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Jewad tippte mir auf die Schulter und holte mich aus meinen Gedanken.
Dann hörte ich wieder Dade Tele. Sie schwelgte noch immer in ihren Erzählungen. „Ich habe dem Schah in seinem Büro gesagt, er soll nun unseren Reis von Marivan kaufen, der zwar etwas kleiner ist, aber viel besser schmeckt.“
Oh, mein Gott, was erzählte sie da?
Jewad bemerkte, dass ich all den Unsinn nicht mehr aushielt. Er stand auf und sagte laut: „Wir sind spät in der Zeit. Leider müssen wir uns nun verabschieden.“
„Ja, wir müssen gehen“, fügte ich hinzu.
Dade Tele stand auf und fragte: „Warum geht ihr schon? Ich bin noch nicht am Ende meiner Rede.“
„Tut mir leid“, antwortete Jewad mit einem Ton des Bedauerns, „aber wir müssen leider aufbrechen. Vielen Dank für deine Erzählungen. Es war sehr gut, dass du so viel Mut bewiesen hast.“
Unterwegs stieß Jewad mich an. „Hussein, du warst ja fast eingeschlafen.“
„Ach, was sollte das Ganze. So viel Unsinn habe ich noch nie auf einmal gehört.“
„Es sind arme Bauern“, erklärte Jewad. „Die haben ihre Träume. Sie wissen es nicht besser. Sie träumen wie viele hier von einem besseren Leben. Ob arm oder reich, im Grunde hat jeder Mensch Träume. Ob du nun Analphabet bist oder studiert hast. Das gibt es keinen Unterschied. Die Bäuerin war doch noch nie in ihrem Leben in einer anderen Stadt. Dass sie nun in Teheran, der größten Stadt unseres Landes, war, ist für sie ein unglaubliches Ereignis. All das, was sie berichtet hat, sind ihre Träume. Sie hat sich ihre Geschichte zusammengebastelt, und alles, was sie über den Palast erzählt hat, weiß sie aus dem Radio. In ihrer Fantasie hat sie tatsächlich Farah Diba getroffen.“
„Aber sie ist doch verrückt. Wenn ich schon sehe, dass sie einen Apfel mit der Gabel aufspießt.“ Ich schüttelte mich. „Meine Träume sehen anders aus, Jewad. Die Bauern glauben wohl ihre Geschichte.“
Ich weiß, Hussein, aber das sind auch einfache Menschen, und wir müssen ihnen helfen.“
Ich zweifelte. „Denkt Dade Tele, wir sind blöde und glauben ihr diese Geschichte?“
„Ich weiß was du meinst, aber die sind halt so.“
„Ach Jewad, du kannst denen weiterhelfen, aber du wirst so nichts erreichen. Wie willst du mit denen gegen die Savak kämpfen und gegen dieses diktatorische Regime?“
„Weißt du, Hussein, diese Menschen müssen durch unsere Hilfe erst einmal selbst sehen, wo sie stehen. Sie wissen zwar, was Recht und Unrecht ist, aber sie haben nicht gelernt, sich zu wehren. Deswegen werden wir sie unterstützen und ihnen Mut machen. Die Bauern sind nicht blöde. Sie wissen schon, um was es geht, weil sie von Natur aus vorsichtig sind. Und wenn sie merken, dass sie gemeinsam stark sind, werden sie auch etwas verändern können.“
Ich überlegte. „Aber die Bauern blicken nicht über ihr Feld hinaus, sie haben doch nur darin Erfahrung, wie sie ihre Kühe auf dem Feld zu füttern oder ihre Ernte mit harter Arbeit einzuholen haben. Etwas anderes wollen sie gar nicht erkennen. Sie wissen nichts von Gerechtigkeit und Freiheit. Für was brauchen die Bauern Freiheit?“
„Oh, Hussein, du bist noch jung und unerfahren. Natürlich braucht jeder Mensch seine Freiheit, um über sein Leben zu bestimmen, auch die Bauern Kurdistans. Du hast heute erstmals Dade Tele gehört und gesehen, aber deine Meinung über sie und ihre Leute ist falsch.“
„Ich weiß, Jewad, aber das, was ich heute erlebt habe, zeigt mir nicht, wie sie wichtige Dinge für ein besseres Leben voranbringen können. Sie haben doch kein geistiges Wissen, waren nie auf der Schule.“
