. Die Machthaber denken ausschließlich an ihr eigenes Wohl und ihren Reichtum und behandeln uns, das Volk, wie eine dumme Viehherde. Aber wir sind es nicht. Ich weiß noch nicht viel über unsere Welt, weil ich noch sehr jung bin. Jedoch bin ich überzeugt, dass es überall auf der Welt gleich funktioniert. Die Menschen arbeiten oft Tag und Nacht, um zu überleben. Sie haben gar keine Zeit nachzudenken. Woher kommt das, warum ist das so? Gott weiß das? Meine Mutter sagt immer wieder, Gott hat das gegeben und das ist das Schicksal für uns Menschen. Aber ich glaube nicht daran, denn jeder hat die Möglichkeit, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.“ Jetzt musste raus, was ich schon so lange mit mir herumtrug: „Jewad, bei uns im Land wird gefoltert! Ich habe von einem Beispiel gehört und weiß nicht, wie viele Fälle es in unserem Land noch gibt.“ Das Beispiel von Hajeje ging mir wieder durch den Kopf. Man hatte ihm Finger- und Fußnägel ausgerissen, nur weil er sich nicht in persischer Sprache hatte wehren können. Hajeje würde immer in meinen Gedanken bleiben, ebenso wie die Ungerechtigkeit in unserem Land. Die Würde des Menschen wurde bis auf das Blut verletzt.
„Oh, Hussein, sehr gut, was du sagst. Diese Reise hat dir offenbar gutgetan. Schön, dass du so denkst. Pass auf, ich mache dir zwei Vorschläge. Ich sorge erstens dafür, dass du während der Ferien eine Arbeit findest, damit du nicht nur etwas Geld verdienst, sondern auch andere Menschen kennenlernst, die sich wie du Gedanken machen und sich sorgen. Sie wissen schon mehr als wir, da sie etwas älter sind. Du solltest mit eigenen Augen sehen, wie hart der Kampf um das Überleben der armen Menschen ist, besonders das der Arbeiter, die tagtäglich für ihren Lebensunterhalt kämpfen und keinen gerechten Lohn erhalten. Zweitens schlage ich dir vor, meine Freunde kennenzulernen. Wir treffen uns dreimal pro Woche, manchmal auch öfter, im Abe Balkis, dem kleinen Kaffeehaus, und spielen Backgammon. Das Spiel ist jedoch nicht das Wichtigste. Wir diskutieren viel. Das Spiel dient dazu, die Neugierigen abzulenken, damit sie sich nicht fragen, warum wir so oft zusammensitzen. Komm doch morgen am Nachmittag dorthin, dann kannst du meine Freunde kennenlernen und selbst von ihnen lernen.“
Das imponierte mir. Voller Freude gab ich Jewad meine Hand und sagte: „Danke Jewad, du bist mein bester Freund. Gern werde ich morgen kommen. Es ist auch egal, welche Arbeit du für mich findest, ich werde sie annehmen.“
Wir verabschiedeten uns und Jewad flüsterte mir noch ins Ohr: „Aber Hussein, behalte das alles für dich, erzähle es niemandem! Unsere Gespräche behalten wir für uns.“
Ich war begeistert. Mit großer Freude schlenderte ich nach Hause. Mein Kopf war voller Gedanken. Ich freute mich, morgen die Freunde von Jewad kennenzulernen. Es waren die besten Menschen in unserer Stadt und mir kam Kak Kawe in den Sinn. Er war anders als die meisten Menschen in unserer Stadt. Immer, wenn ich ihn von Weitem sah, dachte ich, er sei mein Vorbild. Sollte ich einmal heiraten, dann würde ich es so machen wie er. Kak Kawe hatte immer ein Lächeln im Gesicht, für jeden ein gutes Wort, er sah in seiner kurdischen Kleidung stets gepflegt und sauber aus. Manchmal sah ich ihn mit seiner Frau am See spazieren gehen. Es war bei uns nicht normal, dass ein Mann mit seiner Frau Hand in Hand öffentlich spazieren ging. Eigentlich war es verboten.
Kak Kawe war Akademiker. Er hatte in der Oberschule unterrichtet. Wegen seiner politischen Meinung war er vom Ministerium und den Savaks suspendiert und daraufhin arbeitslos geworden. Er durfte nicht mehr unterrichten und hatte wegen seiner politischen Meinung sogar im Gefängnis gesessen. Das Einzige, was ihm und seiner Familie geblieben war, waren eine Unterkunft und ein Auto ähnlich einem Pickup. Er verlieh den Wagen an Bauern, damit sie ihre Ernte von den Feldern zum Markt bringen konnten. Wenn die Bauern kein Geld für das Benzin hatten, gaben sie ihm Kartoffeln und Gemüse. So kam auch bei ihm und seiner Familie warmes Essen auf den Tisch. Er war ein guter Mensch, den die Bauern schätzten. Auch meine Eltern sprachen öfter mit Hochachtung von ihm. Aber er war den Savak-Leuten ein Dorn im Auge.
