Hans Fallada – Gesammelte Werke

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»Du bist erst sechzehn und mein Sohn«, fängt der Alte, noch immer gekränkt, an.
»Un du bist mein Oller, den ich ein bisschen zu ville besoffen gesehen habe, als dass du mir noch groß imponierst«, sagt Baldur Persicke rasch und bringt damit die Lacher, sogar die ständig verängstigte Mutter, auf seine Seite. »Nee, lass man, Vater, eines Tages werden wir noch alle im eigenen Auto fahren, und du sollst alle Tage Sekt zu saufen kriegen, bis du voll bist!«
Der Vater will wieder etwas sagen, aber dieses Mal nur gegen den Sekt, den er nicht so schätzt wie seinen Kornschnaps. Aber Baldur fährt rasch und leiser fort: »Ideen hast du gar nicht so schlechte, Vater, bloß, du solltest mit keinem darüber reden als mit uns. Mit der Rosenthal ist vielleicht wirklich was zu machen, aber mehr als Kaffee und Kuchen. Lasst mich nur darüber nachdenken, das muss vorsichtig angefasst werden. Vielleicht riechen andere den Braten auch, und vielleicht sind andere besser angeschrieben als wir.«
Seine Stimme hat sich gesenkt und ist gegen den Schluss hin fast unhörbar geworden. Baldur Persicke hat es wieder fertiggebracht, er hat alle auf seine Seite gezogen, selbst den Vater, der erst eingeschnappt war. So sagt er denn: »Prost auf die Kapitulation von Frankreich!«, und weil er sich dabei lachend auf die Schenkel klatscht, merken sie, dass er damit etwas ganz anderes meint, nämlich die alte Rosenthal.
Sie lachen lärmend durcheinander und stoßen an und trinken dann so manchen Schnaps, immer einen hinter dem anderen. Aber sie vertragen auch was, dieser ehemalige Gastwirt und seine Kinder.
3. Ein Mann namens Barkhausen
Der Werkmeister Quangel ist auf die Jablonskistraße hinausgetreten und hat vor der Haustür herumstehend den Emil Barkhausen getroffen. Es schien der einzige Beruf Emil Barkhausens zu sein, immer irgendwo rumzustehen, wo es was zu gaffen oder zu hören gab. Daran hatte auch der Krieg nichts geändert, der doch überall mit Dienstverpflichtungen und Arbeitszwang vorgegangen war: Emil Barkhausen stand weiter rum.
Er stand da, eine lange, dürre Gestalt in einem abgetragenen Anzug, und sah verdrossen mit seinem farblosen Gesicht in die um diese Stunde fast menschenleere Jablonskistraße. Als er Quangels ansichtig wurde, kam Bewegung in ihn, er trat auf ihn zu und bot ihm die Hand. »Wo gehen Sie denn jetzt hin, Quangel?«, fragte er. »Das ist doch noch nicht Ihre Zeit für die Fabrik?«
Quangel übersah die Hand des anderen und murmelte fast unverständlich: »Eiliger Weg!«
Dabei ging er schon weiter, nach der Prenzlauer Allee zu. Dieser lästige Schwätzer hatte ihm gerade noch gefehlt!
So leicht ließ sich der aber nicht abschütteln. Er lachte meckernd und rief: »Da haben wir ja denselben Weg, Quangel!« Und als der andere, stur gradeaus starrend, eilig weiterschritt, setzte er hinzu: »Der Doktor hat mir nämlich gegen meine Hartleibigkeit viel Bewegung verordnet, und allein rumlaufen, das langweilt mich!«
Er fing nun an, weitläufig und genau zu schildern, was er alles schon gegen seine Hartleibigkeit getan hatte. Quangel hörte gar nicht hin. Ihn beschäftigten zwei Gedanken, und der eine verdrängte immer wieder den anderen: dass er keinen Sohn mehr hatte und dass Anna gesagt hatte: du und dein Führer. Quangel gab es sich zu: er hatte den Jungen nie geliebt, wie ein Vater seinen Sohn zu lieben hat. Von der Geburt an hatte er das Kind nur als Störer seiner Ruhe und seiner Beziehungen zu Anna empfunden. Wenn er jetzt doch Schmerz fühlte, so darum, weil er mit Unruhe an Anna dachte, wie sie diesen Tod aufnehmen, was dadurch alles geändert werden würde. Hatte doch Anna schon zu ihm gesagt: Du und dein Führer!
