Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Nun war sie wieder gerührt. Ottochen war also auch in ihm, er hatte ein festes Bild von dem Jungen. Jetzt war sie neugierig, wie dieser Kopf aussehen würde, wenn er erst fertig war. »Sicher bringst du es fertig, Otto!«, sagte sie.
»Na!«, sagte er nur, aber es klang nicht einmal so zweifelnd wie zustimmend.
Damit war die Unterhaltung zwischen den beiden erst einmal beendet. Anna musste in die Küche zurück zu ihrem Mittagessen, und sie ließ ihn da am Tisch, wie er langsam diesen Klotz Lindenholz zwischen seinen Fingern drehte und mit einer stillen, behutsamen Geduld Spänchen auf Spänchen von ihm abnahm.
Sie war dann aber doch sehr überrascht, als sie kurz vor dem Mittagessen zurückkam, um den Tisch zu decken, diesen Tisch schon aufgeräumt und mit seiner Decke geschmückt zu finden. Quangel stand am Fenster und sah in die Jablonskistraße hinunter, wo die spielenden Kinder lärmten.
»Na, Otto?«, fragte sie. »Schon fertig mit der Schnitzerei?«
»Für heute ist Feierabend«, antwortete er, und im selben Augenblick wusste sie, dass diese Unterredung nun doch ganz nahe bevorstand, dass Otto doch etwas vorhatte, dieser unbegreiflich beharrliche Mann, den nichts dazu bringen konnte, etwas übereilt zu tun, der stets auf die richtige Stunde warten konnte.
Das Mittagessen verzehrten sie schweigend. Dann ging sie wieder in die Küche, um dort Ordnung zu schaffen, und sie verließ ihn, in seiner Sofaecke hockend, starr vor sich hin sehend.
Als sie, eine halbe Stunde später, wieder zurückkam, saß er noch immer so da. Aber jetzt wollte sie nicht noch länger warten, bis er sich endlich entschloss; seine Geduld, die eigene Ungeduld machten sie zu unruhig. Womöglich saß er um vier noch so da, und nach dem Abendessen auch noch! Sie konnte nicht mehr länger warten!
»Nun, Otto«, fragte sie. »Was gibt’s? Ist heute kein Nachmittagsschlaf wie alle Sonntage?«
»Heute ist nicht alle Sonntage. Mit ›alle Sonntage‹ ist es endgültig vorbei.« Er stand plötzlich auf und ging aus der Stube.
Aber heute war sie nicht gesonnen, ihn einfach wieder fortlaufen zu lassen, auf einen seiner geheimnisvollen Gänge, von denen sie doch nie etwas erfuhr. Sie lief ihm nach. »Nein, Otto …«, fing sie an.
Er stand an der Etagentür, deren Kette er eben vorgelegt hatte. Er hatte die Hand erhoben, um Stille zu gebieten, und lauschte in das Haus hinaus. Dann nickte er und ging an ihr vorbei wieder in die Stube. Als sie zu ihm kam, hatte er seinen Sofaplatz wieder eingenommen, sie setzte sich zu ihm.
»Wenn’s klingelt, Anna«, sagte er, »machst du nicht eher auf, als bis ich …«
»Wer soll denn klingeln, Otto?«, fragte sie ungeduldig. »Wer soll denn zu uns kommen? Nun sage schon, was du sagen willst!«
»Ich werd’s schon sagen, Anna«, antwortete er mit ungewohnter Milde. »Aber wenn du mich drängelst, machst du es mir nur noch schwerer.«
Sie berührte schnell seine Hand, die Hand dieses Mannes, dem jede Mitteilung dessen, was in seinem Innern vorging, immer wieder schwerfiel. »Ich werde dich schon nicht drängeln, Otto«, sagte sie beruhigend. »Lass dir Zeit!«
Aber gleich darauf begann er zu sprechen, und nun sprach er fast fünf Minuten hintereinander, in langsamen, kurz abgerissenen, sehr überlegten Sätzen, hinter deren jedem er erst einmal fest den schmallippigen Mund schloss, als komme nun bestimmt nichts mehr. Und während er so sprach, hatte er den Blick auf etwas gerichtet, was seitlich hinter Anna in der Stube war.
