Hans Fallada – Gesammelte Werke

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»Indische Hirse gibt es nicht mehr, meine Dame. Das müssten Sie doch wissen, wo Indien zum Empire gehört. Aber bulgarische Hirse habe ich noch, die ist eigentlich viel besser.«
Und sagte mitten aus der Bedienung heraus: »Ach, Herr Enno, das ist nett, dass Sie mir ein bisschen helfen wollen. Den Koffer setzen Sie am besten in die Stube. Und dann holen Sie mir bitte gleich Vogelsand aus dem Keller. Katzensand brauche ich auch. Und dann Ameiseneier …«
Und während er mit diesen und anderen Aufträgen vollauf beschäftigt war, dachte er: Sie hat mich gleich gesehen, und sie hat auch sofort gesehen, dass ich einen Koffer mit habe. Dass ich ihn in die Stube setzen durfte, ist eigentlich ein gutes Zeichen. Aber sicher wird sie mich erst ausfragen, sie nimmt alles so schrecklich genau. Aber ich werde ihr schon irgendeine Geschichte erzählen.
Und dieser Mann um die Fünfzig, dieser alt gewordene Herumtreiber, Nichtstuer und Weiberheld betete wie ein Schulkind: Ach, lieber Gott, lass mich doch noch einmal Glück haben, nur dieses einzige Mal noch! Ich will auch ganz bestimmt ein anderes Leben anfangen, nur mach, dass mich die Hete aufnimmt!
So betete, bettelte er. Und dabei wünschte er doch, dass es noch recht lange hin bis zum Ladenschluss sein möchte, bis zu dieser ausführlichen Aussprache und seinem Geständnis, denn irgendetwas gestehen musste er der Hete, das war klar. Wie sollte er ihr sonst begreiflich machen, warum er hier mit Sack und Pack angerückt kam und mit einem so dürftigen Sack und Pack dazu! Er hatte doch vor ihr immer den großen Mann gespielt.
Und dann war es plötzlich doch so weit. Schon längst war die Ladentür geschlossen, anderthalb Stunden hatte es dann noch gekostet, all seine Bewohner mit frischem Wasser und Futter zu versehen und den Laden aufzuräumen. Nun saßen die beiden einander gegenüber an dem runden Sofatisch, hatten gegessen, ein wenig geplaudert, immer ängstlich das Hauptthema vermeidend, und plötzlich hatte diese zerfließende, verblühte Frau den Kopf erhoben und gefragt: »Nun, Hänschen? Was ist es? Was ist dir geschehen?«
Kaum hatte sie diese Worte in einem ganz mütterlich besorgten Ton gesprochen, da fingen bei Enno die Tränen an zu fließen; erst langsam, dann immer reichlicher strömten sie über sein mageres, farbloses Gesicht, dessen Nase dabei stets spitzer zu werden schien.
Er stöhnte: »Ach, Hete, ich kann nicht mehr! Es ist zu schlimm! Die Gestapo hat mich vorgehabt …«
Und er barg, laut aufschluchzend, den Kopf an ihrem großen, mütterlichen Busen.
Bei diesen Worten richtete Frau Hete Häberle den Kopf auf, in ihre Augen kam ein harter Glanz, ihr Nacken steifte sich, und sie fragte fast hastig: »Was haben die denn von dir gewollt?«
Der kleine Enno Kluge hatte es – mit nachtwandlerischer Sicherheit – mit seinen Worten so gut, wie es nur möglich war, getroffen. Mit all seinen anderen Geschichten, mit denen er sich an ihr Mitleid oder an ihre Liebe hätte wenden können, wäre es ihm nicht so gut ergangen wie mit diesem einen Wort Gestapo. Denn Witwe Hete Häberle hasste Unordnung, und nie hätte sie einen widerlichen Herumtreiber und Zeittotschläger in ihr Haus und in ihre mütterlichen Arme genommen. Aber das eine Wort Gestapo öffnete ihm alle Pforten ihres mütterlichen Herzens, ein von der Gestapo Verfolgter war von vornherein ihres Mitleids und ihrer Hilfe sicher.
