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Und so ging ich einfach nach Hause, enttäuscht natürlich, ein wenig traurig, weil es mir nicht möglich gewesen war, auf alle Fragen in meinem Kopf eine Antwort zu bekommen. Diese Zweitausendfünfhundert-Jahr-Feier schien mir von höchster Brisanz zu sein, aber ich wusste doch nicht, was das alles bedeutete. Unser Staat im Glitzerschein der Welt. Ich würde es erleben, denn ich war noch ein junger Mensch.
Voller Neugierde wartete ich die nächsten Tage ab, was alles in der Schule passierte und ob Jewad sein Versprechen einlöste, mich zu Hause zu besuchen. Mir war, als befinde ich mich in einem luftleeren Raum, ohne dass es vorwärts ging.
In den laufenden Monaten waren alle öffentlichen Behörden – der Magistrat, die Banken, Versicherungen, die Polizeipräsidien – damit beschäftigt, die Feier zu Ehren des Königreiches vorzubereiten. Deren Gebäude wurden mit Blumen, Lichtern und der dreifarbigen iranischen Fahne geschmückt. Auch kleine Läden, wie zum Beispiel unser Gemischtwarenhändler, die Bäckerei, der Fahrradladen, der Elektroladen und die Autowerkstatt, schmückten ihr Haus mit iranischen Fahnen. Alle Geschäftsinhaber waren Anhänger des Regimes. Auch unsere Schule wurde mit Fahnen, bunten Papierblumen und all diesen vielen Lichtern geschmückt. Wir Schüler mussten täglich Propaganda-Lieder einstudieren, Tänze üben, und in Reihen laufen wie Soldaten. So bunt wie alles andere waren auch die Uniformen und die Musikorchester, die die Parade vorbereiteten.
Ich fragte mich, wie viele Millionen allein die vielen Lichter kosteten. Für das Geld könnte man sicher eine Menge Stromleitungen in abgelegene Dörfer legen oder für die Ärmsten der Armen gute Dinge tun. Mein Gott, alle Brücken in diesem Land wurden mit Lichtern und Glamour ausgestattet. In den Städten wurden Treppen gebaut und Lautsprecher angebracht, damit Minister oder Bürgermeister zum Volk sprechen konnten.
Am ersten Tag der Feier gingen viele Menschen auf die Straßen, um dabei zu sein. Ich durfte auch hinausgehen und mit meinen eigenen Augen zusehen, was geschah. Gott sei Dank war ich im Camp bei den Pishahang rausgeflogen und musste nun nicht diese Uniform tragen. Im Nachhinein fand ich die Uniform unmöglich, diese Gleichmachung per Propaganda und den Zwang. Wir waren dadurch keine freien Menschen. Dies war nicht meine Vorstellung von einem Leben in Freiheit.
In Marivan hielt der Bürgermeister eine Eröffnungsrede auf der hell erleuchteten Bühne. Er sprach über die Geschichte des Iran und sein Imperium. Dabei betonte er ständig, wie modern sich unser Land entwickelt habe. Die Weiße Revolution, die das alles ermöglicht hatte, stand im Vordergrund seiner Rede. Freitags kamen die Menschen zur Moschee, ebenso wie ich. Der Imam betete für alle und lobte den Schah in den höchsten Tönen. Er sei der beste Schah der Welt, weil er für uns die westliche Ideologie einbrachte. Gemeint war der Konsum der westlichen Welt. Ich dachte an meinen Vater, der der Meinung war, dass kein Mensch all das Neue brauchte. Die Lobreden gingen weiter: „Ohne den Schah hätten wir keine moderne Welt in unserem Land erschaffen können. Ohne unseren Schah und seine Verdienste wären wir in der Welt nicht so weit gekommen. Hoch lebe unser Schah!“
Alle Savaks und Beamten klatschen Beifall. Ich konnte diesen Lärm kaum aushalten, weil ich an all die Ungerechtigkeiten denken musste.
In den Städten fand der Marsch des Militärs mit Panzern, Waffen und beleuchteten Fahrzeugen statt. Musik begleitete die Umzüge auf den Straßen unseres Landes, auch in unserem kleinen Marivan. Schülergruppen liefen wie Soldaten in Uniform die Straße entlang, vorneweg ein Plakat mit der Aufschrift: „Unser Schah lebe hoch!“ Die Fahnen, die die Anführer der Gruppen in der Hand hielten, wehten im Wind. Noch gestern Abend war unsere Stadt im Dunkeln gewesen und man hatte sich nicht aus dem Haus getraut. Heute war plötzlich alles anders mit all den vielen Lichtern, die selbst in der Dunkelheit glitzerten.