„Doch, doch“, sagte Jewad, „und gerade deshalb haben sie die Macht der Veränderung, nicht wir. Man muss das enthusiastisch sehen. Die Bauern arbeiten Tag und Nacht auf den Feldern und werden von der Aghwat ausgenommen. Aber sie sind in der Mehrzahl. Für diese Menschen kann man ein besseres Leben schaffen. Neben der Landwirtschaft haben wir noch keine Industrie, weil die Machthaber es für Kurdistan nicht erlauben. Das ist alles gewollt und gesteuert. Aber, Hussein, denk nicht so negativ. Es gibt genug Beweise in der Welt, wie Revolutionen die Welt verändert haben. Das nächste Mal bringe ich dir ein Buch über Mao und die Revolution in China mit. Wenn du das gelesen hast, wirst du sehen, dass die Bauern ihre Macht haben werden.“
Einige Tage später, nachdem wir Dade Tele im Dorf besucht hatten, ging ich ins Kaffeehaus. Die anderen Besucher lasen Zeitung. Irgendetwas kam mir merkwürdig vor. Ja, hier waren viel mehr Menschen als an sonstigen Tagen. Lehrer, Studenten … aber keine Spur von Savak-Leuten. Etwas muss geschehen sein, dachte ich. Sonst wurde hier doch nicht so laut gesprochen. Etwas Wichtiges musste passiert sein. Langsam ging ich von Tisch zu Tisch, wollte wissen, was es Neues in der Zeitung gab. Kein Mensch beachtete mich, bis ich Jewad sah, der sich, von vielen Leuten umkreist, über eine Zeitung beugte.
Ich fragte: „Jewad, Jewad, was ist passiert? Was steht da geschrieben?“
Er lachte und drückte mir eine Zeitung in die Hand. „Da, lies selbst. Es ist nur Gutes, Gutes. Wenn du das gelesen hast, wirst du verstehen, dass die Bauern auch bei uns ihre Macht haben werden.“
Ich ging mit der Zeitung in eine freie Ecke des Kaffeehauses und begann zu lesen:
Anti-Schah-Demonstrationen in Tabriz und Schiraz:
In der Ark-Moschee von Teheran wurde bei der Trauerrede zu Ehren seines Sohnes, Khomeini …
In der letzten Woche schlossen die meisten Geschäfte des Teheraner Basars ihre Geschäfte und begaben sich in einen Streik …
Die Sicherheitsbeamten fanden in Teheraner Wohnviertel mehrere bewaffnete Terrorgruppen. Diese wollten Polizeistationen angreifen und Banken überfallen …
Kak Foad im Hungerstreik
Während unseres Abendessens sagte mein Vater zu mir: „Komm morgen Vormittag in mein Geschäft.“
Ich entgegnete: „Warum soll ich kommen?“
Er war schlecht gelaunt. „Das ist egal. Wenn ich das sage, hast du zu kommen. Bevor du auf der Straße herumhängst, kannst du lieber etwas Sinnvolles tun und mir helfen. Außerdem ist morgen Freitag und du hast keine Schule.“
Meine Mutter unterbrach meinen Vater: „Warum kannst du das nicht in einem normalen Ton sagen? Weshalb bist du so schlecht gelaunt?“
„Du und deine Söhne!“, stöhnte er. „Ich brauche eben Hilfe. Ich erwarte neue Ware aus Teheran und außerdem gehe ich zum Freitagsgebet in die Moschee, wie ich das jeden Freitag tue.“
Um die schlechte Laune meines Vaters zu dämpfen, sagte ich: „Ja, ja, mein lieber Vater, ich komme morgen.“ Ich zwinkerte meiner Mutter zu, die heimlich zurücklächelte. Mein Vater setzte eine grimmige Miene auf.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück lief ich zum Geschäft meines Vaters auf dem Basar. Trotz des Sonnenscheins war es kalt. Der kühle Wind kam von Darsiran. Der Basar war voller Menschen, wie jeden Freitag, weil es der einzige freie Tag war und alle Ämter und Schulen geschlossen hatten. Die Beamten genossen die freie Zeit, um ihre Einkäufe meist für die ganze Woche zu erledigen. Es war ein Markttreiben in bunten Farben. Die Gemüsehändler schrien und präsentierten ihr frisch geerntetes Obst und Gemüse. Alte Bäuerinnen verkauften am Rande des Basars ihren selbstgemachten Joghurt und andere Köstlichkeiten wie Marmelade und selbstgebackene Kuchen. Die kleine Welt in Marivan war in vollem Gang. Das Stimmengewirr war laut und hatte seinen eigenen Charme.
