Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Ohne ein Wort ging sie in den Laden zurück. Diesmal hatte er sie nicht nur irritiert, diesmal war sie ernstlich verletzt.
Aber das verging wieder. Sie war nicht nachtragend, und außerdem hatte auch er gemerkt, dass er etwas falsch gemacht hatte, und hatte ihr als Überraschung eine neue Lampe über dem Bett zurechtgebastelt. Ja, so was konnte er auch; wenn er wollte, war er geschickt genug, aber meist wollte er nicht.
Übrigens gingen diese Tage seiner Verbannung in die Stube rasch vorüber. Frau Hete hatte sich bald davon überzeugt, dass wirklich kein Spitzel um das Haus herumstrich, und Enno konnte wieder im Laden helfen. Auf die Straße freilich durfte er vorläufig überhaupt nicht, immer konnte ihn ein Bekannter sehen. Aber im Laden helfen, das konnte er, und da erwies er sich nun wieder recht nützlich und geschickt. Sie sah bald, dass ihn eine längere Zeit gleichförmig hintereinander ausgeführte Arbeit rasch ermüdete, so gab sie ihm jetzt dies, dann das zu tun.
Bald ließ sie ihn auch bei der Kundenbedienung helfen. Er wurde gut mit der Kundschaft fertig, er war höflich, schlagfertig, manchmal sogar auf eine etwas schlafmützige Art witzig.
»Mit dem Herrn haben Sie aber einen guten Griff getan, Frau Häberle«, sagten alte Kunden. »Wohl was Verwandtes?«
»Ja, ein Vetter von mir«, log Frau Hete und war glücklich über dies Enno gespendete Lob.
Eines Tages sagte sie zu ihm: »Enno, ich möchte eigentlich heute nach Dahlem fahren. Du weißt doch, die Tierhandlung von Löbe dort macht zu, weil er zur Wehrmacht muss. Ich kann seine Bestände kaufen. Er hat sehr viel zu liegen, es würde eine große Hilfe für uns sein, wo die Ware doch immer knapper wird. Glaubst du, dass du allein mit dem Laden fertig wirst?«
»Aber selbstredend, Hete, selbstredend! So was erledige ich doch spielend. Wie lange willst du denn fortbleiben?«
»Na, ich würde gleich nach dem Mittagessen fahren, aber ich glaube nicht, dass ich bis Ladenschluss zurück sein werde. Ich möchte dann auch gleich bei meiner Schneiderin rangehen …«
»Tu das, Hete. Von mir aus hast du Urlaub bis Mitternacht. Um den Laden hier mach dir keine Sorgen, den erledige ich dir prima.«
Er setzte sie noch in die U-Bahn. Es war Mittagspause, der Laden war geschlossen.
Sie lächelte vor sich hin, als der Wagen schon fuhr. Das Leben zu zweien war doch ein ander Leben! Es war schön, wenn man so gemeinsam arbeitete. Dann erst hatte man abends das richtige Gefühl von Befriedigung. Und er gab sich Mühe, entschieden gab er sich Mühe, es ihr recht zu machen. Er tat, was er konnte. Sicher war er kein energischer oder auch nur fleißiger Mensch, sie gestand es sich ein. Wenn er zu viel hatte laufen müssen, zog er sich gerne einmal in die Stube zurück, der Laden mochte noch so voll stehen, er überließ ihr die Kundschaft allein. Oder sie fand ihn nach langem vergeblichem Rufen im Keller, wie er auf dem Rand der Sandkiste saß und vor sich hin döste; das halb mit Sand gefüllte Eimerchen stand vor ihm – und sie wartete schon zehn Minuten darauf!
Er fuhr zusammen, wenn sie ihn ein wenig scharf anrief: »Enno, wo bleibst du bloß? Ich warte mir die Seele aus dem Leibe!«
Wie ein erschrockener Schuljunge sprang er auf. »Ein bisschen eingedöst«, murmelte er verlegen und fing langsam zu schippen an. »Komme gleich, Frau Chefin, soll auch nicht wieder passieren.«
Mit solchen kleinen Scherzen versuchte er dann, sie zu versöhnen.