Denn ihren ersten Mann, einen kleinen kommunistischen Funktionär, hatte die Gestapo schon im Jahre 1934 in ein KZ abgeholt, und nie wieder hatte sie von ihrem Mann etwas gesehen und gehört, außer einem Paket, das ein paar zerrissene und verschmutzte Sachen von ihm enthielt. Obenauf hatte der Totenschein gelegen, ausgestellt vom Standesamt II, Oranienburg, Todesursache: Lungenentzündung. Aber sie hatte später von anderen Häftlingen, die entlassen worden waren, gehört, was sie in Oranienburg und in dem nahe gelegenen KZ Sachsenhausen unter Lungenentzündung verstanden.
Und nun hatte sie wieder einen Mann in ihren Armen, einen Mann, für den sie bisher seines schüchternen, anschmiegenden, liebebedürftigen Wesens halber schon Sympathie empfunden, und wieder war er von der Gestapo verfolgt.
»Ruhig, Hänschen!«, sagte sie tröstend. »Erzähle mir nur alles. Wenn einer von der Gestapo verfolgt wird, der kann von mir alles haben!«
Diese Worte waren Balsam in seinen Ohren, und er hätte ja nicht der mit Frauen erfahrene Enno Kluge sein müssen, wenn er nicht seine Gelegenheit benutzt hätte. Was er da unter vielem Schluchzen und Tränen vorbrachte, war nun freilich ein sonderliches Gemisch von Wahrheit und Lüge: er brachte es doch sogar fertig, die Misshandlungen durch den SS-Mann Persicke in seine neuesten Abenteuer einzuschmuggeln.
Aber was diese Erzählung an Unwahrscheinlichem haben mochte, das verdeckte für Hete Häberle der Hass auf die Gestapo. Und schon begann ihre Liebe einen strahlenden Glanz um den Nichtsnutz an ihrer Brust zu weben, sie sagte: »Du hast also das Protokoll unterschrieben und dadurch den eigentlichen Täter gedeckt, Hänschen. Das war sehr mutig von dir, ich bewundere dich. Von zehn Männern hätte das kaum einer gewagt. Aber, das weißt du doch, wenn sie dich kriegen, so bekommst du es schlimm, denn dass sie dich mit diesem Protokoll für immer in der Falle haben, ist doch ganz klar?«
Er sagte, schon halb getröstet: »Oh, wenn du nur zu mir hältst, werden die mich nie kriegen!«
Aber sie schüttelte leise und bedenklich den Kopf. »Ich verstehe nicht, warum sie dich überhaupt wieder losgelassen haben.« Plötzlich fiel es ihr schrecklich ein: »O Gott, wenn sie dir nachspioniert haben, wenn sie nur wissen wollten, wohin du gehst?«
Er schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht, Hete. Ich war erst bei – ich war erst auf einer anderen Stelle, um meine Sachen zu holen. Ich hätte es merken müssen, wenn jemand hinter mir her war. Und warum eigentlich? Da hätten sie mich doch gar nicht erst loszulassen brauchen.«
Aber sie hatte es schon überlegt: »Sie glauben, du kennst den Kartenschreiber und bringst sie auf die Spur. Und vielleicht kennst du ihn wirklich und hast die Karte doch selbst dorthin gelegt. Aber ich will es gar nicht wissen, das sollst du mir nie sagen!« Sie bückte sich zu ihm und flüsterte: »Ich gehe jetzt eine halbe Stunde weg, Hänschen, und beobachte das Haus, ob vielleicht doch irgendwo ein Spitzel herumsteht. Nicht wahr, du wirst hier ganz still im Zimmer bleiben?«
Er sagte ihr, dass dieses Nachsehen ganz unnütz sei, niemand sei ihm gefolgt, bestimmt nicht.
Aber ihr stand es in zu schreckvoller Erinnerung, wie sie ihr schon einmal den Mann aus der Wohnung und damit aus dem Leben holten. Ihre Unruhe litt es nicht, sie musste auf und hinaus, um nachzusehen.
Und während sie langsam um den Block geht – sie hat den Blacky aus dem Laden an einer Leine mitgenommen, einen reizenden Scotch, und durch ihn sieht dieser Abendweg doch ganz unverfänglich aus –, während sie also um seiner Sicherheit willen langsam auf und ab schlendert, anscheinend nur mit dem Hund beschäftigt, aber die wachsamen Augen und Ohren überallhin gerichtet – unterdes nimmt Enno mit vorsichtigen Händen ein rasches erstes Inventar ihrer Stube auf. Es kann nicht mehr als nur ganz flüchtig sein, außerdem hat sie die meisten Möbelstücke verschlossen. Aber schon diese erste Durchsicht verrät ihm, dass er in seinem ganzen Leben so eine Frau noch nicht gehabt hat, eine Frau mit Bankkonto und sogar mit Postscheckkonto, wo ihr Name ganz richtig gedruckt auf allen Formularen steht!