Von Weitem sah ich, dass Arbeiter mit Schubkarren die Ware von dem Terminal der Busstation zum Geschäft meines Vaters brachten. Ich beeilte mich und fand meinen Vater schwitzend bei der Arbeit. Er sah mich und sagte: „Ach, bist du auch schon da! Das wird aber Zeit. Du siehst, was hier los ist.“ Er gab mir ein Messer zum Öffnen der vielen Kartons und fuhr fort: „Stelle alles ordentlich in die Regale.“
Während ich vor dem Laden die Ware auspackte, sah ich plötzlich Jewad auf seinem Motorrad. Hinter ihm saß jemand. Ich ließ alles stehen und liegen und rannte hinter ihm her. Laut rief ich: „Jewad, Jewad, bleib stehen!“
Er reagierte sofort und stoppte das Motorrad.
„Hallo Jewad, wo steckst du nur, ich habe dich tagelang nicht gesehen. Du hattest mir doch versprochen, mir ein Buch zu geben.“
Wie immer lächelte er. „Erst einmal einen guten Tag, wie geht es dir, Hussein? Darf ich dir einen Freund vorstellen. Das ist Abe Kaweh, der Bruder von Kak Foad.“
Ich antwortete mit einem freundlichen Gruß und sagte: „Ah ja, ich kenne Herrn Soltani. Ich helfe übrigens heute meinem Vater.“
„Bist du allein im Laden?“
„Nein, aber später geht mein Vater zum Gebet in die Moschee, dann werde ich hier allein sein.“
Jewad nickte: „Gut, wir müssen jetzt erst einmal ins Stadtzentrum fahren und kommen nachher zu dir, während dein Vater in der Moschee ist. Es gibt sehr viele Neuigkeiten, die ich dir erzählen will.“
Schnell ging ich in den Laden zurück und tat so, als hätte ich unbeobachtet gearbeitet. Mein Vater sagte nichts, doch sein Blick fragte, mit wem ich die wenigen Minuten gesprochen hatte. Na ja, Hauptsache, er war nicht böse mit mir. Ich gab mein Bestes. Ich hoffte, nach der Arbeit ein kleines Taschengeld zu bekommen, aber ich wusste, wie geizig mein Vater war. Im Grunde war das auch egal. Vielmehr war ich gespannt auf die Neuigkeiten, von denen Jewad gesprochen hatte. Bestimmt hatte es etwas mit Kak Foad zu tun. Ob er Kak Kaweh, der auf dem Motorrad mitgefahren war, mit in den Laden bringen würde? Abe Kaweh war Lehrer, ich hatte ihn aber nie bei den Gruppen im Kaffeehaus oder in Kak Jamschids Bücherei gesehen. Wenn ich mir alles zusammenreimte, mussten die Neuigkeiten mit Kak Foad zu tun haben. Seit dem Stromausfall und dem Streit mit dem Bürgermeister hatte man Kak Foad nicht mehr in unserer Stadt gesehen. Die Bevölkerung hatte viele Theorien, wo Kak Foad sein könnte. Die einen dachten, er sei als Leiter der Stromgesellschaft in eine andere Stadt versetzt worden, die anderen waren der Meinung, dass er von der Savak festgenommen worden sei. Hoffentlich war nichts Schlimmes mit Kak Foad passiert. Die Menschen redeten und quatschten und am Ende stimmte es nicht, wie so oft. Ich musste abwarten, was Abe Kaweh und Jewad mir sagen würden. Mein Vater hatte vor Kurzem von einem sehr wichtigen Thema für unsere Stadt gesprochen, aber ich hatte nicht genau verstanden, was er damit meinte. Hoffentlich würden die zwei Stunden schnell vergehen, bis mein Vater sich auf den Weg zur Moschee machte.