Es stimmte nicht. Hitler war nicht sein Führer oder doch nicht mehr sein Führer, als er Annas Führer war. Sie waren sich immer einig gewesen, als er 1930 mit seiner kleinen Tischlerwerkstatt verkracht war, dass der Führer den Karren aus dem Dreck gerissen hatte. Nach vier Jahren Arbeitslosigkeit war er Werkmeister in der großen Möbelfabrik geworden und brachte jetzt alle Wochen seine vierzig Mark nach Hause. Damit kamen sie gut aus. Das war durch den Führer gekommen, der hatte die Wirtschaft wieder in Gang gebracht. Darüber waren sie sich immer einig gewesen.
Aber in die Partei waren sie darum doch nicht getreten. Einmal reute sie der Parteibeitrag, man musste schon so an allen Ecken und Enden bluten, für das WHW,[10] für alle möglichen Sammlungen, für die Arbeitsfront. Ja, in der Arbeitsfront hatten sie ihm in der Fabrik auch ein Ämtchen aufgehuckt, und grade das war der andere Grund, warum sie beide nicht in die Partei eingetreten waren. Denn er sah es bei jeder Gelegenheit, wie sie ständig einen Unterschied zwischen Volksgenossen und Parteigenossen machten. Auch der schlechteste Parteigenosse war denen noch mehr wert als der beste Volksgenosse. War man einmal in der Partei, so konnte man sich eigentlich alles erlauben: so leicht passierte einem nichts. Das nannten sie Treue um Treue.
Er aber, der Werkmeister Otto Quangel, war für Gerechtigkeit. Jeder Mensch war ihm ein Mensch, und ob er in der Partei drin war, das hatte damit gar nichts zu tun. Wenn er in der Werkstatt immer wieder erleben musste, dass dem einen ein kleiner Fehler am Werkstück schwer angekreidet wurde und dass der andere Pfusch über Pfusch abliefern durfte, so empörte ihn das stets von Neuem. Er setzte die Zähne auf die Unterlippe und nagte wütend an ihr – wenn er’s gekonnt hätte, er wäre auch dieses Pöstchen in der DAF längst los gewesen!
Die Anna wusste das gut, darum hätte sie das nie sagen dürfen, dies Wort: Du und dein Führer! Bei der Anna war alles auch ganz anders gewesen, sie hatte ganz freiwillig das Amt in der Frauenschaft übernommen, sie hatte nicht gemusst wie er. Gott ja, er verstand es, wie es dazu bei ihr gekommen war. Zeit ihres Lebens war sie bloß ein Dienstmädchen gewesen, erst auf dem Lande, dann hier in der Stadt. Zeit ihres Lebens hatte sie Trab laufen müssen und war kommandiert worden von anderen. Und in ihrer Ehe hatte sie auch nicht viel zu sagen gehabt, nicht etwa, weil er sie nun viel kommandiert hätte, sondern einfach weil sich um ihn, den Geldverdiener, nun einmal alles drehen musste.
Aber jetzt hatte sie nun dieses Amt in der Frauenschaft, und wenn sie auch hier ihre Befehle von oben empfing, so hatte sie doch nun eine Menge Mädchen und Frauen und sogar Damen unter sich, denen nun sie kommandierte. Das machte ihr einfach Spaß, wenn sie da wieder so eine faule Nichtstuerin mit rotgelackten Fingernägeln aufgetrieben hatte, und sie konnte sie in eine Fabrik schicken. Wenn von einem der Quangels überhaupt so ein Wort zu sagen war wie ›Du und dein Führer‹, dann noch am ersten von der Anna.
Gewiss, gewiss, auch sie hatte schon längst ein Haar in der Suppe gefunden und zum Beispiel gemerkt, dass sich manche von diesen feinen Dämchen einfach nicht zur Arbeit schicken ließen, weil sie zu gute Freunde hatten oben. Oder es empörte sie, wenn bei der Verteilung von warmem Unterzeug immer dieselben drankamen, und das waren eben die mit dem Parteibuch. Auch Anna fand, dass die Rosenthals anständige Leute waren und solch ein Schicksal nicht verdient hatten, aber darum dachte sie doch nicht daran, ihr Amt aufzugeben. Sie hatte neulich erst gesagt, dass der Führer gar nicht wüsste, was seine Leute da unten für Schweinereien begingen. Der Führer konnte nicht alles wissen, und seine Leute belogen ihn einfach.