Anna Quangel aber hielt die Augen während seines Sprechens fest auf sein Gesicht gewendet, und sie war ihm fast dankbar, dass er sie nicht ansah, so schwer wurde es ihr, die Enttäuschung, die sich immer stärker ihrer bemächtigte, zu verbergen. Mein Gott, was hatte sich dieser Mann da ausgedacht! Sie hatte an große Taten gedacht (und sich eigentlich auch vor ihnen gefürchtet), an ein Attentat auf den Führer, zum mindesten aber an einen tätigen Kampf gegen die Bonzen und die Partei.
Und was wollte er tun? Gar nichts, etwas lächerlich Kleines, so etwas, das so ganz in seiner Art lag, etwas Stilles, Abseitiges, das ihm seine Ruhe bewahrte. Karten wollte er schreiben, Postkarten mit Aufrufen gegen den Führer und die Partei, gegen den Krieg, zur Aufklärung seiner Mitmenschen, das war alles. Und diese Karten wollte er nun nicht etwa an bestimmte Menschen senden oder als Plakate an die Wände kleben, nein, er wollte sie nur auf den Treppen sehr begangener Häuser niederlegen, sie dort ihrem Schicksal überlassen, ganz unbestimmt, wer sie aufnahm, ob sie nicht gleich zertreten wurden, zerrissen … Alles in ihr empörte sich gegen diesen gefahrlosen Krieg aus dem Dunkeln. Sie wollte tätig sein, es musste etwas getan werden, von dem man eine Wirkung sah!
Quangel aber, nachdem er zu Ende geredet hatte, schien gar keine Erwiderung von seiner Frau zu erwarten, die da still mit sich kämpfend in ihrer Sofaecke saß. Sollte sie ihm nicht doch lieber etwas sagen?
Er war aufgestanden und wieder zum Lauschen an die Flurtür gegangen. Als er zurückkam, nahm er nur die Decke vom Tisch, faltete sie zusammen und hängte sie sorgfältig über die Stuhllehne. Dann ging er an den alten Mahagonisekretär, suchte das Schlüsselbund aus seiner Tasche hervor und schloss auf.
Während er noch im Schranke kramte, entschloss sich Anna. Zögernd sagte sie: »Ist das nicht ein bisschen wenig, was du da tun willst, Otto?«
Er hielt inne in seiner Kramerei, noch gebückt dort stehend, drehte er den Kopf seiner Frau zu. »Ob wenig oder viel, Anna«, sagte er, »wenn sie uns darauf kommen, wird es uns unsern Kopf kosten …«
Es lag etwas so schrecklich Überzeugendes in diesen Worten, in dem dunklen, unergründlichen Vogelblick, mit dem der Mann sie in dieser Minute ansah, dass sie zusammenschauderte. Und einen Augenblick sah sie deutlich vor sich den grauen, steinernen Gefängnishof, das Fallbeil aufgerichtet, in dem grauen Frühlicht hatte sein Stahl nichts Glänzendes, es war wie eine stumme Drohung.
Anna Quangel spürte, dass sie zitterte. Dann sah sie rasch wieder zu Otto hinüber. Er hatte vielleicht recht, ob wenig oder viel, niemand konnte mehr als sein Leben wagen. Jeder nach seinen Kräften und Anlagen – die Hauptsache: man widerstand.
Noch immer sah Quangel sie stumm an, als beobachte er den Kampf, den sie in sich kämpfte. Nun wurde sein Blick heller, er nahm die Hände aus dem Sekretär, richtete sich auf und sagte fast lächelnd: »Aber so leicht sollen die uns nicht kriegen! Wenn die schlau sind, wir können auch schlau sein. Schlau und vorsichtig. Vorsichtig, Anna, immer auf der Hut – je länger wir kämpfen, umso länger werden wir wirken. Es nützt nichts, zu früh zu sterben. Wir wollen leben, es noch erleben, dass die fallen. Wir wollen dann sagen können, wir sind auch dabei gewesen, Anna!«
Er hatte diese Worte leicht, fast scherzend gesprochen. Nun, während er wieder kramte, lehnte sich Anna erleichtert in das Sofa zurück. Eine Last war ihr abgenommen, jetzt war sie auch davon überzeugt, dass Otto etwas Großes vorhatte.