Und plötzlich war es wieder dunkel! Alle waren nervös, der Bürgermeister auf der Bühne, die Anhänger des Regimes und all die Beamten. Der Bürgermeister versuchte die Menschen zu beruhigen. „Keine Panik, das Problem ist gleich behoben.“ Doch es geschah nichts. Die Lichter waren aus, der Strom war weg. Manche Menschen hatten eine Taschenlampe dabei. Sie lachten heimlich und sagten: „Kein Wunder, dass das Stromnetz bei so vielen Lichtern versagt. Bei den unmodernen Stromleitungen!“
Auch das Mikrofon versagte. Der Bürgermeister erhob seine Stimme und rief in die Menge: „Liebe Bürger, wir haben hier einen japanischen Ingenieur, der das Problem in wenigen Minuten behoben haben wird.“
Als am Abend die Feierlichkeit beendet war, gab es endlich wieder Strom. Zuhause lachte mein Vater und sagte: „Ja, ja, das hast du gut gemacht, Junge.“ Er meinte Foad.
Meine Mutter tadelte meinen Vater: „Hör auf, sei leise, du kennst doch die Savak! Bring uns nicht in Gefahr.“
„Foad ist jetzt schon in Gefahr.“
Kak Foad war unser neuer Nachbar. Er war Ingenieur und Direktor des Stromwerkes in unserer Stadt. Ein sehr freundlicher und begabter Mensch. Die Stadtbewohner mochten ihn. Ich hatte meine Mutter einmal sagen hören: „So einen Sohn hätte ich auch gern in unserer Familie.“
Unser Bürgermeister war sehr verärgert über den Stromausfall, der für ihn eine Blamage gewesen war. Er beschimpfte Foad in seinem Büro und dieser verteidigte sich. Uns Bürgern gegenüber hatte Foad den Bürgermeister zuvor schon kritisiert, was sich sonst niemand in unserer Stadt traute. Nie durfte man auch nur ein Wort gegen den Bürgermeister aussprechen, sonst landete man sehr schnell im Gefängnis und wurde von der Savak gefoltert. Aber alle sagten, Foad sei ein sehr mutiger Mann, der neuen Wind in unsere Stadt bringen würde.
Am nächsten Tag nach der Schule besuchte mich Jewad zu Hause. „Hast du von gestern Abend gehört?“, fragte er. „In der ganzen Stadt ist der Strom ausgefallen.“ Ich nickte und erzählte ihm, was mein Vater darüber dachte.“
„Ja, Hussein, viele in der Stadt denken, dass Kak Foad für den Stromausfall verantwortlich ist, ob mit oder ohne Absicht. Wenn Absicht im Spiel war, finden die Bürger es trotzdem gut. Als Protest nämlich. Ich habe gehört, dass sich Kak Foad seit seinem ersten Tag als Direktor des Stromwerkes ständig mit dem Bürgermeister streitet. Er wollte in die ärmeren Viertel unserer Stadt und die anliegenden Dörfer Stromleitungen legen lassen. Der Bürgermeister war da ganz anderer Meinung und plädierte, dass zuallererst die Kabelnetze in den Beamtenvierteln erneuert werden sollten.“ Jewad fuhr fort: „Aber wir dürfen nicht öffentlich darüber sprechen, was passiert ist, sonst landen auch wir im Gefängnis. Kak Foad hat zahlreiche Kontakte zu den aktiven Bauern in Marivan. Ich glaube, er plant, wegen der Ausbeutung der Bauern gegen die AGHWAT (die Feldgrundbesitzer) zu kämpfen. Ich habe Foad schon einige Male getroffen und weiß von Kak Kawe, dass er ein guter Mensch ist. Aber Kak Kawe hat mir keine richtige Antwort gegeben. Bitte schweige darüber. Du solltest dir im Laufe der Zeit dein eigenes Bild von der Situation machen. Beobachte einfach, was hier alles geschieht.“
In den folgenden Monaten passierte relativ wenig. Ich fand mich häufiger im Kaffeehaus ein, um herauszufinden, was in unserer Stadt vor sich ging. Ich war sehr neugierig und hätte gerne gewusst, was die Hintergrundorganisationen planten. Ich sah immer wieder junge Männer, besonders Lehrer, die sich heimlich und leise in den Ecken des Kaffeehauses und im Basar unterhielten. Wenn man näher kam, lachten sie einfach. Das passte nicht zu dem, worüber sie vermutlich sprachen. Ich nahm mir vor herauszufinden, über was sie redeten, und ich wollte auch gern mit ihnen gegen die Ungerechtigkeit kämpfen.