Aber nun war dieser Tod von Ottochen gekommen, und mit Beunruhigung spürte Otto Quangel, dass von jetzt an alles anders werden würde. Er sieht das kranke, gelblich weiße Gesicht Annas vor sich, wieder hört er ihre Anklage, er ist jetzt zu einer ganz ungewohnten Stunde unterwegs, diesen Schwätzer Barkhausen an der Seite, heute Abend ist die Trudel bei ihnen, es wird Tränen geben, endloses Gerede – und er, Otto Quangel, liebt doch so sehr das Gleichmaß des Lebens, den immer gleichen Arbeitstag, der möglichst gar kein besonderes Ereignis bringt. Schon der Sonntag ist ihm fast eine Störung. Und nun soll alles eine Weile durcheinandergehen, und wahrscheinlich wird die Anna nie wieder die, die sie einst war. Das war zu tief aus ihr gekommen, dieses ›Du und dein Hitler‹. Das hatte wie Hass geklungen.
Er muss sich das alles noch einmal ganz genau überlegen, nur der Barkhausen lässt ihn nicht dazu kommen. Jetzt sagt dieser Mann doch plötzlich: »Sie sollen ja auch einen Feldpostbrief bekommen haben, und er soll nicht von Ihrem Otto geschrieben worden sein?«
Quangel richtet den Blick seiner scharfen, dunklen Augen auf den anderen und murmelt: »Schwätzer!« Weil er aber mit niemandem Streit bekommen will, selbst nicht mit solch einem Garnichts wie dem Rumsteher Barkhausen, setzt er halb widerwillig hinzu: »Die Leute schwatzen alle viel zu viel!«
Der Emil Barkhausen ist nicht beleidigt, den Barkhausen kann man so leicht nicht beleidigen, er stimmt eifrig zu: »Sie sagen’s, wie’s ist, Quangel! Warum kann die Kluge, die Briefschleiche, nicht das Maulwerk halten? Aber nein, gleich muss sie allen erzählen: Die Quangels haben einen Brief aus dem Felde mit Schreibmaschinenschrift bekommen! Ist doch genug, wenn sie erzählen kann, dass Frankreich kapituliert hat!« Er macht eine kleine Pause, und dann fragt er mit einer ganz ungewohnten halblauten, teilnehmenden Stimme: »Verwundet oder vermisst oder …?«
Er schweigt. Quangel aber – nach einer längeren Pause – antwortet nur indirekt auf die Frage des anderen: »Also Frankreich hat kapituliert? Na, das hätten die gut auch einen Tag früher machen können, dann lebte mein Otto noch …«
Barkhausen antwortet ungewöhnlich lebhaft: »Aber weil soundso viel Tausende den Heldentod gestorben sind, darum hat Frankreich sich doch so rasch ergeben. Darum bleiben so viele Millionen nun am Leben. Auf so ’n Opfer muss man stolz sein als Vater!«
Quangel fragt: »Ihre sind alle noch zu klein, um ins Feld zu gehen, Nachbar?«
Fast gekränkt meint Barkhausen: »Das wissen Sie doch, Quangel! Aber wenn sie alle auf einmal stürben, durch ’ne Bombe oder so was, da wäre ich nur stolz drauf. Glauben Sie mir das nicht, Quangel?«
Aber der Werkmeister beantwortet diese Frage nicht, sondern denkt: Wenn ich schon kein rechter Vater bin und den Otto nie so lieb gehabt habe, wie ich musste – dir sind deine Gören einfach eine Last. Das glaube ich, dass du froh wärst, die durch eine Bombe alle auf einmal loszuwerden, unbesehen glaube ich dir das!