Kurz bevor ich zu Hause ankam, überlegte ich, welchen Grund ich für morgen vorbringen würde, um in das Kaffeehaus zu gehen. Wenn ich nicht pünktlich nach Hause kam, brauchte ich eine Erklärung für meine Eltern. Ich beschloss zu sagen, dass wir uns für ein Fußballspiel verabredet hatten und ich etwas später nach Hause käme. Das dürfte erst einmal genügen. Später konnte ich immer noch sagen, dass wir uns trafen, um Backgammon zu spielen.
Das Kaffeehaus
Am nächsten Tag nach der Schule lief ich voller Erwartung zu dem kleinen Kaffeehaus und schaute zunächst durch das Fenster. Ich sah Jewad mit den anderen Tee trinken. Er blickte in diesem Moment zum Fenster, als hätte er mich schon lange erwartet, und winkte mit der Hand. „Komm rein!“
Ich betrat das Kaffeehaus und begrüßte alle am Tisch, an dem Jewad saß. Jewad stellte mich vor und ich gab allen mit einem Lächeln die Hand zur Begrüßung. Ich setzte mich auf einen Stuhl und wartete, was passieren würde, hörte zu, worüber sie diskutierten und trank wenige Schlucke von meinem Tee. Jewad ergriff das Wort und fragte in die Runde: „Habt ihr schon von Kak Shwane und von der Weißen Revolution gehört?“ Kak Shwane war ein junger und sehr netter Mann und stammte von den reichsten Familien unserer Stadt. Er genoss einen guten Ruf. Dieser junge Mann, der an unserem Tisch saß, hatte sich im Armenviertel unserer Stadt eine kleine Einzimmerwohnung gemietet, als er noch nicht verheiratet gewesen war. Obwohl sein Vater viele Häuser besaß und das schönste Haus in der Stadt bewohnte, war er von zu Hause ausgezogen. Er wollte nicht in dem Reichtum leben, den sein Vater umgab.
Kak Shwane antwortete Jewad so leise, dass man es nur an unserem Tisch verstand. „Hört mir zu, die Weiße Revolution des Schahs ist westlich geprägt und hat ganz Iran verändert. Diese Reform hat Vor- und Nachteile. Der Vorteil ergibt sich vor allen Dingen für die Bauern. Bis zur Weißen Revolution haben die Bauern das ganze Jahr über auf dem Feld gearbeitet und mussten nach der Ernte den größten Teil an die Aghs abgeben, also an die Landbesitzer oder Dorfbesitzer. Diese Aghs haben im Leben noch nie richtig gearbeitet, wissen nicht, was Feldarbeit bedeutet, und das seit Jahrhunderten. Keinen Finger haben sie je sich krumm gemacht. Stattdessen beuteten sie die armen Bauern aus und behandelten sie wie Sklaven. Außerdem nahmen sie von den Bauern eine Zwangssteuer, folterten sie, wenn sie ein Wort sagten oder vergewaltigten die jungen Mädchen der Bauernfamilien, um alles, was sie erreichen wollten, mit ihrer Gier nach Geld und Reichtum durchzusetzen. Es ist eine lange historische Geschichte, die unser Volk unterdrückt hat. Auf jeden Fall ist es so, dass die Weiße Revolution endlich greift, es ist ein gutes Zeichen für ein neues Leben unserer armen Bauern in Kurdistan. Geplant ist, dass jeder Bauer auf seinen eigenen Namen ein Stück Land erhält. Durch dieses kleine Stück Freiheit können die Bauern besser leben.“
In anderen Ländern Europas hatte sich diese Art Revolution in blutige Revolutionen gewandelt. Dort schaffte man den Feudalismus ab, sie schafften die Ahgs ab, wie auch immer diese in Europa hießen, und die Landwirte – die Bauern – übernahmen das System der Aghs in kleinerem Stil. So waren meine Gedanken, wenn ich Kak Shwanes Ausführungen richtig gefolgt war. Aber ich sagte nichts, schwieg weiter und hörte zu. Ich verstand, dass man den Feudalismus abschaffte, sich aber die Bauern durch mehr Rechte genauso benahmen, sich eben nur im kleineren Rahmen bereicherten und die Menschen wiederum durch Niedriglöhne ausbeuteten.
Kak Shwane sagte: „Der Feudalismus wurde in Europa durch den Kapitalismus ersetzt, in dem Arbeitgeber die Arbeitskraft der Arbeitnehmer ausbeuten.“
Schweigsam und mit großen Augen und Ohren hörte ich weiter zu.
„Bei uns im Land ist die Weiße Revolution im Begriff, das Gleiche zu tun, wie es in Europa geschehen ist. Die Folge kann eine blutige Revolution sein. Die Landbesitzer ersetzen im kleineren Stil die alten Ahgs und jetzt beginnt der Kampf zwischen den Inhabern und den Arbeitern.“
Ich dachte: Aha, man hat den Feudalismus in kleinere Flächen unterteilt.