Und Enno Kluge beschließt wiederum bei sich, wirklich ein ganz anderes Leben anzufangen, sich in dieser Wohnung stets korrekt zu benehmen und nicht zu beschlagnahmen, was sie ihm nicht freiwillig gibt.
Sie kommt zurück und sagt: »Nein, ich kann nichts Auffälliges sehen. Aber vielleicht haben sie dich doch hier hereingehen sehen und kommen morgen früh zurück. Ich gehe morgen gleich noch mal, ich werde den Wecker auf sechs stellen.«
»Ist nicht nötig, Hete«, sagt er wieder. »Mir ist bestimmt keiner gefolgt.«
Dann macht sie ihm ein Lager auf dem Sofa und legt sich selbst ins Bett. Aber sie lässt die Tür zwischen den beiden Zimmern offen und horcht darauf, wie er sich hin und her wirft, wie er stöhnt und wie unruhig er schläft, als er endlich wirklich eingeschlafen ist. Dann, sie ist eben grade selbst ein wenig eingedämmert, dann wacht sie wieder davon auf, dass sie ihn weinen hört. Wieder weint er, ob nun im Wachen oder im Schlaf. Frau Hete sieht im Dunkeln sein Gesicht deutlich vor sich, dieses Gesicht, das trotz seiner fünfzig Jahre immer noch etwas Kindliches hat – vielleicht durch das schwache Kinn und den volllippigen, sehr roten Mund.
Eine Weile hört sie still auf dieses Weinen, das durch die Nacht klagelos immer weitergeht, als traure die Nacht selbst über all den Kummer, den es jetzt auf der Welt gibt.
Dann entschließt sich Frau Häberle, sie steht auf und tastet sich im Dunkeln an sein Sofa.
»Weine doch nicht so, Hänschen! Du bist ja in Sicherheit, du bist bei mir. Deine Hete hilft dir …«
So spricht sie ihm tröstend zu, und als das Weinen trotzdem nicht aufhört, beugt sie sich über ihn, sie schiebt ihren Arm unter seine Schultern, sie führt den Weinenden zu ihrem Bett, und dort nimmt sie ihn in ihre Arme, an ihre Brust …
Eine alternde Frau, ein ältlicher Mann, liebebedürftig wie ein Kind, ein bisschen Trost, ein bisschen Leidenschaft, ein klein wenig Glorienschein um das Haupt des Geliebten – und nicht einmal fällt es Frau Hete ein, sich darüber klarzuwerden, wie dieses haltlose, weinerliche Wesen denn zu einem Kämpfer und Helden passt.
»Nun ist alles gut, nicht wahr, Hänschen?«
Aber nein, diese eine Frage lässt den eben erst versiegten Tränenstrom von neuem fließen, es schüttelt ihn in ihren Armen.
»Aber was ist denn, Hänschen? Hast du noch Sorgen, von denen du mir noch nichts gesagt hast?«
Und dies ist nun der Augenblick, auf den dieser alte Frauenjäger seit Stunden hingearbeitet hat, denn er hat bei sich entschieden, dass es doch zu gefährlich und für die Dauer auch unmöglich sei, sie ganz im Unklaren über seinen wirklichen Namen und seine Ehe zu belassen. Er ist nun einmal im Gestehen, nun gut, wird er auch dieses noch gestehen, sie wird es schon hinnehmen, ihn darum nicht weniger lieben. Grade jetzt, da sie ihn eben erst in ihre Arme genommen hat, wird sie ihn schon nicht wieder auf die Straße setzen!
Sie hat das Hänschen gefragt, ob es denn noch Sorgen gebe, von denen er ihr nichts gesagt hat. Nun gesteht er, weinend, verzweifelt, dass er gar nicht Hans Enno heißt, sondern Enno Kluge, und dass er ein verheirateter Mann ist, mit zwei großen Jungen. Ja, er ist ein Lump, er hat sie belügen und betrügen wollen, aber er bringt es nun doch nicht übers Herz, wo sie so gut zu ihm gewesen ist.