Aber er sagt nichts derart, und der Barkhausen, der schon des Wartens auf eine Antwort überdrüssig geworden ist, hat nun so gesprochen: »Denken Sie doch mal nach, Quangel, erst das Sudetenland und die Tschechoslowakei und Österreich und nu Polen und Frankreich und der halbe Balkan – wir werden doch das reichste Volk von der Welt! Was zählen da ein paar hunderttausend Tote? Reich werden wir alle!«
Ungewohnt rasch antwortet Quangel: »Und was werden wir mit dem Reichtum anfangen? Kann ich ihn essen? Schlaf ich besser, wenn ich reich bin? Werd ich als reicher Mann nicht mehr in die Fabrik gehen, und was tu ich dann den ganzen Tag? Nee, Barkhausen, ich will nie reich werden und so schon bestimmt nicht. So ein Reichtum ist nicht einen Toten wert!«
Plötzlich hat ihn Barkhausen beim Arm gepackt, seine Augen flackern, er schüttelt den Quangel, während er eilig flüstert: »Wie kannst du so reden, Quangel? Du weißt doch, dass ich dich für so ’ne Meckerei ins KZ bringen kann? Du hast ja unserm Führer direkt gegen’s Gesicht gesprochen! Wenn ich nun so einer wäre und meldete das …?«
Auch Quangel ist erschrocken über seine eigenen Worte. Diese Sache mit Otto und Anna muss ihn viel mehr aus dem Gleise geworfen haben, als er bisher gedacht hat, sonst hätte ihn seine angeborene, stets wachsame Vorsicht nicht so verlassen. Aber der andere bekommt von seinem Erschrecken nichts zu merken. Quangel befreit seinen Arm mit den starken Arbeitshänden von dem laschen Griff des anderen und sagt dabei langsam und gleichgültig: »Was regen Sie sich denn so auf, Barkhausen? Was habe ich denn gesagt, das Sie melden können? Gar nichts habe ich gesagt. Ich bin traurig, weil mein Sohn Otto gefallen ist und weil meine Frau nun vielen Kummer hat. Das können Sie melden, wenn Sie’s wollen, und wenn Sie’s wollen, dann tun Sie’s! Ich geh gleich mit und unterschreibe, dass ich das gesagt hab!«
Während Quangel aber so ungewohnt wortreich daherredet, denkt er innerlich: Ich will ’nen Besen fressen, wenn dieser Barkhausen nicht ein Spitzel ist! Wieder einer, vor dem man sich in Acht nehmen muss! Vor wem muss man sich eigentlich nicht in Acht nehmen? Wie’s mit der Anna werden wird, weiß ich auch nicht …
Unterdes sind sie aber am Fabriktor angekommen. Wieder streckt Quangel dem Barkhausen nicht die Hand hin. Er sagt einfach: »Na denn!«, und will hineingehen.
Aber Barkhausen hält ihn an der Joppe fest und flüstert eifrig: »Nachbar, was gewesen ist, darüber wollen wir nicht mehr sprechen. Ich bin kein Spitzel und will keinen ins Unglück bringen. Aber nun tu mir auch einen Gefallen: Ich muss der Frau ein bisschen Geld für Lebensmittel geben und habe keinen Pfennig in der Tasche. Die Kinder haben heut noch nischt gegessen. Leih mir zehn Mark – am nächsten Freitag bekommst du sie bestimmt wieder – heilig wahr!«
Der Quangel macht sich wieder wie vorhin von dem Griff des anderen frei. Er denkt: Also so einer bist du, so verdienst du dein Geld! Und: Ich werde ihm nicht eine Mark geben, sonst denkt er, ich habe Angst vor ihm, und lässt mich nie wieder aus der Zange. Laut sagt er: »Ich bringe nur dreißig Mark die Woche nach Haus, und ich brauche jede Mark davon alleine. Ich kann dir kein Geld geben.«
Damit geht er ohne ein weiteres Wort oder einen Blick in den Torhof der Fabrik hinein. Der Pförtner dort kennt ihn und lässt ihn ohne weitere Fragen durch.
Der Barkhausen aber steht auf der Straße, starrt ihm nach und überlegt, was er nun tun soll. Am liebsten ginge er zur Gestapo und machte Meldung gegen den Quangel, ein paar Zigaretten fielen dabei schon ab. Aber besser, er tut’s nicht. Er ist heute früh zu vorschnell gewesen, er hätte den Quangel sich frei ausquatschen lassen sollen; nach dem Tode des Sohnes war der Mann in der Verfassung dazu.