Nein, in keiner Hinsicht ein großes Kirchenlicht, dieser Enno, soweit sah sie jetzt schon klar, aber er tat, was er konnte. Und dabei gut zu leiden, höflich, umgänglich, anschmiegsam, ohne ersichtliche Laster. Dass er ein bisschen sehr viel Zigaretten rauchte, das sah sie ihm nach. Sie rauchte selber gerne mal eine, wenn sie abgespannt war …
Mit ihren Besorgungen aber hatte Frau Hete an diesem Tage Pech. Das Geschäft von Löbe in Dahlem war geschlossen, als sie hinkam, man konnte ihr auch nicht sagen, wann Herr Löbe zurückkam. Nein, eingezogen war er noch nicht, aber er hatte jetzt wohl viele Gänge durch seine Einberufung. Vormittags ab zehn Uhr war das Geschäft sonst immer geöffnet gewesen – vielleicht versuchte sie es morgen Vormittag?
Sie dankte und fuhr zu ihrer Schneiderin. Vor dem Hause aber blieb sie erschrocken stehen. In der Nacht war eine Fliegerbombe hineingegangen, das Haus war nur noch eine Ruine. Die Leute gingen eilig daran vorüber, manche mit absichtlich abgewandten Gesichtern, die das Grauen der Zerstörung nicht sehen wollten oder die Angst hatten, ihre Erbitterung nicht verbergen zu können, andere besonders langsam (Polizei sorgte dafür, dass niemand stehen blieb), entweder mit sorglos lächelnden, neugierigen Gesichtern oder mit einem finsteren, fast drohenden Blick die Verwüstung musternd.
Ja, Berlin wurde jetzt öfter in den Keller geschickt, und jetzt fielen auch immer häufiger Bomben und die gefürchteten Phosphorkanister. Immer öfter wurde jetzt auch das Wort Görings zitiert, er wolle Meier heißen, wenn sich ein feindliches Flugzeug über Berlin sehen ließe. In der vergangenen Nacht hatte Frau Hete auch im Keller gesessen, allein, denn sie wollte nicht, dass Enno schon jetzt als ihr offizieller Freund und Hausgenosse gesehen wurde. Sie hatte das Surren der Flieger über sich gehört, dieses nervenzerrüttende Geräusch, wie wenn immer wieder eine Mücke sirrt und surrt. Das Geräusch von Einschlägen hatte sie nicht gehört, ihre Gegend war bisher noch ganz verschont geblieben. Die Leute erzählten ja, die Engländer wollten den Arbeitern nichts tun, sie wollten nur die feinen Familien im Westen erledigen …
Die Schneiderin war kein reicher Mensch gewesen, nun hatte es sie doch getroffen. Frau Hete Häberle suchte von einem Schutzmann zu erfahren, wo die Schneiderin geblieben, ob ihr etwas geschehen sei. Der Schutzmann bedauerte, keine Auskunft geben zu können. Vielleicht ginge die Dame mal aufs Revier, oder sie erkundigte sich auch auf der nächsten Stelle des Luftschutzbundes?
Aber dazu hatte Frau Hete jetzt keine Ruhe. So leid ihr die Schneiderin auch tat und so gerne sie etwas über ihr Ergehen erfahren hätte, es drängte Hete jetzt nach Haus. Immer, wenn man so etwas sah, drängte es einen nach Haus. Sofort musste man sich dort überzeugen, dass auch alles in Ordnung war. Es war töricht, man wusste es, aber man fuhr doch los. Man musste sich erst mit eigenen Augen überführen, dass dort nichts geschehen war.