Endlich war es so weit. Aus dem großen Lautsprecher hörte ich Allah und Akbar. Man rief alle Gläubigen zum Freitagsgebet. Eilig sagte mein Vater: „Du passt hier im Laden auf, bis ich zurück bin. Wenn Kunden kommen und größere Bestellungen haben, schreibst du das alles unter dem Tagesdatum in das Buch hinter der Kasse. Das Buch ist sehr wichtig – auch für die Finanzbehörde. Schreibe alle Bestellungen auf und die kleineren Aufträge kannst du den Kunden gegen Barzahlung geben. Wenn jemand kommt, der hier anschreiben lässt, sagst du höflich: ‚Mein Vater ist bald zurück.‘ Verärgere diese Kunden nicht, denn sie haben oft kein Geld und zahlen erst nach einer Woche. Man muss auch diesen Menschen helfen, denn sie leben in einer anderen Welt. Die sind das so gewohnt. Manchmal ist es für sie auch eine gewisse Wertschätzung, wenn man sie anschreiben lässt.
„Ja, Vater, ich habe alles verstanden und passe auf den Laden auf.“
Mein Vater merkte, dass ich, statt ihn anzusehen, dauernd zum Ladenfenster herausschaute. „Hussein, wo bist du mit deinen Gedanken? Was schaust du ständig auf die Straße, wartest du auf jemanden?“
„Nein, nein, mein lieber Vater, gehe nun endlich zu deinem Freitagsgebet. Du kannst dich auf mich verlassen.“
Im selben Moment, als mein Vater den Laden verließ, kamen Jewad und Abe Kaweh mit dem Motorrad um die Ecke gefahren. Glück gehabt, dachte ich.
Jewad fing gleich an zu erzählen: „Wir waren gerade bei Freunden. Mit ihrer Hilfe und mit der ihrer Familien werden wir für die Gefangenen demonstrieren, damit alle Inhaftierten ihre Ziele erreichen und ihren Hungerstreik beenden. Ihr Leben und ihre Gesundheit sind in Gefahr. Manche sind schon vollkommen abgemagert. Das können wir nicht zulassen, sonst sterben sie alle. Besonders auch Kak Foad. Er ist Gefangener im Gefängnis in Sene und befindet sich im Hungerstreik.“
Wie ein Blitz schoss diese Nachricht durch mein Gehirn. „Warte mal, Jewad“, sagte ich. „Was sagst du da? Kak Foad ist im Gefängnis in Sene? Niemand hat das in unserer Stadt gewusst. Es gab verschiedene Geschichten, die erzählt wurden, aber das, was du sagst, ist wohl die Wahrheit.“
Jewad und Abe Kaweh lächelten mir zu und Jewad sagte: „Ja, so ist es. Er war vier Jahre in Teheran und wird seitdem in Sene gefangen gehalten. Aber wir wissen das auch erst seit zwei Wochen und seitdem bin ich sehr mit dieser Sache beschäftigt. Ich war nun schon einige Male in Sene.“
„Und wir dachten, er sei wegen des Streits mit dem Bürgermeister nach dem Stromausfall versetzt worden.“
Abe Kaweh ergriff das Wort: „Nein, nein, deswegen wurde er nicht festgenommen. Er war zu der Zeit Lehrer an der Technischen Universität in Sene. Dort nahm ihn die Savak fest.“
„Aber er war doch Leiter der Stromgesellschaft und Ingenieur bei uns in Marivan!?“ Ich verstand das Ganze nicht.
„Ja“, sagten beide gleichzeitig und Abe Kaweh sprach weiter: „Nach seinem Studium und Wehrdienst arbeitete er als Lehrer an der Universität und unterrichtete.“
„Aber warum ist er trotz des langen Studiums Lehrer geworden? Ein Ingenieur zu sein, ist doch viel besser als ein einfacher Lehrer.“
Abe Kaweh lachte. „Du hast recht, Hussein, wir wissen es auch nicht. Seine gesamte Familie fand es ungewöhnlich, aber es war nun mal seine Entscheidung, Lehrer zu werden und zu sein.“
Die beiden wollten wieder aufbrechen, aber ich hielt sie zurück: „Wartet! Ich will euch noch etwas fragen. Ich möchte gern morgen mit euch kommen, ich helfe euch und komme mit nach Sene.“
Jewad protestierte: „Nein, nein, morgen geht das nicht; vielleicht ein anderes Mal. Morgen ist Samstag und du musst zur Schule gehen. Spätestens übermorgen sind wir wieder hier und ich erzähle dir dann alles.“
„In Ordnung, Jewad, also wo treffen wir uns übermorgen?“ Ich wollte ihn nicht ohne Verabredung gehen lassen.