Dies alles geisterte seit einiger Zeit in meinem Kopf herum. Jewad meldete sich nicht mehr bei mir und ich hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen. Ich überlegte, was ich tun sollte. Außer im Kaffeehaus hatte ich junge Lehrer und Studenten auch in der Stadtbücherei gesehen. Ich beschloss, zu Kak Jamschid, dem Leiter der Stadtbücherei, zu gehen. Er war zu Schülern besonders freundlich und gab Ratschläge, welche Bücher leicht zu lesen seien. Er sah anders aus als unsere Stadtbewohner. Seine Haare waren sehr lang und er trug einen Schnurrbart. Man sagte, er habe gar keine richtigen Haare auf dem Kopf, das seien Kunsthaare. Mit den meisten jungen Lehrern war er befreundet. Außer seines guten Rufes als Intellektueller war er auch für seine Kunstwerke berühmt, die er hin und wieder malte. Wenn er im Basar seine neuen Werke ausstellte, erntete er Zuspruch von den Studenten, aber auch von alten Menschen, die über mehr Lebenserfahrung verfügten. Von ihnen konnten wir lernen. Oft waren junge Menschen zwar schlau, was nicht schlecht war, aber ihnen fehlte die nötige Erfahrung. In jungen Jahren lebten sie in der Theorie und hatten Pläne für ihr zukünftiges Leben – meist waren es Träume –, doch das wahre Leben mussten sie erst noch kennenlernen.
Die Motive, die Kak Jamschid malte, handelten meist von dem normalen Leben in unserer Stadt. Einmal betrachtete ich auf dem Basar ein Bild von ihm. Das Gemälde zeigte einen alten Mann mit einem Bart und Schweißperlen im Gesicht. Er trug eine schwere Last auf seinem Rücken. Nebenan hing ein Bild von Hussein, dem „Schiet“. „Schiet“ hieß „verrückt“. Vielleicht war er tatsächlich etwas verrückt gewesen, aber in unserer Stadt hatte er sich großer Beliebtheit erfreut, weil er keiner Menschenseele etwas zuleide tat. In unserer Stadt erzählte man sich, dass er einst im Winter auf den zugefrorenen Zarivar-See gegangen sei, um über das Wasser zu laufen. Das Eis brach ein und mit ihm Schiet. Er war ein kräftiger Mann, obwohl er arm war. In dem eiskalten Wasser unseres Sees erfroren ihm seine Hände und Füße, die dann später bei dem Arzt amputiert werden mussten. Der beliebte Verrückte konnte nur wenige Worte sprechen. Worte wie „Hunger“ und „Durst“ beispielsweise. Und die Menschen gaben ihm jeden Tag ein Almosen, weil er zwar ärmlich gekleidet war, aber niemanden belästigte. Manchmal schlief er einfach am Straßenrand und irgendjemand brachte ihn am Abend zu seinem verfallenen Häuschen, das weder mit Strom noch mit Wasser ausgestattet war. Es gab dort auch keine Toilette. Das Bild zeigte den armen Schiet schlafend auf dem Basar. Anstelle eines Kissens lag eine harte Blechdose unter seinem Kopf. Ein sehr trauriges Bild, dachte ich, als ein alter Mann neben mir zu mir sagte: „Ja, ja, jedes seiner Bilder erzählt uns eine traurige Geschichte über Menschen in unserer Stadt.“ Der alte Mann lobte den Maler und berichtete, dass dieser wegen seiner Bilder oft im Gefängnis landete. Die Motive seien gegen die Gesinnung des Regimes. Wie viele andere stand er unter ständiger Beobachtung der Savak-Leute.