Wie stets ist sein Geständnis nur ein Teilgeständnis, ein wenig Wahrheit mit viel Lüge untermischt. Er zeichnet das Bild seiner Frau, dieser harten, bösen Nazistin auf dem Postamt, die den Mann nicht bei sich dulden will, weil er nicht in die Partei eintreten mag. Diese Frau, die seinen ältesten Sohn gezwungen hat, in die SS einzutreten – und er berichtet von den Gräueltaten Karlemanns. Er entwirft ein Bild dieser ungleichen, schlechten Ehe, der stille, geduldige, alles ertragende Mann und die böse, ehrgeizige, nazistische Frau. Sie können ja nicht zusammenleben, sie müssen einander ja hassen. Und nun hat sie ihn aus der Wohnung hinausgetrieben! So hat er seine Hete belogen, aus Feigheit, weil er sie zu sehr liebt, weil er ihr keinen Schmerz bereiten wollte!
Aber nun hat er sich freigesprochen. Nein, jetzt weint er nicht mehr. Er wird aufstehen und seine Sachen packen und von ihr gehen – in die schlimme Welt hinaus. Er wird sich schon irgendwo vor der Gestapo verbergen, und wenn die ihn doch erwischen, so macht das auch nicht viel aus. Jetzt, wo er Hetes Liebe, die einzige Frau, die er wirklich im Leben geliebt hat, verlor!
Ja, er ist ein recht gerissener alter Frauenverführer, dieser Enno Kluge. Er weiß schon, wie man es anpacken muss bei diesen Weibern: Lieben und Lügen, das geht alles in einem hin. Es muss nur ein bisschen Wahres dazwischen sein, sie muss nur ein bisschen von dem Zeug glauben können, das man erzählt, und vor allem muss man stets die Tränen bereithalten und die Hilflosigkeit …
Frau Hete hat diesmal mit einem wahren Schrecken sein Geständnis gehört. Warum hat er sie nur so angelogen? Als sie sich kennenlernten, lag doch noch gar kein Grund für solche Lügen vor! Hatte er denn damals schon Absichten auf sie gehabt? Dann können es nur schlimme Absichten gewesen sein, wenn sie zu solchen Lügen Anlass wurden.
Ihr Instinkt sagt ihr, dass sie ihn wegschicken muss, dass ein Mann, der fähig ist, eine Frau vom ersten Anfang an so bedenkenlos zu täuschen, auch stets bereit sein wird, sie später zu belügen. Und mit einem Lügner kann sie nicht zusammenleben. Sie hat immer ein sauberes Leben gelebt mit ihrem ersten Mann, und diese paar kleinen Geschichten, die es seit seinem Tode gab, über so etwas lächelt eine erfahrene Frau nur.
Nein, aus ihren Armen noch würde sie ihn gehen lassen – wenn sie ihn nicht grade dem Feind in die Arme jagte, der verhassten Gestapo. Denn sie ist fest überzeugt, dass sie das tut, wenn sie ihn jetzt gehen heißt. Diese ganze Verfolgung durch die Gestapo, die nimmt sie seit seiner Erzählung am Abend für bare Münze. Sie kommt nicht einmal auf den Gedanken, an ihrer Wahrheit zu zweifeln, obwohl sie ihn doch eben erst als Lügner kennengelernt hat.
Und dann ist da diese Frau … Es ist nicht möglich, dass alles, was er über diese Frau gesagt hat, unwahr ist. So etwas denkt sich kein Mensch aus, da muss etwas Wahres daran sein. Sie glaubt den Mann doch zu kennen an ihrer Seite, ein schwaches Geschöpf, ein Kind, gutartig eigentlich: mit ein paar freundlichen Worten ist er zu leiten. Aber diese Frau, hart, ehrgeizig, diese Nazistin, die durch die Partei hochkommen will, für die war natürlich ein solcher Mann nichts, ein Mann, der die Partei hasste, vielleicht insgeheim gegen sie arbeitete, ein Mann, der sich weigerte, in die Partei einzutreten!
Konnte sie ihn zurückjagen zu solcher Frau? Der Gestapo in die Arme?