Er trug sein Fläschchen Tinte, seine in einem Umschlag befindlichen Postkarten, die weißen, riesigen Handschuhe an den Tisch. Er zog den Pfropfen aus der Flasche, glühte mit einem Streichholz die Feder aus und steckte sie in die Tinte. Es zischte leise, er besah aufmerksam die Feder und nickte dann. Nun zog er umständlich die Handschuhe an, nahm eine Karte aus dem Umschlag, legte sie vor sich hin. Er nickte Anna langsam zu. Sie hatte jeden dieser behutsamen, lange vorbereiteten Griffe mit aufmerksamem Auge verfolgt. Nun deutete er auf die Handschuhe und sagte: »Wegen Fingerabdrücken – du verstehst!«
Dann nahm er die Feder zur Hand und sagte leise, aber mit Nachdruck: »Der erste Satz unserer ersten Karte wird lauten: ›Mutter! Der Führer hat mir meinen Sohn ermordet‹ …«
Und wieder erschauerte sie. Es lag etwas so Unheilvolles, so Düsteres, so Entschlossenes in diesen Worten, die Otto eben gesprochen hatte. Sie begriff in einem Augenblick, dass er mit diesem ersten Satz für heute und ewig den Krieg angesagt hatte, und sie erfasste auch dunkel, was das hieß: Krieg zwischen ihnen beiden, den armen, kleinen, bedeutungslosen Arbeitern, die wegen eines Wortes für immer ausgelöscht werden konnten, und auf der anderen Seite der Führer, die Partei, dieser ganze ungeheure Apparat mit all seiner Macht und seinem Glanz und drei Viertel, ja vier Fünftel des ganzen deutschen Volkes dahinter. Und sie beide hier in diesem kleinen Zimmer in der Jablonskistraße allein!
Sie sieht zu dem Manne hinüber. Während sie dies alles gedacht hat, ist er erst beim dritten Wort des ersten Satzes angekommen. Unendlich geduldig malt er das »F« von Führer hin. »Lass mich doch schreiben, Otto!«, bittet sie. »Bei mir geht das viel schneller!«
Erst knurrt er wieder nur. Aber dann gibt er ihr doch eine Erklärung. »Deine Handschrift«, sagt er. »Sie würden uns früher oder später durch deine Handschrift erwischen. Dies ist eine Kunstschrift, Blockschrift – du siehst, eine Art Druckbuchstaben …«
Er verstummt wieder, malt weiter. Ja, so hat er es sich ausgedacht. Er glaubt nicht, dass er was vergessen hat. Diese Kunstschrift kannte er von den Möbelzeichnungen der Innenarchitekten her, niemand kann einer solchen Schrift ansehen, von wem sie stammt. Natürlich fällt sie bei Otto Quangels schreibungewohnten Händen sehr grob und klobig aus. Aber das schadet nichts, das verrät ihn nicht. Es ist eher gut, so bekommt die Karte etwas Plakatartiges, das sofort das Auge auf sich zieht. Er malt geduldig weiter.
Und sie ist auch geduldig geworden. Sie fängt an, sich dareinzudenken, dass dies ein langer Krieg wird. Es ist jetzt Ruhe in ihr, Otto hat alles bedacht, auf Otto ist Verlass, immer und immer. Wie er alles überlegt hat! Die erste Karte in diesem Kriege, sie hat im gefallenen Sohne ihren Ursprung, sie spricht von ihm. Einmal hatten sie einen Sohn, der Führer hat ihn ermordet, jetzt schreiben sie Karten. Ein neuer Lebensabschnitt. Äußerlich hat sich nichts geändert. Ruhe um die Quangels. Innerlich ist alles ganz anders geworden, da ist Krieg …
Sie holt sich ihren Stopfkorb und fängt an, Strümpfe zu stopfen. Ab und zu sieht sie zu Otto hinüber, der langsam, ohne je das Tempo zu beschleunigen, seine Buchstaben malt. Fast nach jedem Buchstaben hält er die Karte in Armeslänge vor sich und betrachtet sie mit eingekniffenen Augen. Dann nickt er.
Schließlich zeigt er ihr diesen ersten fertigen Satz. Er nimmt anderthalb sehr große Zeilen der Karte ein.
Sie sagt: »Du wirst nicht viel heraufbekommen auf so eine Karte!«
Er antwortet: »Ganz egal! Ich werde noch viele solche Karten schreiben!«
»Und solche Karte dauert lange.«
»Ich werde eine, später vielleicht zwei Karten an einem Sonntag schreiben. Der Krieg ist noch nicht zu Ende, das Morden geht immer weiter.«
Er ist nicht zu erschüttern. Er hat einen Entschluss gefasst, und er wird nach diesem Entschluss handeln. Nichts kann ihn umstoßen, niemand wird Otto Quangel auf seinem Wege Halt gebieten.