„Nun ja, komm ins Kaffeehaus, dort werden wir uns sehen.“
Kurz darauf waren die beiden mit dem Motorrad außer Sichtweite. Wenige Minuten später kam auch schon mein Vater aus der Moschee zurück und wollte wissen, ob Kunden da gewesen seien.
„Nein, Vater, in dieser Zeit ist niemand gekommen“, antwortete ich etwas verlegen. „Vielleicht waren deine Kunden ja auch alle in der Moschee.“
Er gab mir zwei Toman und sagte: „Du kannst jetzt nach Hause gehen. Ich brauche dich hier nicht mehr.“
Mein Vater war heute sehr großzügig, aber mit zwei Toman konnte man nicht die Welt erobern. Ich schlenderte nach Hause und wusste, dass der Betrag nicht ausreichte, um nach Sene fahren. Ach, dachte ich, ich kaufe mir ein Eis bei Isse Genat, der kleinen Konditorei mit dem leckersten Eis in der ganzen Stadt. Ich zahlte fünfzig Rial und würde den Rest sparen. Es war das Beste, das Geld zu verstecken, damit es mein Bruder Nasser mir nicht wegnahm.
Mein Eis schmeckte wunderbar, aber ich machte mir Gedanken wegen des Hungerstreiks. Es war mir unvorstellbar, dass man mehrere Wochen nichts aß und trank. Kak Foads makelloses Gesicht kam mir in den Sinn. Ich erinnerte mich an die Zeit. als er im Nachbarhaus von Rahimi gewohnt hatte. Meine Mutter sprach oft mit unserer Nachbarin über Foad. Sie erzählten nur Gutes über ihn. Er sei immer höflich und zuvorkommend, hieß es. Manche Mütter aus armen Familien waren neidisch auf Foads Mutter. Dade Fathe, die gegenüber von uns wohnte, sagte oft: „Nicht nur reiche Familien können ihre Kinder gut erziehen. Aber wie sollten wir als arme Familie ein Studium bezahlen? Wir sind nicht so reich wie die Soltani-Familie. Unser Kind muss arbeiten und Geld verdienen.“ Sie war aber auch der Meinung, dass Intelligenz nichts mir Arm oder Reich zu tun hatte. Es gab Kinder von stinkreichen Familien, die nicht einmal einen Schulabschluss hatten und von Haus aus dumm oder faul waren. Kak Foad war anders, auch wenn er aus einer reichen Familie kam. Man sah es ihm nicht an und er benahm sich wie einer von uns. Aber wenn er doch gelernter Ingenieur war, warum war er dann Lehrer geworden? Warum wurden alle guten Menschen in unserer Stadt Lehrer? Hatte das etwas mit der Hintergrundorganisation zu tun? Kak Foad mischte sich unter die Studenten und Schüler, redete mit ihnen und baute seine Organisation auf, falls es diese überhaupt gab. Im Grunde war es nur ein Gerücht. Man hörte, er sei politisch aktiv, aber niemand wusste Genaueres. Ich wollte so gern mehr erfahren und nach Sene fahren. Aber wie sollte das gehen ohne das nötige Geld?
Am Abend versuchte mein Vater die Nachrichten im Radio zu hören, doch es kam nur ein Rauschen aus dem Lautsprecher. Scheinbar fand er nicht die richtige Frequenz. Meine Mutter hielt sich die Ohren zu, bäumte sich vor meinem Vater auf und sagte: „Was soll das? Das ist ja unerträglich. Hör auf mit dem blöden Kasten und setz dich lieber vor den Fernseher. Wenn du die Nachrichten hören willst, kannst du das auch im Fernsehen tun und musst hier nicht so einen Krach mit dem blöden Radio machen.“
Mein Vater antwortete ihr: „Ach, was sagst du da! Im Fernsehen senden sie doch nur Propagandaberichte des Regimes. Es gibt dort keine Wahrheit. Die gibt es nur bei BBC oder anderen Sendern aus dem Ausland. Das Regime stellt Parasiten-Sender auf die ausländischen Sender ein, sodass man nichts Konkretes hören kann. Daher kommen diese unerträglichen Geräusche.“
Ich setzte mich in die Nähe meines Vaters auf das Sofa, um nichts von dem zu verpassen, was der BBC berichtete. Bis mein Vater die richtige Frequenz gefunden hatte, dauerte es eine halbe Stunde. Dann hörten wir einen Bericht über die Gefängnisse in Teheran, das Gassergefängnis und viele andere Orte. Es wurde berichtet, dass dort viele Gefangene auf übelste Weise gefoltert und dass Menschenrechte missbraucht wurden. Von Sene berichtete man nichts im BBC-Radio. In diesem Moment wollte ich meinem Vater sagen, dass im Gefängnis in Sene (Sanandaj) ebenfalls gefoltert wurde und dass die Gefangenen, unter anderem Foad, dort im Hungerstreik seien. Dann hielt ich mich aber zurück und sagte mir: Hussein, halte besser deinen Mund, sonst kommen Fragen über Fragen! Mein Vater würde es schon irgendwann von anderen hören.