Aber er hat den Quangel falsch eingeschätzt, der lässt sich nicht bluffen. Die meisten Menschen haben heute Angst, eigentlich alle, weil sie alle irgendwo irgendwas Verbotenes tun und immer fürchten, jemand weiß davon. Man muss sie nur im richtigen Augenblick überrumpeln, dann hat man sie, und sie zahlen. Aber der Quangel ist nicht so, ein Mann mit so ’nem scharfen Raubvogelgesicht. Der hat wahrscheinlich vor nichts Angst, und überrumpeln lässt der sich schon gar nicht. Nein, er wird den Mann aufgeben, vielleicht lässt sich in den nächsten Tagen mit der Frau was machen, ’ne Frau schmeißt der Tod vom einzigen Jungen noch ganz anders um! Dann fangen so ’ne Weiber an zu plappern.
Also die Frau in den nächsten Tagen, und was macht er jetzt? Er muss wirklich der Otti Geld geben, er hat heute früh heimlich das letzte Brot aus dem Küchenspind weggegessen. Aber er hat kein Geld, und woher kriegt er auf die Schnelle was? Seine Frau ist ’ne Xanthippe und imstande, ihm das Leben zur Hölle zu machen. Früher war sie Hure auf der Schönhauser Allee und konnte manchmal richtig nett und lieb sein. Jetzt hat er fünf Blagen von ihr, das heißt, die meisten sind wohl kaum von ihm, und sie kann schimpfen wie ’n Fischweib in der Markthalle. Schlagen tut das Aas auch, zwischen die Kinder, und wenn’s ihn trifft, so gibt es eben ’ne kleine Klopperei, bei der sie immer das meiste bezieht, aber das macht sie nicht klug.
Nein, er kann nicht ohne Geld zur Otti kommen. Plötzlich fällt ihm die alte Rosenthal ein, die da jetzt ganz allein, ohne allen Schutz im vierten Stock Jablonskistraße 55 wohnt. Dass ihm die olle Jüdin nicht eher eingefallen ist, die ist doch ein lohnenderes Geschäft als der alte Geier, der Quangel! Sie ist ’ne gutmütige Frau, er weiß es noch von früher, als sie noch ihr Wäschegeschäft hatten, und zuerst wird er es auch auf die sanfte Tour versuchen. Will sie aber nicht, so gibt er ihr einfach einen vor den Deez! Irgendwas wird er schon finden, ein Schmuckstück oder Geld oder was zu essen, irgendeine Sache, durch die Otti besänftigt wird.
Während Barkhausen so überlegt und sich immer wieder ausmalt, was er wohl finden wird – denn die Juden haben noch alles, sie verstecken’s bloß vor den Deutschen, denen sie’s gestohlen haben –, während solcher Gedanken geht Barkhausen immer schneller in die Jablonskistraße zurück. Als er unten im Treppenhaus angekommen ist, lauscht er lange hinauf. Er möchte doch nicht gerne, dass ihn jemand hier im Vorderhaus sähe, er selbst wohnt im Hinterhaus, was sich Gartenhaus schimpft, im Souterrain, hat also zu gut deutsch eine Kellerwohnung. Ihn selbst stört das nicht, nur wegen der Leute ist es ihm manchmal peinlich.
Es rührt sich nichts im Treppenhaus, und Barkhausen fängt an, eilig, aber leise die Stufen hochzusteigen. Aus der Wohnung der Persickes schallt wüster Lärm, Gejohle und Gelächter, die feiern schon mal wieder. An so ’ne wie die Persickes müsste er mal Anschluss bekommen, die haben die richtigen Verbindungen, dann ginge es auch mit ihm voran. Aber solche sehen einen Gelegenheitsspitzel, wie er ist, natürlich gar nicht an; besonders die Jungen in der SS und der Baldur sind unglaublich hochnäsig. Der Alte ist schon besser, schenkt ihm manchmal fünf Mark, wenn er angesoffen ist …
In der Wohnung der Quangels ist alles still, und eine Treppe höher bei der Rosenthal hört er auch keinen Laut, so lange er auch das Ohr gegen die Tür legt. So klingelt er rasch und geschäftsmäßig, wie es etwa der Briefbote täte, der es eilig hat, weiterzukommen.