Sie konnte es nicht, und so durfte sie es auch nicht.
Das Licht geht an. Da steht er schon neben ihrem Bett, in einem viel zu kurzen blauen Hemdchen, stille Tränen rinnen jetzt über sein blasses Gesicht. Er beugt sich über sie, er flüstert: »Adieu, Hete! Du bist sehr gut zu mir gewesen, aber ich verdiene es nicht, ich bin ein schlechter Mensch. Adieu! Ich gehe jetzt …«
Sie hält ihn fest. Sie flüstert: »Nein, du bleibst bei mir. Ich habe es dir versprochen, und ich halte mein Versprechen. Nein, sag nichts. Geh jetzt bitte auf das Sofa und versuche, noch ein bisschen zu schlafen. Ich will überlegen, wie alles am besten einzurichten ist.«
Er schüttelt langsam und traurig den Kopf. »Hete, du bist zu gut für mich. Ich will alles tun, was du sagst, aber wirklich, Hete, es ist besser, du lässt mich gehen.«
Aber natürlich geht er nicht. Natürlich lässt er sich überreden zu bleiben. Sie wird alles überlegen, alles ordnen. Und natürlich erreicht er auch, dass die Verbannung zum Sofa wieder aufgehoben wird, dass er wieder zurück zu ihr ins Bett darf. Ganz von ihrer mütterlichen Wärme umschlossen, schläft er bald ein, dieses Mal ohne weiteres Weinen.
Sie aber liegt noch lange wach. Eigentlich liegt sie die ganze Nacht wach. Sie hört auf sein Atmen, es ist schön, wieder einen Mann bei sich atmen zu hören, ihn so nahe im Bett zu haben. Sie war so lange sehr allein. Nun hat sie wieder jemand, für den sie sorgen kann. Ihr Leben ist nicht mehr ohne allen Inhalt. O ja, er wird ihr vielleicht mehr Sorgen machen als gut ist. Aber solche Sorgen, Sorgen um einen Menschen, den man liebhat, das sind gute Sorgen.
Frau Hete beschließt, stark für zwei zu sein. Frau Hete beschließt, ihn vor allen von der Gestapo drohenden Gefahren zu behüten. Frau Hete beschließt, ihn zu erziehen und aus ihm einen wahrhaftigen Menschen zu machen. Frau Hete beschließt, das Hänschen, ach nein, nun heißt er ja Enno, Frau Hete beschließt, den Enno von dieser anderen Frau, der Nazistin, freizukämpfen. Frau Hete beschließt, in dieses Leben da, das nun bei ihr liegt, Ordnung und Sauberkeit zu bringen.
Und Frau Hete hat keine Ahnung, dass dieser schwache Mann an ihrer Seite stark genug sein wird, Unordnung, Leid, Selbstvorwürfe, Tränen, Gefahr in ihr Leben zu bringen. Frau Hete hat keine Ahnung, dass all ihre Stärke zu nichts wurde im gleichen Augenblick, als sie beschloss, diesen Enno Kluge bei sich zu behalten und ihn gegen die ganze Welt zu verteidigen. Frau Hete hat keine Ahnung, dass sie sich selbst mit dem ganzen kleinen Reich, das sie sich aufbaute, in höchste Gefahr gebracht hat.
27. Angst und Furcht
Seit jener Nacht sind zwei Wochen vergangen. Frau Hete und Enno Kluge haben in dem engen Beieinanderleben eines das andere besser kennengelernt. Es war ja nun so, dass der Mann wegen der Furcht vor der Gestapo nicht aus dem Hause durfte. Sie lebten wie auf einer Insel, nur sie zwei. Sie konnten sich nicht aus dem Wege gehen, sich bei anderen Menschen ein wenig frischen Wind um die Nase wehen lassen. Sie waren ganz aufeinander angewiesen.