An meine Mutter gewandt sagte er: „Ich denke, langsam kommen die Unruhen auch in unsere Region. Nicht umsonst sieht man den Schah und seine Frau nicht im Fernsehen. Von der BBC konnte ich hören, dass bald ausländische Menschenrechtler in unser Land kommen, um die Lage zu prüfen. Und sie wollen die Gefängnisse auf die Einhaltung der Menschenrechte untersuchen.“
„Ach, die finden immer Schuldige“, meldete sich meine Mutter zu Wort. „Woher sollen sie auch wissen, dass die Savak und die Gendarmen die jungen Studenten inhaftieren und foltern! Denk an den armen Hajeje, dem man die Finger- und Fußnägel ausgerissen hat, nur weil er Analphabet ist und sich nicht verteidigen konnte. Warum braucht der Schah so viele Geheimdienste? Wenn sie Schuldige finden wollen, finden sie welche und hängen sie kurzerhand auf. Die kleinen Beamten nehmen sie als Alibi und haben keine Skrupel. Menschenleben sind dem Regime doch egal. Damit beruhigen sie die Bevölkerung und es geht alles weiter wie bisher.
Die Suppe ist die gleiche Suppe, die vorher gekocht wurde, die Teller sind die gleichen Teller, die man zuvor benutzte, man hat sie nur gewaschen.
„Nein, Mele, du hast es noch nicht ganz verstanden. Es kommen Menschenrechtler aus dem Ausland, um hier alle Ungerechtigkeiten zu prüfen. Wenn das Ausland all diese Folter in Gefängnissen feststellt, wird das Land vom Westen nicht mehr unterstützt. Das musst du verstehen. Darum geht es. Bedenke, dass der Schah nur durch die Amerikaner und Europäer stark ist, sonst hätte er selbst keine Macht. Die schreiben ihm vor, was er zu tun und zu lassen hat. Wenn er die Solidarität der Amerikaner verliert, verliert er seine Macht und sein Regime und ist nur noch ein kleines Sandkorn in der Wüste.“
„Ach, bist du denn blind?“, konterte meine Mutter. „Die machen, was sie wollen, auch für das Ausland. Denkst du, die könnten nichts von dem vertuschen, was hier in den Gefängnissen täglich passiert? Was glaubst du, warum der Schah und seine Frau dauernd im Fernsehen zu sehen sind. Man sieht von ihnen nur gute Taten, die lassen Kurzberichte filmen, zeigen sich von der besten Seite, gehen ins Kinderhospital und putzen den Kindern die Nase, nur um von der Realität abzulenken. Wenn die Menschenrechtler aus dem Ausland kommen, gibt es doch nur offizielle Termine. Sie werden alles so vorbereiten, als wäre nichts Unrechtes in unserem Land geschehen. Die sind mit allen Wassern gewaschen und verschleiern, wo sie nur können. Ich sage dir, die werden einfach Savakleute und Beamte im Gefängnis vorführen. Die sehen schließlich gut genährt aus. Die wirklichen Insassen bekommt niemand nicht zu Gesicht. Die vom Ausland machen ein paar Fotos und gehen wieder nach Hause. So wird es sein. Es ist alles nur eine Verschleierungstaktik und die Ausländer schreiben dann in ihrem Bericht, dass der Iran die humansten Gefängnisse der Welt hat.“
Ich konnte der Diskussion meiner Eltern nicht länger zuhören, doch es war die Wahrheit. Ich wollte morgen nicht verschlafen sein und ging ins Bett. Und selbst da hörte ich noch die laute Diskussion meiner Eltern, bis ich endlich einschlief.