Er sagt: »Der zweite Satz: ›Mutter! Der Führer wird auch deine Söhne ermorden, er wird noch nicht aufhören, wenn er Trauer in jedes Haus auf der Welt gebracht hat‹ …«
Sie wiederholt: »Mutter, der Führer wird auch deine Söhne ermorden!«
Sie denkt an die Vorstandsdame in der Frauenschaft, an die Weißhaarige mit dem Mutterkreuz, die ihr gesagt hat, man solle eben nicht nur einen Sohn, man solle viele Söhne haben. Sie hatte die heftige Antwort auf den Lippen gehabt: ›Damit mir das Herz Stück um Stück zerrissen wird, nicht wahr? Nein, lieber will ich alles auf einmal verlieren.‹ Sie hat diese Antwort unterdrückt, jetzt gibt Otto sie: ›Mutter! Der Führer wird auch deine Söhne ermorden!‹
Sie nickt, sie sagt: »Das schreib!« Sie überlegt: »Man müsste diese Karte dorthin legen, wohin Frauen kommen!«
Er denkt nach, dann schüttelt er den Kopf: »Nein. Bei Frauen, die einen Schreck bekommen, weiß man nie, was sie tun. Ein Mann wird solche Karte schnell in die Tasche stecken, auf der Treppe. Später wird er sie dann gründlich lesen. Außerdem: alle Männer sind Söhne von Müttern.«
Er schweigt wieder, er fängt von Neuem mit Malen an. Der Nachmittag vergeht, sie denken nicht an das Vesperbrot. Schließlich, der Abend ist da, wird auch die Karte fertig. Er steht auf. Er sieht sie noch einmal an.
»So!«, sagt er. »Das wäre geschafft. Nächsten Sonntag die zweite.«
Sie nickt.
»Wann trägst du sie weg?«, flüstert sie.
Er sieht sie an. »Morgen Vormittag.«
Sie bittet: »Lass mich dabei sein, dieses erste Mal!«
Er schüttelt den Kopf. »Nein«, sagt er. »Grade das erste Mal nicht. Ich muss erst sehen, wie das läuft.«
»Doch!«, bittet sie. »Es ist meine Karte! Es ist die Karte von der Mutter!«
»Gut!«, entscheidet er. »Komm mit. Aber nur bis ans Haus. Drinnen will ich allein sein.«
»Es ist recht.«
Dann ist die Karte vorsichtig in ein Buch geschoben, das Schreibzeug verwahrt, die Handschuhe in seine Joppe gesteckt.
Sie essen zu Abend, sie sprechen kaum. Aber sie merken gar nicht, dass sie so schweigsam sind, auch Anna nicht. Beide sind müde, ganz als hätten sie eine schwere Arbeit hinter sich oder als sei eine weite Reise getan.
Er sagt, vom Essen aufstehend: »Ich lege mich dann gleich hin.«
Und sie: »Ich mach bloß noch die Küche. Dann komm ich auch. Gott, wie müde ich bin, und wir haben doch nichts getan!«
Er sieht sie mit einem halben Lächeln an, dann geht er schnell in die Schlafstube und fängt an, sich auszuziehen.
Aber dann, als sie beide liegen, als es dunkel ist, können sie beide nicht einschlafen. Sie wälzen sich hin und her, sie horchen auf den Atem des anderen, und schließlich fangen sie an zu reden. In der Dunkelheit spricht es sich besser.
»Was meinst du«, fragt Anna, »was mit unsern Karten geschieht?«
»Alle werden zuerst einen Schreck bekommen, wenn sie diese Karten daliegen sehen und die ersten Worte lesen. Alle haben doch heute Angst.«
»Ja«, sagt sie. »Alle …«
Aber sie nimmt sie beide, die Quangels, aus. Fast alle haben Angst, denkt sie. Wir nicht.