Ich war vor der Stadtbücherei eingetroffen und wollte irgendwie zu der Organisation Kontakt aufnehmen. Als ich die Bücherei betrat, sah ich Herrn Kak Jamschid. Er sprach gerade in einer Ecke der Bücherei mit Jewad. Ich ging zu ihnen und sprach Jewad an: „Wo warst du die ganze Zeit? Ich habe lange nichts von dir gehört.“
Er wollte mir antworten, aber Kak Jamschid sagte: „Seid leise, die anderen wollen in Ruhe lesen.“
Jewad flüsterte: „Hier können wir nicht reden, aber ich habe dir viel zu erzählen.“
Wir verabschiedeten uns von Kak Jamschid und gingen in Richtung Zarivar-See.
Jewad erklärte: „Ich hatte in den letzten Wochen sehr viel zu tun und war ständig unterwegs, mal in Bilow, mal in Sanandaj, mal in Kermanschah.“
Ich war neugierig und fragte ihn: „Was hast du im dem Dorf Bilow gemacht?“
„Ich erkläre es dir, wenn du Geduld hast.“
„Ja, dann sag es mir doch. Im Übrigen bin ich nicht ungeduldig.“
„Du weißt doch noch von der Weißen Revolution. Das Wichtigste war die Reform der Grundbesitzer in der Landwirtschaft.“ Endlich kam Jewad auf den Punkt. „Man entzog der Aghwat Land und gab es in kleinen Ländereien an die Bauern ab.“
„Ja“, sagte ich, „davon habe ich gelesen.“
„Das hat den Bauern Vorteile gebracht. Hier bei uns in Kurdistan wurde diese Reform nicht umgesetzt.“
„Aber warum? Wer hat das entschieden?“
Jawed sagte: „Das waren das Schahregime und seine Gendarmen.“
„Warum machen die bei uns diesem Unterschied?“, wollte ich wissen.
„Das ist eben die Ungerechtigkeit. Die Savak und die Aghwat nehmen den Bauern seit Jahrhunderten alle guten Felder ab. Sie lassen sie auf ihren Namen umschreiben und lassen die Bauern nicht weiter darauf arbeiten. Sie nehmen somit den Bauern die Ernte weg. Viele unserer Freunde sind Lehrer in den anliegenden Dörfern und haben mit den Bauern gesprochen. Um es kurz zu machen: Die Bauern von Bilow und Darsiran haben sich versammelt und wir haben gemeinsam mit ihnen einen Plan ausgearbeitet, um gegen diese Ungerechtigkeit zu kämpfen. Die Bauern haben dort ihre Ernten eingeholt und wir waren ihnen wochenlang dabei behilflich. Die Gendarmen jedoch sind auf der Seite der Aghwat und sie haben viele Bauern ins Gefängnis gebracht. Aus Solidarität sind dann andere Bauern immer wieder auf die Felder gegangen, bis auch sie festgenommen wurden. Dann kamen die Bäuerinnen und die Kinder auf die Felder. Das war eine Revolution unserer Bauern hier in der Gegend. Aber wir konnten nicht zulassen, dass sie alle im Gefängnis landeten. Wir entschieden, dass es so nicht weitergehen konnte, denn sonst hätten die Bauern ihren Kampf gegen diese Ungerechtigkeit aufgegeben. Deshalb war ich auch in Sanandaj und Kermanschah. Dort schalteten wir einen guten Anwalt ein, der eine Klage eingereicht hat. Der Anwalt ist ein guter Freund unserer dortigen Freunde. Und er denkt genauso wie wir. Also, lieber Hussein, deswegen war ich die ganze Zeit unterwegs. Ich kann dir aber auch die gute Nachricht verkünden, nämlich dass ich heute erfahren habe, dass wir gewonnen haben!“
Ich staunte, ließ Jewad aber ausreden.