Aber nichts rührt sich, und nach ein, zwei Minuten Warten entschließt sich Barkhausen zu einem zweiten und später zu einem dritten Klingeln. Dazwischen lauscht er, hört nichts, flüstert aber doch durch das Schlüsselloch: »Frau Rosenthal, machen Sie doch auf! Ich bring Ihnen Nachricht von Ihrem Mann! Schnell, ehe mich einer sieht! Frau Rosenthal, ich hör Sie doch, machen Sie schon auf!«
Dazwischen klingelt er immer wieder, aber alles ganz erfolglos. Schließlich packt ihn die Wut. Er kann doch nicht auch hier wieder ganz erfolglos abziehen, mit der Otti gibt es einen Heidenstunk. Die olle Jüdsche soll rausgeben, was sie ihm gestohlen hat! Er klingelt rasend, und dazwischen schreit er am Schlüsselloch: »Mach uff, du olle Judensau, oder ich lackier dir die Fresse, dass du nich mehr aus den Augen kieken kannst! Ich bring dich heute noch ins KZ, wenn du nicht aufmachst, verdammte Jüdsche!«
Wenn er jetzt bloß Benzin bei sich hätte, er steckte dem Aas auf der Stelle die Türe an!
Aber plötzlich wird Barkhausen ganz still. Er hat tiefer unten eine Wohnungstür gehen gehört, er drückt sich eng an die Wand. Keiner darf ihn hier sehen. Natürlich wollen die auf die Straße, er muss jetzt bloß stille sein.
Doch der Schritt geht treppauf, unaufhaltsam, wenn auch langsam und stolpernd. Es ist natürlich einer von den Persickes, und ein besoffener Persicke, das ist grade, was dem Barkhausen jetzt gefehlt hat. Natürlich will der auf den Boden, aber der Boden ist durch eine verschlossene Eisentür gesichert, da gibt’s kein Versteck. Nun ist nur noch die einzige Hoffnung, dass der Betrunkene, ohne ihn zu merken, an ihm vorübergeht; wenn’s der alte Persicke ist, kann’s passieren.
Aber es ist nicht der alte Persicke, es ist der ekelhafte Bengel, der Baldur, der Schlimmste von der ganzen Bande! Ewig läuft er in seiner HJ-Führer-Uniform[11] herum und erwartet, dass man ihn zuerst grüßt, obwohl er doch ein reiner Garnichts ist. Langsam kommt der Baldur die letzten Treppenstufen hoch, er hält sich fest am Treppengeländer, so angetrunken wie er ist. Er hat natürlich trotz seiner glasigen Augen den Barkhausen da an der Wand längst gesehen, er spricht ihn aber erst an, als er direkt vor ihm steht: »Was schnüffelst du denn hier vorne im Hause herum? Ich will das nicht haben, mach, dass du in den Keller zu deiner Nutte kommst! Marsch, hau ab!«
Und er hebt den Fuß mit dem genagelten Schuh, setzt ihn aber gleich wieder hin: zum Fußtrittgeben steht er zu wacklig auf den Füßen.
Einem Ton wie dem eben ist der Barkhausen einfach nicht gewachsen. Wenn er so angeschnauzt wird, kriecht er ganz in sich zusammen, hat bloß Angst. Er flüstert demütig: »Entschuldigen Sie bloß, Herr Persicke! Wollte mir nur mal ’nen kleinen Spaß mit der ollen Jüdschen machen!«
Der Baldur legt vor angestrengtem Nachdenken die Stirne in Falten. Nach einer Weile sagt er: »Klauen wolltste, du Aas, das ist dein Spaß mit der ollen Jüdschen. Na, geh voran!«
So grob die Worte auch waren, so klangen sie doch zweifelsfrei wohlwollender; für so was hatte Barkhausen ein feines Ohr. So sagt er denn mit einem für den Witz um Entschuldigung bittenden Lächeln: »Ick klau doch nicht, Herr Persicke, ick organisier bloß manchmal ein bisschen!«
Baldur Persicke erwidert das Lächeln nicht. Mit solchen Leuten macht er sich nicht gemein, wenn sie auch manchmal nützlich sein können. Er klettert nur vorsichtig hinter Barkhausen die Treppe hinunter.
Beide Männer sind so mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie darauf nicht achthaben, dass die Flurtür bei den Quangels jetzt nur angelehnt ist. Und sie wird sofort wieder geöffnet, als die beiden Männer vorüber sind. Anna Quangel huscht ans Treppengeländer und lauscht hinunter.