»Die Finder«, wiederholt er hundertmal Durchdachtes, »werden Angst haben, dass sie auf der Treppe beobachtet worden sind. Sie werden die Karte schnell fortstecken und weglaufen. Oder sie legen sie auch wieder hin und verdrücken sich, und der Nächste kommt …«
»So wird es sein«, sagt Anna, und sie sieht das Treppenhaus vor sich, irgend solch ein Berliner Treppenhaus, schlecht beleuchtet, und jeder, der eine solche Karte in der Hand hat, wird sich plötzlich fühlen, als sei er ein Verbrecher. Weil eigentlich jeder denkt wie dieser Kartenschreiber und doch nicht so denken darf, weil Tod auf solchem Denken steht …
»Manche«, fährt Quangel fort, »werden die Karte auch sofort abgeben, an den Blockwart oder die Polizei: nur schnell fort mit ihr! Aber auch das macht nichts aus, ob in der Partei oder nicht, ob Politischer Leiter oder Polizist, sie alle werden die Karte lesen, sie wird Wirkung in ihnen tun. Und wenn sie nur die eine Wirkung tut, dass sie wieder einmal erfahren, es ist noch Widerstand da, nicht alle folgen diesem Führer …«
»Nein«, sagt sie. »Nicht alle. Wir nicht.«
»Und es werden mehr werden, Anna. Durch uns werden es mehr werden. Vielleicht bringen wir andere auf den Gedanken, solche Karten zu schreiben, wie ich es tue. Schließlich werden Dutzende, Hunderte sitzen wie ich und schreiben. Wir werden Berlin mit diesen Karten überschwemmen, wir werden den Gang der Maschinen hemmen, wir werden den Führer stürzen, den Krieg beenden …«
Er hält inne, bestürzt von seinen eigenen Worten, von diesen Träumen, die sein kühles Herz so spät noch aufsuchen.
Aber Anna Quangel sagt, begeistert von dieser Vision: »Und wir werden die Ersten gewesen sein! Niemand wird es wissen, aber wir wissen es.«
Er sagt plötzlich nüchtern: »Vielleicht denken schon viele so wie wir, Tausende von Männern müssen schon gefallen sein. Vielleicht gibt es schon solche Kartenschreiber. Aber das ist egal, Anna! Was geht es uns an? Wir tun dies!«
»Ja«, sagt sie.
Und er, noch einmal hingerissen von den Aussichten des begonnenen Unternehmens: »Und wir werden die Polizei in Gang setzen, die Gestapo, die SS, die SA. Überall wird man von dem geheimnisvollen Kartenschreiber sprechen, sie werden fahnden, verdächtigen, beobachten, Haussuchungen machen – vergeblich! Wir schreiben weiter, immer weiter!«
Und sie: »Vielleicht werden sie dem Führer selbst solche Karten vorlegen – er selbst wird sie lesen, wir klagen ihn an! Er wird toben! Er soll doch immer gleich toben, wenn was nicht nach seinem Willen geht. Er wird befehlen, uns zu finden, und sie werden uns nicht finden! Er wird weiter unsere Anklagen lesen müssen!«
Sie schweigen beide, beide geblendet von diesem Ausblick. Was waren sie eben noch? Unbekannte Existenzen; im großen, dunklen Gewimmel hatten sie mitgewimmelt. Und nun sind sie beide ganz allein, getrennt, erhoben vor den anderen, mit keinem von ihnen zu verwechseln. Es ist Eiseskälte um sie, so allein sind sie.
Und Quangel sieht sich in der Werkstatt stehen, wie immer im gleichen Getriebe, treibend und getrieben, den Kopf achtsam, ruckweise von Maschine zu Maschine gedreht. Für die wird er immer der olle doofe Quangel sein, nur von seiner Arbeit und seinem schmutzigen Geiz besessen. In seinem Kopf aber hat er Gedanken, wie sie keiner von ihnen hat. Jeder von ihnen würde vor Angst umkommen, wenn er solche Gedanken hätte. Er aber, der dusslige olle Quangel, er hat sie. Er steht da und täuscht sie alle.
Anna Quangel aber denkt jetzt an den Weg, den sie morgen beide gehen werden, die erste Karte fortzubringen. Sie ist etwas unzufrieden mit sich, dass sie nicht darauf bestanden hat, mit Quangel ins Haus hineinzugehen. Sie überlegt, ob sie ihn nicht noch einmal darum bitten soll. Vielleicht. Im Allgemeinen ist Otto Quangel durch Bitten nicht umzustimmen. Aber vielleicht heute Abend, da er so ungewöhnlich heiterer Laune zu sein scheint? Vielleicht gleich jetzt?