„Woher ich das weiß, ist im Moment noch ein Geheimnis. Ich muss sagen, die Bauern haben sehr mutig für ihre Sache gekämpft und der Anwalt hat sie bestens vertreten. Einige Bauern und eine Bäuerin sind zum Ministerium in Teheran geschickt worden, haben dort mit den Sachbearbeitern vom Landwirtschaftsministerium gesprochen und kommen heute aus Teheran zurück. Ich bin auf ihre Ergebnisse sehr gespannt und will morgen wissen, was sie alles im Detail erreicht haben, damit auch in unserem Kurdistan endlich Gerechtigkeit einkehrt. Wenn du willst, komm doch morgen mit mir nach Darsiran zu Dade Tele. Sie ist eine mutige Bäuerin. Die ganze Zeit hat sie gesagt: ‚Auch wenn mein Mann nicht mitmacht, ziehe ich es allein durch. Ich lasse mich nicht mehr von den Gendarmen und der Aghwat einschüchtern.‘ Die Bäuerin war mutiger als ihr Mann, dem man das aber verzeihen muss, denn er war zuvor schon im Gefängnis und wurde gefoltert. Die Bäuerin sagte, dass es ihr Recht sei, so vorzugehen. Und morgen wird sie bestimmt erzählen, wie es im Ministerium in Teheran war.“
Die mutige Bäuerin
Am nächsten Tag holte mich Jewad an der Ecke unserer kleinen Straße zur Hauptstraße hin ab. Meinen Eltern hatte ich noch nicht erzählt, was ich vorhatte, denn ich war mir nicht sicher, ob sie mir das erlauben würden.
Ah, da kam Jewad, allerdings auf einem Motorrad. Er stieg ab und ich konnte mir nicht verkneifen zu fragen: „Woher hast du das Motorrad? Seit wann hast du es?“
„Ach Hussein, ich habe es erst seit kurzer Zeit, weil es nicht mehr anders ging. Du weißt doch, die ewigen Busfahrten, das Warten an der Bushaltestelle, die schlechten Fahrplänen und die Unpünktlichkeit der Busse – all das hat dazu geführt, dass ich oft nicht wegkam. Ich hatte Probleme, während der Bauernkampfbewegung, meine jeweiligen Ziele zu erreichen. In den kleinen Dörfern ist es noch schlimmer; da gibt es überhaupt keine Kleinbusse und ich musste oft mit Freunden fahren. Als ich das letzte Mal in Sanandaj war, habe ich mir von meinen Ersparnissen und mit der Hilfe meiner Freunde dieses Motorrad gekauft.“
„Aber“, warf ich ein, „dann bist du doch eine Zielscheibe für die Savak-Leute, wenn sie dich sehen.“
„Mach dir keine Sorgen“, versuchte Jewad mich zu beruhigen. „Ich passe schon auf mich auf. Aber nun setz dich hinter mich, wir müssen los.“
Das Dorf Darsiran war nicht sehr weit entfernt. Es lag kurz hinter der Stadtgrenze. Wir erreichten das Dorf und fuhren direkt zu der Adresse, wo wir dachten, diese Bäuerin anzutreffen. Auf dem Hof arbeitete eine Frau vor dem Kuhstall. Sie stellte Tapalle für den Winter her. Das war ist eine Art Mischung aus Kuhscheiße und Baumrinde, die zunächst zusammengemengt, in der Sonne getrocknet und dann im Winter als Heizmaterial genutzt wurden. Eine harte Arbeit. Das Heizmaterial wurde in der Scheune bis zum Winter gelagert, um es im Haus zum Heizen zu verwenden, wenn draußen Eiseskälte herrschte und der Schnee die Landschaft weiß einhüllte.
Jewad parkte im Hof der Bäuerin und jemand fragte: „Wollen Sie auch zu Dade Tele? Sie hat heute schon viele Gäste gehabt, aber sie wird sich auch Zeit für Sie nehmen, denn sie ist jetzt berühmt. Geht rein ins Haus; da warten noch mehrere Gäste, um ihr später zuzuhören.“
Wir betraten das Haus und setzen uns zu den Wartenden, meist waren es Bäuerinnen des Dorfes. Im Gespräch bekamen wir mit, dass dies nicht das gesuchte Haus war. Irritiert fragte ich: „Wenn dies nicht Dade Teles Haus ist, wo finden wir sie dann?“
Die Bäuerin, die gerade hineingekommen war, antwortete: „Dies ist nur der Sammelpunkt. Aber ihr könnt jetzt zu ihr hingehen.“ Sie beschrieb uns den Weg. „Geht durch unser Dorf. Es ist das Haus, wo die meisten Pickups im Hof stehen.“
Wir gingen los und andere folgten uns. Der Weg zu dem angegebenen Haus war nicht sehr weit. Wir grüßten höflich, wurden aber von einigen alten Bauern nicht gerade freundlich empfangen. Sie fragten: „Wo kommt ihr her, was wollt ihr von uns? Ihr seid doch nicht aus Darsiran.“