In den ersten Tagen hatte sie es dem Enno nicht einmal erlaubt, ihr im Laden zu helfen, in diesen ersten Tagen, da sie noch nicht ganz sicher war, ob nicht doch ein Agent der Gestapo ums Haus schlich. Sie hatte ihm gesagt, dass er ganz still in der Stube bleiben müsse. Von niemandem dürfe er sich sehen lassen. Ein wenig überrascht war sie, mit welcher Gelassenheit er diese Eröffnung aufnahm; ihr wäre es schrecklich gewesen, zu solchem untätigen Sitzen in der engen Stube verurteilt zu sein. Aber er hatte nur gesagt: »Nun gut, da werde ich mich ein bisschen pflegen!«
»Und was wirst du tun, Enno?«, hatte sie gefragt. »So ein Tag ist lang, und ich kann mich nicht viel um dich kümmern, und Grübeln trägt nichts ein.«
»Tun?«, hatte er ganz erstaunt gefragt. »Wieso tun? Ach, du meinst arbeiten?« Er hatte es schon auf der Zunge, dass er seiner Ansicht nach eigentlich genug gearbeitet hatte für eine lange Zeit, aber er war noch sehr vorsichtig bei ihr und sagte darum: »Natürlich würde ich gerne was arbeiten. Aber was kann ich denn hier im Zimmer arbeiten? Ja, wenn da ’ne Drehbank stünde!« Und er lachte.
»Aber ich weiß eine Arbeit für dich! Sieh mal her, Enno!«
Sie trug einen großen Karton herein, ganz gefüllt mit allen möglichen Sämereien. Nun stellte sie ein Brettchen vor ihn hin, eines jener hölzernen Zahlbretter mit Rand, wie sie auf vielen Ladentischen stehen. Und sie nahm einen Federhalter zur Hand, in dem die Feder verkehrt herum steckte. Diesen Halter wie eine Schaufel benutzend, fing sie an, eine Handvoll Sämereien, die sie auf das Zahlbrett geschüttet hatte, aufzuteilen in die verschiedenen Sorten. Rasch und geschickt ging die Feder hin und her, teilte, schob in eine Ecke, sonderte wieder, und dabei erklärte sie: »Das sind alles Futterreste, aus den Ecken zusammengefegt, aus zerplatzten Tüten, das habe ich alles gesammelt, seit Jahren. Jetzt, da das Futter so knapp ist, kommt es mir zugute. Ich sortiere es …«
»Aber warum sortierst du es? Das ist ja eine Riesenarbeit! Gib’s den Vögeln doch so zu fressen, die sortieren es sich schon selbst!«
»Und veraasen dabei drei Viertel des Futters! Oder fressen Futter, das ihnen nicht bekommt, und gehen mir ein! Nein, die kleine Arbeit muss man sich schon machen. Ich hab’s meist am Abend getan und am Sonntag, immer wenn ich ein bisschen Zeit hatte. An einem Sonntag habe ich einmal fast fünf Pfund sortiert, neben meiner Hausarbeit! Nun, wir werden ja sehen, ob du meinen Rekord schlägst. Du hast ja jetzt viel Zeit, und es denkt sich gut dabei nach. Sicher hast du viel nachzudenken. So, nun versuch du es einmal, Enno!«
Sie gab ihm die kleine Schaufel in die Hand und sah zu, wie er zu arbeiten anfing.
»Du bist gar nicht ungeschickt!«, lobte sie ihn. »Du hast kluge Hände!«
Und einen Augenblick später: »Aber du musst besser aufpassen, Hänschen – nein, Enno, meine ich. Ich muss mich erst daran gewöhnen! Sieh mal, dies spitze glänzende Korn, das ist Hirse, und das stumpfe, schwarze, runde, das ist Raps. Das darfst du nicht durcheinanderbringen. Die Sonnenblumenkerne nimmst du am besten vorher mit den Fingern heraus, das geht schneller als mit der Feder. Warte, ich hole dir noch Schalen, in die du das fertig Sortierte tun kannst!«
Sie war ganz Eifer, ihn für seine langweiligen Tage mit Arbeit zu versorgen. Dann ging die Ladenklingel zum ersten Mal, und von nun an riss es nicht ab mit Kunden, sie konnte ihn immer nur für einen Augenblick besuchen. Dann traf sie ihn träumend vor seinem Zahlbrett mit den Sämereien. Oder noch schlimmer war es, wenn er sich eilig, vom Geräusch der Tür erschreckt, an seinen Arbeitsplatz schlich wie ein Kind, das beim Faulsein ertappt ist.
Sie sah bald, nie würde er ihren Rekord von fünf Pfund schlagen, er würde es nicht einmal auf zwei Pfund bringen. Und die würde sie auch noch einmal durchsehen müssen, so liederlich hatte er gearbeitet.