Aber leider war doch etwas geschehen mit der kleinen Tierhandlung am Königstor. Nichts Tragisches, gewiss nicht, und doch erschütterte es Frau Häberle tief, tiefer als manches Erlebnis in vielen Jahren. Frau Häberle fand den Rollladen vor dem Laden hinuntergelassen, und an ihm war ein Schild festgemacht, ein Schild mit der dummen Inschrift, über die sie sich immer empört hatte: »Komme gleich wieder.« Und darunter: »Frau Hedwig Häberle.«
Dass unter diesem Zettel auch noch ihr Name stand, dass sie mit ihrem guten Namen diese Liederei und Pflichtvergessenheit decken musste, das beleidigte sie fast ebenso tief wie der Vertrauensbruch, den Enno begangen hatte. Hinter ihrem Rücken fortgeschlichen, und hinter ihrem Rücken hätte er auch wieder aufgemacht, hätte ihr kein Wort davon gesagt, dass er sie belogen hatte. Und wie dumm dabei, wie überaus dumm, denn es war doch fast sicher, dass eine ihrer Stammkundinnen sie fragte: »Gestern Nachmittag zugehabt? Unterwegs gewesen, Frau Häberle?«
Sie kommt über den Hausflur in ihre Wohnung. Dann zieht sie den Laden vor ihrer Ladentür hoch, öffnet die Tür. Sie wartet, bis der erste Kunde kommt, nein, sie möchte jetzt gar nicht, dass er kommt. Solch ein Verrat hinter ihrem Rücken – in ihrer ganzen Ehe mit Walter hat es nie so etwas gegeben. Immer hatten sie volles Vertrauen zueinander, und nie hatte eines je das Vertrauen des anderen getäuscht. Und nun dies! Sie hatte ihm doch nicht die geringste Veranlassung gegeben!
Die erste Kundin kommt, sie wird von ihr bedient; aber als Hete ihr auf einen Zwanzigmarkschein herausgeben will und die Ladenkasse aufzieht, ist die leer. Es war reichlich Wechselgeld in der Kasse, als sie fortging, an die hundert Mark. Und nun ist die Kasse leer. Sie bezwingt sich, sie holt aus ihrer Handtasche Geld, gibt heraus, fertig! Die Ladentür bimmelt.
Ja, jetzt möchte sie den Laden zuschließen und ganz mit sich allein sein. Ihr fällt ein – während sie immer weiter Kundschaft abfertigt –, dass es ihr in den letzten Tagen schon ein paarmal so vorgekommen war, als könne die Kasse nicht ganz stimmen, als müsse die Tageslosung höher sein. Damals hat sie solche Gedanken unmutig verjagt. Was sollte Enno auch mit dem Gelde anfangen? Er kam ja gar nicht aus dem Hause, war immer unter ihren Augen!
Aber jetzt denkt sie daran, dass die Toilette auf der halben Treppe liegt und dass er viel mehr Zigaretten geraucht hat, als er in seinem Köfferchen mitgebracht haben kann. Sicher hat er jemanden im Hause gefunden, der ihm Zigaretten holt, schwarz gekaufte, ohne Karte, hinter ihrem Rücken! Wie schmählich und gemein! Sie hätte ihn liebend gerne mit Zigaretten versorgt, er hätte nur den Mund auftun müssen!
In diesen anderthalb Stunden bis zum Wiederauftauchen Ennos kämpft Frau Häberle einen schweren Kampf mit sich. In den letzten Tagen hat sie sich daran gewöhnt, dass wieder ein Mann im Hause ist, dass sie nicht mehr allein ist, sondern für jemanden zu sorgen hat, für jemanden, den sie gerne hat. Aber wenn der Mann so ist, wie es jetzt den Anschein hat, so muss sie die Liebe ausreißen aus ihrem Herzen! Besser allein sein, als in solch ewigem Misstrauen und in solcher grauenvollen Angst leben! Sie kann ja nicht mehr um die Ecke in den Grünkram gehen, schon muss sie Angst haben, er betrügt sie wieder!
Und dann fällt Hete ein, dass es ihr auch so vorgekommen ist, als lägen die Sachen nicht ganz richtig in ihrem Wäschespind. Nein, es muss sein, sie muss ihn fortschicken, heute noch, so schwer es ihr auch fällt. Später würde es noch schwerer sein.
Aber dann denkt sie daran, dass sie eine alternde Frau ist, dass dies vielleicht ihre letzte Gelegenheit ist, einem einsamen Lebensabend zu entgehen. Nach diesem Erlebnis mit Enno Kluge wird sie sich kaum noch entschließen, mit einem anderen Manne es aufs Neue zu versuchen. Nach diesem erschreckenden, zerschmetternden Erlebnis mit Enno!
»Ja, Mehlwürmer sind wieder da. Wie viel darf es denn sein, meine Dame?«
Eine halbe Stunde vor Ladenschluss kommt Enno. Es ist für ihren Gefühlszustand bezeichnend, dass sie erst jetzt daran denkt, dass er sich ja gar nicht auf der Straße sehen lassen soll, in solcher Gefahr, wie er durch die Gestapo war! Bisher hat sie daran gar nicht denken können, so sehr war sie mit dem Verrat beschäftigt, den er an ihr begangen. Aber was helfen denn alle Vorsichtsmaßregeln, wenn er in ihrer Abwesenheit einfach losläuft? Und vielleicht ist all das mit der Gestapo auch Lug und Trug? Bei diesem Manne ist alles möglich!