Der Mann von Dade Tele, Kak Faraj, kam auf Jewad zu und brüllte ihn an. „Was haben Sie mit meiner Frau gemacht? Sie bringen nur Unruhe in unser einfaches Leben. Meine Frau ist verrückt geworden. Sie denkt, sie sei Farah Diba, nur weil sie in Teheran war. Es ist eine Schande!“
Endlich kam Jewad zu Wort. „Beruhigen Sie sich, alles wird besser. Ihre Frau ist nur noch etwas aufgeregt, weil sie in Teheran war. Es wird schon alles wieder gut.“ Wir betraten den großen Raum des Bauernhauses. Darin war es dunkel und es roch nach Tabak. In der Ecke des Zimmers befand sich ein großer Samowar, voll mit Wasserdampf, damit Tee für alle zubereitet werden konnte. Wir nahmen neben einigen anderen Wartenden auf dem Teppich Platz, der bestimmt schon viele Jahre keinen Schnee gesehen hatte. Meine Mutter machte unsere Teppiche jedes Jahr mit Schnee sauber und klopfte sie dann aus. Aber dieser Teppich war voller Flecken und ich wollte gar nicht wissen, wie viele Jahre er nicht gereinigt worden war. An den Wänden hing schmutzige Arbeitskleidung, aber viel schlimmer waren die verrußten, schwarzen Wände, die mit Fellen bedeckt waren. Sicher war hier jahrelang nicht mehr geputzt worden. Dafür musste es Gründe geben, sagte mir mein Instinkt. Es war recht eklig, aber Jewad sagte kein Wort und so hielt auch ich mich zurück.
Frau Dade Tele saß hinter der Wasserpfeife auf dem Teppich und lehnte sich wie eine Königin mit ihrem Rücken an einige Kissen. Als sie Jewad und mich erblickte, stand sie auf, nahm Jewad in den Arm und sagte: „Mein Junge, wie geht es dir? Wir haben es geschafft! Ich habe den Schah in Teheran getroffen und ihn davon überzeugt, dass die Aghwat und die Gendarmen hier keine Rechte mehr haben, sondern nur noch wir, wir Bauern.“ Dade Tele schielte nach mir, nahm mich auch in den Arm und sagte: „Alle Jungen von Marivan sind nun auch meine Söhne.“ Schnell führte sie uns zu ihrem Platz, damit wir alle von den anderen gesehen wurden. Laut befahl sie einigen Mädchen: „Bringt schnell Obst und Tee für meine Gäste.“
Wir beide setzten uns neben sie.
„Erzähle uns doch, Dade Tele, wie war das alles auf deiner Reise?“, fragte Jewad. „Bist du zufrieden?“
Sie nahm einen Apfel aus der großen Schüssel, schälte ihn mit einem Messer, schnitt ihn in Stücke und legte diese für uns auf einen kleinen Teller. Für sich selbst nahm sie mit ihren schmutzigen Händen einen ganzen Apfel, den sie auf eine Gabel spießte und dann davon abbiss. So als hätte sie mehr verdient als andere. Die Bauern und ihre Frauen saßen mit offenem Mund da und staunten. Innerlich musste ich lachen und gewiss sah man es meinem Gesicht an. Jewad gab mir mit seinen Augen zu verstehen, dass ich mein Lachen verbergen sollte.
Nachdem Dade Tele mehrmals herzhaft in den Apfel gebissen hatte, fing sie an, ihre Geschichte der letzten Tage zu erzählen. „Ach du junger Jewad, du bist nun wie ein Sohn für mich. Also, es war so: Wir sind mit dem Bus nach Teheran gereist und haben gefragt, wo der Palast des Schahs ist. Die Menschen, die ich danach fragte, waren sehr frech zu mir und haben mich ausgelacht, so als wäre meine Frage nicht berechtigt. Aber ich habe mir das nicht gefallen lassen und denen gesagt: ‚Wenn ich den Schah getroffen habe, sage ich ihm, er soll euch die Savak auf den Hals hetzen und die Gendarmen. Dann habt ihr nichts mehr zu lachen!‘ Ja, ja, so energisch war ich. Ich, also ich, Dade Tele, war und bin doch die Vertreterin aller Bauern in Kurdistan. Ach, ich sage euch allen, als wir endlich den Palast des Schahs gefunden hatten, wollten unsere ängstlichen Männer wieder zurücklaufen. Da sieht man wieder einmal, dass wir Frauen mehr Courage haben. ‚Nichts gibt es da, wir gehen nicht zurück. Unser Kampf und unsere Aufgabe machen heute einen Schritt nach vorn und nicht zurück!‘“ Dade Tele war in ihrem Element und alle staunten und lauschten ihren Worten. Bevor sie nach Teheran gereist war, war sie noch nie aus ihrem Dorf herausgekommen und sie berichtete nun darüber wie über eine Weltreisende.