Aber es dauert zu lange, bis sie sich entschlossen hat. Da merkt sie: Quangel ist schon eingeschlafen. So schickt auch sie sich an zu schlafen, sie wird sehen, ob es morgen passt. Wenn es passt, wird sie bestimmt fragen.
Und dann schläft auch sie ein.
19. Die erste Karte wird abgelegt
Sie wagt es erst auf der Straße, ihm davon zu sprechen, so wortkarg war Otto an diesem Vormittag. »Wo willst du die Karte hinbringen, Otto?«
Er antwortet mürrisch: »Sprich jetzt nicht davon. Nicht jetzt auf der Straße.«
Und dann setzt er doch noch widerwillig hinzu: »Ich habe mir ein Haus in der Greifswalder Straße ausgesucht.«
»Nein«, sagt sie entschieden. »Nein, tu das nicht, Otto. Das ist falsch, was du da tun willst!«
»Komm!«, sagt er böse, denn sie ist stehen geblieben. »Ich sage dir doch, nicht hier auf der Straße!«
Er geht weiter, sie folgt ihm und besteht auf ihrem Recht mitzusprechen. »Nicht so in der Nähe unserer Wohnung«, betont sie. »Wenn diese Sache denen in die Hände fällt, haben sie gleich einen Fingerzeig über die Gegend. Lass uns bis zum Alex runtergehen …«
Er denkt nach, er überlegt. Vielleicht, nein, sicher hat sie recht. Man muss mit allem rechnen. Und doch, dieses plötzliche Umändern seiner Pläne passt ihm nicht recht. Wenn sie jetzt bis zum Alex laufen, wird die Zeit sehr knapp, und er muss doch zum Arbeitsbeginn zurechtkommen. Auch weiß er kein passendes Haus am Alex. Sicher gibt es dort viele, aber man muss das richtige erst suchen, und das tut er lieber allein als mit der Frau, die ihn dabei stört.
Dann, ganz plötzlich, entschließt er sich. »Gut«, sagt er. »Du hast recht, Anna. Gehen wir zum Alex.«
Sie sieht ihn dankbar von der Seite an. Sie ist glücklich, dass er auch einmal einen Ratschlag von ihr angenommen hat. Und weil er sie eben grade so glücklich gemacht hat, will sie ihn nicht noch um das andere bitten, dass sie mit ins Haus gehen darf. Nun gut, soll er allein gehen. Sie wird während des Wartens auf seine Rückkehr ein bisschen ängstlich sein – aber warum eigentlich? Sie zweifelt nicht einen Augenblick daran, dass er zurückkommen wird. Er ist so ruhig und so kalt, er lässt sich nicht überrumpeln. Noch in deren Händen würde er sich nicht verraten, er würde sich freikämpfen.
Während sie so überlegend neben dem schweigsamen Manne einhergeht, sind sie von der Greifswalder in die Neue Königstraße hineingekommen. Sie ist so beschäftigt gewesen mit ihren Gedanken, dass sie nicht darauf geachtet hat, wie wachsam Otto Quangels Augen an den Häusern entlangstrichen. Nun bleibt er plötzlich stehen – sie haben noch ein gutes Stück bis zum Alexanderplatz – und sagt: »Da, sieh dir da das Schaufenster an, ich bin gleich zurück.«
Schon geht er über die Fahrbahn auf ein großes, helles Bürohaus zu.
Ihr Herz fängt stark an zu klopfen. Sie möchte ihm zurufen: Nein, nicht, wir haben Alex ausgemacht! Lass uns so lange noch zusammenbleiben! Und: Sage mir wenigstens Lebewohl! Aber die Tür dort schlug schon hinter ihm zu.
Mit einem schweren Seufzer wendet sie sich dem Schaufenster zu. Aber sie sieht nichts von dem Ausgestellten. Sie lehnt die Stirn gegen die kalte Scheibe, vor ihren Augen flirrt und flimmert es. Ihr Herz klopft so sehr, dass sie kaum atmen kann, alles Blut scheint ihr in den Kopf zu treten.
Also habe ich doch Angst, denkt sie. Um Gottes willen, er darf das nie merken, dass ich Angst habe! Sonst nimmt er mich nie wieder mit. Aber ich habe auch keine richtige Angst, überlegt sie weiter. Ich habe keine Angst um mich. Ich habe um ihn Angst. Wenn er nun nicht wiederkommt!