Er hat natürlich schon an dem hochgezogenen Rollladen gemerkt, dass sie wieder im Laden ist. Er kommt von der Straße herein, vorsichtig und behutsam schlängelt er sich durch die Kunden, lächelt ihr zu, als sei nicht das Geringste vorgefallen, und sagt, in der Stube verschwindend: »Ich komme gleich und helfe, Chefin!«
Und er kommt wirklich sehr schnell zurück, und notgedrungen, um vor der Kundschaft das Ansehen zu bewahren, muss sie mit ihm sprechen, ihm Anweisungen geben, tun, als sei nichts geschehen – und doch ist ihre Welt eingestürzt! Aber sie lässt sich nichts merken, sie geht sogar auf seine schwachen Witzchen ein, die er heute besonders reichlich bereithält, und nur, als er an die Ladenkasse will, sagt sie scharf: »Bitte, die Kasse besorge ich!«
Er ist etwas zusammengefahren, mit einem scheuen Blick sieht er sie von der Seite an – wie ein Hund, der geschlagen wird, ja, genau wie ein verprügelter Hund, denkt sie. Dann hat sich seine Hand in die Tasche getastet, ein Lächeln ist auf sein Gesicht getreten, jawohl, er hat den Schlag schon wieder verwunden.
»Zu Befehl, Chefin!«, schnarrt er und knallt die Absätze zusammen.
Die Kunden lachen über den kleinen, komischen Mann, der da Soldat spielen will, aber ihr ist nicht zum Lachen zumute.
Dann ist der Laden geschlossen. Fünf viertel Stunden arbeiten sie noch eifrig miteinander, ganz mit Füttern und Tränken und Säubern beschäftigt, beide schließlich fast wortlos, nachdem sie auf seine Scherze, die er immer wieder versuchte, nicht eingegangen war.
Frau Hete steht in der Küche, sie macht das Abendessen zurecht. Sie hat Bratkartoffeln in der Pfanne, richtige, schöne Bratkartoffeln, mit Speck angebraten. Den Speck hat sie von einer Kundin im Austausch gegen einen Harzer Roller bekommen. Sie hat sich darauf gefreut, ihn mit einem so schönen Abendessen überraschen zu können, denn er isst gerne was Gutes. Die Kartoffeln werden schön goldgelb.
Aber plötzlich löscht sie die Gasflamme unter der Pfanne. Plötzlich kann sie auf diese Aussprache nicht mehr warten. Sie geht in die Stube, lehnt sich mit dem Rücken, dunkel und massig, gegen den Ofen und fragt in einem fast drohenden Tone: »Nun?«
Er hat am Tisch gesessen, dem Abendbrottisch, den er für sie beide gedeckt hatte, vor sich hin flötend, nach seiner Gewohnheit.
Bei diesem drohenden »Nun?« fährt er zusammen, er steht auf und sieht zu der dunklen Gestalt hinüber.
»Ja, Hete?«, sagt er. »Gibt’s bald Abendessen? Ich hab mächtigen Kohldampf.«
Sie möchte ihn vor Wut schlagen, diesen Mann, der glaubt, sie ist bereit, einen solchen Verrat totzuschweigen! Der fühlt sich ja schon sehr sicher, dieser Herr, weil er mit ihr in einem Bett geschlafen hat! Sie ist von einem ganz ungewohnten Zorn erfasst, am liebsten würde sie den Kerl schütteln und schlagen, noch einmal und noch einmal.
Aber sie bezwingt sich und wiederholt nur noch einmal ihr »Nun?«, nur noch drohender.