Ich hörte weiter zu und musste mir ein Grinsen verkneifen. Jedoch war ich gespannt, wie ihre Rede weiterging.
„Die Gendarmen in Teheran haben ganz andere Uniformen“, erzählte sie weiter „und die nennen sich dort Polizei. Ach, was soll ich sagen, unsere Männer wollten sich sogar verstecken, hatten keinen Mut wie ich. Echte Jammerlappen sind das. Aber ich, die Tele von Darsiran, bin eine echte Kurdin, und echte Kurden haben und zeigen ihren Mut mit hochgehaltenem Kopf und scheuen sich nicht.“ Sie blickte stolz in die Runde und sprach weiter. „Am Eingang des Palastes standen Wachsoldaten. Die wollten mich nicht in den Palast hineinlassen. Ich wollte schon laut losschreien, als plötzlich eine sehr hübsche Frau das Fenster des Palastes öffnete und hinausrief: ‚Was ist denn hier los?‘ Ich dachte, sie sei die Gattin des Schahs, weil sie wie Farah Diba auf Bildern in Schulbüchern aussah. Also rief ich: ‚Ich möchte den Schah sprechen. Ich bin die Vertreterin der Bauern Kurdistans.‘ Sie reagierte freundlich und lachte. ‚Lasst die Frau herein!‘, befahl sie den Wachsoldaten. Und ihr werdet nicht glauben, was ich gesehen habe. Der Palast ist ein riesengroßes Gebäude. Da sind die Häuser der Aghwat hier Spielzeug! Schon die Eingangshalle ist mit Seidenteppichen ausgelegt und an der Decke hängen Leuchter mit Glitzersteinen. Die Wände sind aus purem Gold. Da hängen große Bilder und auf dem Boden stehen riesige Vasen, die mit prächtigen Blumen gefüllt sind. Farah Diba trug ein langes weißes Kleid und kam aus ihrer Küche in die Halle geeilt. Sehr wahrscheinlich hatte sie gerade das Mittagessen für den Schah gekocht. Sie begrüßte mich, gab mir sogar ihre Hand, stellt euch das einmal vor. Ich entschuldigte mich: ‚Ich komme bestimmt zum falschen Zeitpunkt, aber wissen Sie, ich hatte keine andere Möglichkeit. Ich musste kommen, weil ich die Bauern von Kurdistan vertrete.‘ Ich brachte natürlich unsere Hochachtung vor dem Schah zum Ausdruck und versicherte, dass wir ihrem Mann sehr dankbar seien. Dann fasste ich den Mut, ihr zu sagen, dass die Aghwat und die Gendarmen in Kurdistan den Namen des Schahs in den Dreck ziehen. Farah Diba lächelte mir zu. So eine schöne Frau habe ich noch nie zuvor gesehen.“
Ich beobachtete Dade Tele in ihrem Redeschwall. Sie erzählte, erzählte und hörte nicht auf, die Märchengeschichte fortzuführen. Sie konnte doch nicht mit Messer und Gabel essen. Vor den Augen der Bauern und Bäuerinnen nahm sie immer wieder ein Stück Obst aus der Schüssel und wollte zeigen, dass sie nun anders war. Die Bauern und deren Frauen staunten mit offenem Mund über jede ihrer Bewegungen. Ich war mittlerweile in tiefe Gedanken versunken, weil ich den Unsinn, den sie erzählte, nicht mehr mit anhören konnte. Ihr Mann hatte recht gehabt, sie war verrückt geworden. Und tatsächlich dachte sie, wir würden ihr all diese Lügengeschichten glauben. Wie konnte sie für uns und für die Gerechtigkeit kämpfen, wenn alles erfunden war? Sie schien tatsächlich verrückt geworden zu sein. Warum waren wir nur hierher gefahren. Was hatte sich Jewad dabei gedacht?