Vor der Flurtür der Persickes hebt Barkhausen stramm die Hand zum deutschen Gruß: »Heil Hitler, Herr Persicke! Und ich danke Ihnen auch schön!«
Wofür er eigentlich dankt, weiß er selbst nicht so genau. Vielleicht, weil er nicht mit dem Fuß in den Hintern getreten und die Treppe hinuntergeworfen ist. Er hätte sich das ja auch gefallen lassen müssen, solch kleiner Pinscher wie er ist.
Baldur Persicke erwidert den Gruß nicht. Er starrt den anderen mit seinen glasigen Augen an und erreicht, dass der nach kurzem zu blinzeln anfängt und den Blick zur Erde senkt. Baldur fragt: »Du wolltest dir also einen Spaß mit der alten Rosenthal machen?«
»Ja«, antwortet Barkhausen leise mit gesenktem Blick.
»Was denn für ’nen Spaß?«, wird er weiter gefragt. »Bloß so Firma Klau und Lange?«
Barkhausen riskiert einen raschen Blick in das Gesicht seines Gegenübers. »Och!«, sagt er. »Ich hätte ihr auch schon die Fresse lackiert!«
»So!«, antwortet der Baldur nur. »So!«
Eine Weile stehen sie schweigend. Der Barkhausen überlegt, ob er jetzt gehen darf, aber eigentlich hat er noch nicht den Befehl zum Abtreten bekommen. So wartet er stumm, mit wieder gesenktem Blick, weiter.
»Geh da mal rein!«, sagt Persicke plötzlich mit sehr mühsamer Zunge. Er zeigt mit ausgestrecktem Finger auf die offene Flurtür der Persickes. »Vielleicht habe ich dir noch was zu sagen. Mal sehen!«
Barkhausen marschiert, wie vom weisenden Zeigefinger befohlen, schweigend in die Wohnung der Persickes. Baldur Persicke folgt ein wenig schwankend, aber in soldatischer Haltung. Die Tür schlägt hinter beiden zu.
Oben löst sich Frau Anna Quangel vom Treppengeländer und schleicht in die eigene Wohnung zurück, deren Tür sie sachte ins Schloss gleiten lässt. Warum sie die beiden eigentlich bei ihrem Gespräch, erst oben vor der Wohnung der Frau Rosenthal, dann unten vor Persickes Tür, belauscht hat, sie weiß es nicht. Sie folgt sonst ganz der Gewohnheit ihres Mannes: die Mitbewohner können tun und lassen, was sie wollen. Frau Annas Gesicht ist noch immer krankhaft weiß, und in ihren Augenlidern ist ein irritiertes Zucken. Ein paarmal schon hätte sie sich gerne hingesetzt und geweint, aber sie kann es nicht. Ihr gehen Redensarten durch den Kopf wie: »Es drückt mir das Herz ab«, oder: »Es hat mich vor den Kopf geschlagen«, oder: »Es steht mir vor dem Magen«. Von all dem empfindet sie etwas, aber auch noch dies: »Die sollen mir nicht ungestraft meinen Jungen umgebracht haben. Ich kann auch anders sein …«
Wieder weiß sie nicht, was sie mit dem Anderssein meint, aber dies Lauschen eben war vielleicht schon ein Anfang davon. Otto wird nicht mehr alles allein bestimmen können, denkt sie auch noch. Ich will auch mal tun können, was ich will, auch wenn es ihm nicht passt.
Sie macht sich eifrig an die Fertigstellung des Essens. Die meisten Lebensmittel, die sie beide auf Karten zugeteilt erhalten, bekommt er. Er ist nicht mehr jung und muss ständig über seine Kraft arbeiten; sie kann viel sitzen und Näharbeit tun, also versteht sich solche Teilung von selbst.
Während sie noch mit ihren Kochtöpfen hantiert, verlässt Barkhausen wieder die Wohnung der Persickes. Sobald er die Treppe hinuntersteigt, verliert seine Haltung all das Kriecherische, das sie vor denen hatte. Er geht aufrecht über den Hof, sein Magen ist angenehm von zwei Schnäpsen erwärmt, und in der Tasche hat er zwei Zehnmarkscheine, einer von ihnen wird Ottis üble Laune besänftigen.