»Ach so!«, sagt er. »Du meinst das mit dem Geld, Hete.« Er greift in die Tasche und zieht einen Haufen Scheine hervor. »Da, Hete, das sind 210 Mark, und ich hatte 92 Mark aus der Kasse genommen.« Er lacht ein bisschen verlegen. »Damit ich doch auch etwas zur Wirtschaft beisteuere!«
»Und wie kommst du zu dem vielen Geld?«
»Heute Nachmittag war das große Traberrennen in Karlshorst. Ich bin grade noch rechtzeitig gekommen, um Adebar zu setzen. Adebar, Sieg. Ich wett nämlich gerne auf Pferde. Ich verstehe ziemlich viel von Rennen, Hete.« Er sagt das mit einem bei ihm ganz ungewohnten Stolz. »Nicht die ganzen 92, nur 50 Mark habe ich gesetzt. Die Quote war …«
»Und was hättest du getan, wenn das Pferd nicht gewonnen hätte?«
»Aber Adebar musste gewinnen – da gab’s gar nichts anderes!«
»Und wenn er doch nicht gewonnen hätte?«
Jetzt ist er es einmal, der sich der Frau überlegen fühlt. Er lächelt, als er sagt: »Sieh mal, Hete, du verstehst nichts vom Rennsport, ich verstehe aber alles davon. Und wenn ich sage: Adebar gewinnt, und riskiere sogar 50 Mark darauf …«
Sie unterbricht ihn. Sie sagt scharf: »Du hast mein Geld riskiert! Das will ich nicht haben! Wenn du Geld brauchst, sagst du es, du sollst bei mir nicht nur für die Kost arbeiten müssen. Aber ohne meine Erlaubnis nimmst du kein Geld aus der Kasse, verstanden?«
Bei diesem ungewohnt scharfen Ton ist er wieder völlig unsicher geworden. Er sagt klagend (und sie weiß, gleich wird er losweinen, und sie fürchtet sich schon vor diesen Tränen), er sagt also klagend: »Aber wie redest du denn mit mir, Hete? Als ob ich nur dein Arbeiter wäre! Natürlich nehme ich nicht wieder Geld aus der Kasse. Ich dachte bloß, ich würde dir eine Freude machen, wenn ich so schön Geld verdiene. Wo der Sieg doch auch ganz sicher war!«
Sie geht gar nicht auf dieses Geschwätz ein. Das Geld war ihr ja immer Nebensache, das Wichtige war das enttäuschte Vertrauen. Er denkt jetzt, sie ist bloß wegen des Geldes ärgerlich, so ein Schwachkopf! Sie sagt: »Und wegen dieser Pferdewetterei hast du also einfach den Laden zugemacht?«
»Ja«, sagt er. »Du hättest ihn doch auch zumachen müssen, wenn ich nicht da gewesen wäre!«
»Und dass du ihn zumachen wolltest, das hast du schon gewusst, als ich fortging?«
»Ja«, sagt er ganz dumm. Und verbessert sich rasch: »Nein, natürlich nicht, sonst hätte ich dich um Erlaubnis gebeten. Es ist mir erst eingefallen, als ich bei dem kleinen Laden von dem Buchmacher vorbeikam, in der Neuen Königstraße, weißt du. Da las ich im Vorbeigehen die Tipps, und als ich da als Außenseiter Adebar las, da habe ich mich erst entschlossen.«
»So!«, sagt sie. Sie glaubt ihm nicht. Das hat er schon vorher vorgehabt, ehe er sie in die U-Bahn setzte. Ihr ist eingefallen, dass er heute früh so lange mit der Zeitung herumgeknistert hat und dass er dann lange auf einem Zettel gerechnet hat, immer noch, als schon die ersten Kunden im Laden waren. »So!«, sagt sie noch einmal. »Und du gehst also einfach in der Stadt spazieren, wo wir doch ausgemacht haben, du lässt dich wegen der Gestapo möglichst nicht draußen sehen?«
»Du hast doch auch erlaubt, dass ich dich bis an die U-Bahn bringe!«
»Da waren wir zusammen. Und ich hatte ausdrücklich gesagt, es sollte ein Versuch sein! Das heißt noch nicht, dass du den halben Tag in der Stadt herumläufst. Wo bist du denn gewesen?«
»Ach, nur in so ’nem kleinen Lokal, das ich von früher kenne. Da kommt nie einer von der Gestapo hin, da verkehren nur Buchmacher und Rennwetter.«
»Die dich alle kennen! Die alle überall erzählen können: Wir haben den Enno Kluge da und dort gesehen!«
»Aber die Gestapo weiß doch auch, dass ich irgendwo sein muss. Nur wo, weiß sie nicht. Das Lokal ist sehr weitab von hier, auf dem Wedding. Und ein Bekannter war nicht dort, der mich verpfeifen könnte!«
Er redet ganz eifrig und gutherzig; wenn man auf ihn hört, ist er vollkommen in seinem Recht. Er versteht gar nicht, wie sehr er ihr Vertrauen enttäuscht hat, was für einen Kampf sie seinetwegen mit sich kämpft. Geld genommen – um ihr eine Freude zu machen. Das Geschäft geschlossen – hätte sie ja auch getan. In ein Lokal gegangen – war ja weit weg am Wedding. Dass sie sich aber um ihre Liebe geängstigt hatte, davon verstand er gar nichts, das ging nicht in seinen Schädel hinein!