In den frühen Morgenstunden wachte ich mit verschlafenen Augen auf. Mein Hirn hatte noch Sequenzen des Traumes in der Erinnerung, wie es oft bei Träumen war. Das Unterbewusstsein arbeitete wohl die ganze Nacht. In meinem Traum hatte ich alle unschuldigen Gefangenen, die nur wegen ihrer politischen Meinung im Gefängnis waren, befreit. Alle meine Kameraden aus meiner Klasse hatten mir geholfen, indem wir Seile, an denen kleine Sägen befestigt waren, in die Fenster der Gefangenen warfen. Wir hatten Lastwagen organisiert, die vor den Gefängnismauern warteten, bis die Gefangenen in dem Moment über die Mauern kletterten, als das Licht des Turmes sie in der Dunkelheit nicht bemerkte. Ich hatte Kak Foad befreit, jedoch hatte er fast keine Kraft mehr gehabt, um über die Mauer zu klettern. Ich war eine Leiter hochgestiegen, um ihm zu helfen – und es klappte. Wir waren davongefahren und alle hatten mir applaudiert: „Hussein, du bist ein Held!“ Das war mein wunderbarer Traum der Befreiung gewesen, leider nur ein Traum!
Am nächsten Tag war mein Kopf voller Gedanken und ich wollte nun endlich wissen, was gerade in Sene passierte. Was war aus dem Hungerstreik der Gefangenen geworden und was war mit Kak Foad?
Nach der Schule lief ich direkt ins Kaffeehaus. Hier saßen Rentner, die Backgammon spielten, und ich konnte kein bekanntes Gesicht entdecken. Stinklangweilig kam es mir vor. Von meinem Taschengeld bestellte ich mir eine kleine Tasse Tee und wartete ab, ob jemand Bekanntes vorbeikam. Nach einer kleinen Weile trat ein schwitzender Junge durch die Tür und ging direkt zu Abe Balkis, der den Jungen fragte: „Was ist mit dir passiert, Junge, du bist ja ganz außer Atem.“
„Nein, ja, ja“, sprudelte er heraus. „Ich bin gerannt, ich hatte Glück. Ich komme gerade von Sene zurück, vielleicht haben sie mich wegen meiner Hose in Ruhe gelassen. Ich trage doch nur ganz normale Jeans. Jedenfalls haben sie am Bus-Terminal in Sene auf den Weg nach Marivan alle festgenommen. Jeder, der kurdische Kleidung trug, wurde einfach abgeführt und mit Polizeiautos weggebracht. Ich hatte verdammt großes Glück wegen der Jeans. Na ja, ich habe gelogen und denen gesagt, ich komme nicht aus Marivan. Und sie haben mir geglaubt.“
„Aha“, lachte Abe. „Dann haben deine Klamotten deinen Arsch vor der Savak gerettet. Aber erzähl: Warum ist jemand verdächtig, der aus Marivan kommt, und wird festgenommen?“
Ich gesellte mich zu Abe Balkis und dem Jungen, um ihnen zuzuhören.
Noch aufgeregt, trank der Junge zwei Schlucke von seinem Tee, den Abe Balkis im inzwischen serviert hatte, und begann zu erzählen: „Weißt du, Abe, ich kam aus dem Haus unserer Verwandten in der Agball Straße. Plötzlich sah ich viele Jugendliche aus Marivan und Sene, die dort demonstrierten.“ Manche von ihnen kannte ich. Sie waren laut und hatten Plakate. Sie warfen Steine, als die Polizei sie angriff. Sie schlugen auch Scheiben der Bank Milli und der Bank Sepah kaputt. Ein alter Lebensmittelladen-Besitzer schimpfte: ‚Die Marivaner sind unmöglich, sie können doch in ihrer eigenen Stadt demonstrieren, statt es hier zu tun!‘ Aber der alte Mann irrte. Die auffälligen jungen Leute waren aus Sene, nicht aus unserer Stadt. Diese Demonstranten trugen kurdische Kleidung, daher lag der Verdacht nahe, dass sie alle aus Marivan waren. Sene ist doch heute schon viel moderner. Dort tragen sie eher Jeans und westlich angehauchte Kleidung, ja eben moderner.“