Sie kann es nicht lassen, sie muss sich nach dem Bürohaus umdrehen. Die Tür wird aufgestoßen, Menschen kommen, Menschen gehen; warum kommt Quangel nicht? Er muss fünf, nein, zehn Minuten fort sein. Warum rennt der Mann, der eben aus dem Haus kam, so? Soll er vielleicht die Polizei rufen? Haben sie Quangel gleich beim ersten Male gefasst?
Oh, ich halte das nicht aus! Was hat er sich vorgenommen?! Und ich dachte, es wäre etwas Kleines! Jede Woche einmal, und wenn er erst zwei Karten schreibt, jede Woche zweimal in Lebensgefahr! Und er wird mich nicht immer mitnehmen wollen! Ich habe das heute früh schon gemerkt, eigentlich war ihm mein Mitkommen nicht recht. Er wird allein gehen, allein wird er die Karten fortbringen, und von da wird er zur Fabrik gehen (oder er wird auch nie wieder zur Fabrik gehen!), und ich werde zu Hause sitzen, sitzen und mit Angst auf ihn warten. Ich fühle, diese Angst wird nie aufhören, daran werde ich mich nie gewöhnen. Da kommt Otto! Endlich! Nein, er ist es nicht. Er ist es wieder nicht! Jetzt gehe ich ihm nach, er kann noch so böse werden! Es ist bestimmt etwas passiert, er muss schon eine Viertelstunde fort sein, so lange kann das nie und nimmer dauern! Jetzt suche ich ihn!
Sie macht drei Schritte auf das Haus zu – und kehrt wieder um. Stellt sich vor das Schaufenster, starrt hinein.
Nein, ich werde ihm nicht nachgehen, ich werde ihn nicht suchen. Nicht schon gleich beim ersten Male kann ich so versagen. Ich bilde mir ja nur ein, dass was geschehen ist; sie gehen in dem Haus ein und aus wie immer. Sicher ist Otto auch noch keine Viertelstunde fort. Ich will jetzt sehen, was in diesem Schaufenster ist. Büstenhalter, Gürtel …
Unterdes war Quangel in das Bürohaus eingetreten. Er hatte sich nur darum so rasch dazu entschlossen, weil die Frau an seiner Seite war. Sie machte ihn unruhig, jeden Augenblick konnte sie wieder »davon« zu reden anfangen. In ihrer Gegenwart mochte er nicht lange suchen. Sie würde sicher wieder davon zu reden anfangen, dieses Haus vorschlagen, jenes ablehnen. Nein, nichts mehr davon! Da ging er lieber in das erste Beste hinein, wenn es auch das erste Schlechteste war.
Es war das erste Schlechteste. Es war ein helles, modernes Bürohaus, mit vielen Firmen wohl, aber auch mit einem Portier in grauer Uniform. Quangel geht, ihn gleichgültig ansehend, an ihm vorüber. Er ist darauf gefasst, nach dem Wohin gefragt zu werden, er hat sich gemerkt, dass Rechtsanwalt Toll im vierten Stock sein Büro hat. Aber der Portier fragt ihn nichts, er redet mit einem Herrn. Er streift den Vorübergehenden nur mit einem flüchtigen, gleichgültigen Blick. Quangel wendet sich nach links, schickt sich an, die Treppe hochzusteigen, da hört er einen Fahrstuhl surren. Siehe da, damit hat er auch nicht gerechnet, dass es in einem solchen modernen Haus Fahrstühle gibt, sodass die Treppen kaum benutzt werden.
Aber Quangel steigt weiter die Treppe hoch. Der Junge im Lift wird denken: Das ist ein alter Mann, er misstraut einem Fahrstuhl. Oder er wird denken, er will nur in den ersten Stock. Oder er wird überhaupt nichts denken. Jedenfalls sind diese Treppen kaum benutzt. Er ist schon auf der zweiten, und bisher ist ihm nur ein Bürojunge begegnet, der eilig, ein Paket Briefe in der Hand, die Treppen hinabstürzte. Er sah Quangel gar nicht an. Der könnte seine Karte hier überall ablegen, aber er vergisst nicht einen Augenblick, dass dieser Fahrstuhl da ist, durch dessen blinkende Scheiben er jederzeit beobachtet werden kann. Er muss noch höher, und der Fahrstuhl muss grade in die Tiefe versunken sein, dann wird er es tun.