»Also, Enno«, fragt sie, »das ist alles, was du dazu zu sagen hast? Oder?«
»Ja, was soll ich denn noch sagen, Hete? Ich seh ja, du bist mächtig unzufrieden mit mir, aber ich finde wirklich nicht, dass ich so viel falsch gemacht habe!« Nun kamen sie doch, die gefürchteten Tränen. »Ach, Hete, sei doch bloß wieder gut zu mir! Ich will dich auch gewiss vorher nach allem fragen! Sei bloß wieder lieb zu mir. So halte ich es nicht aus …«
Aber diesmal verfingen weder Tränen noch Bitten. Etwas klang falsch darin. Es ekelte sie beinahe vor dem weinenden Manne.
»Das muss ich mir alles erst gut überlegen, Enno«, sagte sie voll Abwehr. »Du scheinst gar nicht zu verstehen, wie schwer du mein Vertrauen enttäuscht hast.«
Und sie ging an ihm vorbei in die Küche, die Kartoffeln weiter zu braten. Da hatte sie also diese Aussprache gehabt. Und was hatte sie gebracht? Hatte sie Erleichterung gebracht, die Verhältnisse geklärt, eine Entscheidung erleichtert?
Nichts von alledem! Sie hatte ihr nur gezeigt, dass dieser Mann gar kein Gefühl dafür hatte, wenn er schuldig geworden war. Dass er besinnungslos log, wenn die Lage das zu erfordern schien, wobei es ihm gar nicht darauf ankam, wen er anlog.
Nein, solch ein Mann war nicht der richtige Mann für sie. Sie musste mit ihm zum Schluss kommen. Freilich, eines war klar, heute Abend konnte sie ihn nicht mehr auf die Straße setzen. Er wusste ja gar nicht, was er verbrochen hatte. Er war wie ein junger Hund, der ein Paar Schuhe zerbissen hat und keine Ahnung besitzt, warum sein Herr ihn eigentlich verprügelt.
Nein, ein oder zwei Tage musste sie ihm schon Zeit lassen, ein neues Quartier zu suchen. Wenn er dabei der Gestapo in die Hände fällt – sie muss es darauf ankommen lassen. Er lässt es ja auch darauf ankommen – wegen einer Rennwette! Nein, sie muss sich von ihm freimachen, sie kann nie wieder Vertrauen zu ihm finden. Allein muss sie für sich leben, von nun an bis zu ihrem Tode! Und bei diesem Gedanken wird ihr angst.
Aber trotz dieser Angst sagt sie nach dem Abendessen zu ihm: »Ich habe mir alles überlegt, Enno, wir müssen uns trennen. Du bist ein netter Mann, du bist auch ein lieber Mann, aber du siehst die Welt zu sehr mit anderen Augen an, auf die Dauer könnten wir uns nicht vertragen.«
Er blickt starr auf sie, die wie zur Bekräftigung ihrer Worte ihm das Bett auf dem Sofa richtet. Er will erst seinen Ohren nicht trauen, und dann wimmert er los: »O Gott, Hete, das kannst du doch nicht wirklich meinen! Wo wir beide uns doch so liebhaben! Das kannst du doch nicht wollen, mich auf die Straße und der Gestapo in die Arme zu jagen!«
»Ach!«, sagt sie und will sich durch die eigenen Worte beruhigen. »Das mit der Gestapo wird auch nur halb so schlimm sein, sonst wärest du heute nicht den halben Tag in der Stadt herumgelaufen!«
Aber er bricht in die Knie. Wahrhaftig, er rutscht auf den Knien zu ihr hin. Die Furcht hat ihn ganz besinnungslos gemacht. »Hete! Hete!«, schreit und schluchzt er. »Du willst mich doch nicht töten? Du musst mich hierbehalten! Wo soll ich denn hin? Ach, Hete, hab mich doch ein bisschen lieb, ich bin ja so unglücklich …«
Heulen und Geschrei, ein kleiner, vor Angst winselnder Hund!