Sie war ein bisschen enttäuscht, aber sie gab ihm recht, als er sagte: »Nicht ganz zufrieden, Hete, was?« Er lachte verlegen. »Aber, weißt du, das ist keine richtige Arbeit für einen Mann. Gib mir ’ne richtige Arbeit für einen Mann, und du sollst mal sehen, wie ich loshaue!«
Natürlich hatte er recht, und am nächsten Tag setzte sie ihm das Brett mit den Sämereien nicht mehr hin. »Du musst eben sehen, wie du den Tag hinbringst, du Armer!«, sagte sie tröstend. »Es muss schrecklich für dich sein. Aber vielleicht liest du ein bisschen? Ich habe dort im Schrank noch viele Bücher von meinem Mann. Warte, ich schließe dir gleich auf.«
Er stand hinter ihr, als sie die Reihen musterte. »Es sind freilich fast alles marxistische Bücher. Du weißt ja, er war Funktionär in der KPD.[25] Da, den Lenin habe ich noch grade bei einer Haussuchung gerettet. Ich hatte ihn ins Ofenloch gesteckt, und grade wollte ein SA-Mann die Ofentür aufmachen, da gab ich ihm rasch eine Zigarette, und er vergaß es.« Sie sah ihm ins Gesicht. »Aber das sind wohl keine Bücher für dich, Lieber, was? Ich muss dir gestehen, ich habe auch kaum hineingesehen, seit mein Mann tot ist. Vielleicht ist das falsch, jeder müsste sich um Politik kümmern. Hätten wir das alle rechtzeitig getan, so wäre es nicht gekommen, wie es jetzt durch die Nazis geworden ist, das hat Walter immer gesagt. Aber ich bin nur eine Frau …«
Sie brach ab, sie merkte, er hatte gar nicht hingehört.
»Aber da unten stehen noch ein paar Romane von mir.«
»Am liebsten hätte ich einen richtigen Detektivroman, so was mit Verbrechern und Mord«, erklärte Enno.
»Ich glaube, so was ist nicht da. Aber hier habe ich ein wirklich schönes Buch, das habe ich immer wieder gelesen. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse. Das versuch mal, das wird dich freuen …«
Aber sie sah, wenn sie in die Stube kam, er las nicht darin. Es lag aufgeschlagen auf dem Tisch, später war es beiseitegeschoben. »Es gefällt dir nicht?«
»Ach, weißt du, ich weiß nicht … Das sind alles so schrecklich gute Menschen, so was ist doch langweilig. So ein richtig frommes Buch ist das. Kein Buch für einen Mann. Wir wollen mehr was Aufregendes, verstehst du …«
»Schade«, sagte sie. »Schade.« Und sie stellte das Buch in den Schrank zurück.
Es irritierte sie, wenn sie jetzt in die Stube kam, den Mann dasitzen zu sehen, immer in der gleichen schlaffen Haltung, vor sich hin dösend. Oder er schlief auch, den Kopf auf den Tisch gelegt. Oder er stand am Fenster und starrte auf den Hof, immer die gleiche Melodie vor sich hin pfeifend. Es irritierte sie sehr. Sie war immer eine tätige Frau gewesen, sie war es noch, ein Leben ohne Arbeit wäre ihr sinnlos erschienen. Am liebsten hatte sie es, wenn der ganze Laden voller Kunden stand, und sie hätte sich am liebsten in zehn Stücke zerteilt.
Und da stand nun dieser Mann, stand, saß, hockte, lag zehn Stunden, zwölf Stunden, vierzehn Stunden und tat nichts, rein gar nichts! Er stahl dem lieben Herrgott den Tag! Was fehlte ihm denn? Er schlief genug, er aß mit Appetit, es ging ihm nichts ab, aber er arbeitete nicht! Einmal riss ihr die Geduld, und sie sagte gereizt: »Wenn du nur nicht immer dieselbe Melodie pfeifen wolltest, Enno! Seit sechs, acht Stunden pfeifst du schon: Kleine Mädchen müssen schlafen gehn …«
Er lachte verlegen. »Stört dich meine Pfeife? Na, ich kann auch anders. Soll ich dir mal das Horst-Wessel-Lied pfeifen?« Und er fing an: Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen. SA marschiert mit mutig festem Schritt …