Er will ihre Beine umklammern, er fasst nach ihren Händen. Sie flieht vor ihm in ihr Schlafzimmer, sie riegelt sich ein. Aber die ganze Nacht hört sie ihn immer wieder gegen die Tür stoßen, die Klinke probieren, wimmern und betteln …
Sie liegt ganz still. Sie sammelt in sich alle Kraft, nicht nachzugeben, sich nicht weich machen zu lassen von ihrem eigenen Herzen und dem Gebettel da draußen! Sie bleibt fest bei ihrem Entschluss, nicht weiter mit ihm zusammenzuleben.
Beim Frühstück sitzen sie einander mit bleichen, übernächtigten Gesichtern gegenüber. Sie sprechen kaum ein Wort miteinander. Sie tun, als ob die Auseinandersetzung nie gewesen wäre.
Aber er weiß jetzt Bescheid, denkt sie, und wenn er sich heute kein Zimmer sucht, morgen Abend muss er mir doch aus dem Haus. Morgen Mittag sage ich es ihm noch einmal. Wir müssen uns trennen!
O ja, Frau Hete Häberle ist eine ebenso mutige wie anständige Frau. Und dass sie ihren Entschluss dann doch nicht durchführt, dass sie den Enno doch nicht von sich stößt, das liegt nicht an ihr, das liegt an Menschen, die sie noch gar nicht kennt. Zum Beispiel an dem Kommissar Escherich und dem Herrn Barkhausen.
28. Emil Barkhausen macht sich nützlich
Während Enno Kluge und Frau Häberle sich zu einer Lebensgemeinschaft vereinten, die so schnell wieder zerbrach, hatte Kommissar Escherich schwere Zeiten hinter sich. Er hatte es verschmäht, seinem Vorgesetzten Prall zu verheimlichen, dass Enno Kluge seinen Beschattern so schnell wieder entronnen und, ohne eine Spur zu hinterlassen, im Meer der Großstadt untergetaucht war.
Kommissar Escherich hatte ergeben all die Beschimpfungen auf sich herabhageln lassen, die infolge dieses Geständnisses fällig waren: er war ein Idiot, er war ein Nichtskönner, man würde ihn einlochen, diese Schlafmütze, die es in fast einem Jahre nicht mal fertiggebracht hatte, einen blöden Postkartenschreiber zu ermitteln!
Und hatte er mal eine Spur, so ließ er den Kerl wieder laufen, Trottel, der er war! Eigentlich hatte Kommissar Escherich Beihilfe zum Hochverrat geleistet, und danach würde man auch mit ihm verfahren, wenn er nicht binnen heute und einer Woche diesen Enno Kluge dem Obergruppenführer Prall vorführte.
Ja, Kommissar Escherich hatte diese Beschimpfungen ergeben angehört. Aber sie hatten eine seltsame Wirkung auf ihn: trotzdem er doch genau wusste, dass dieser Enno Kluge nicht das Geringste mit den Postkarten zu tun hatte, dass er ihm nicht einen Schritt weiter auf dem Wege zur Feststellung des wirklichen Täters helfen konnte, trotzdem konzentrierte sich plötzlich das Interesse des Kommissars fast nur auf die Feststellung des kleinen, bedeutungslosen Enno Kluge. Es war doch auch wirklich zu ärgerlich, dass diese Wanze, mit der er seinen Vorgesetzten so schön hatte hinhalten wollen, ihm durch die Finger geschlüpft war. In dieser Woche war der Klabautermann besonders fleißig gewesen: drei Karten von ihm landeten auf dem Schreibtisch des Kommissars. Aber zum ersten Mal, seit er diese Sache bearbeitete, interessierten Escherich die Karten und der Schreiber überhaupt nicht. Er vergaß sogar, auf seinem Stadtplan von Berlin die Fundstelle mit Fähnchen zu markieren.
Nein, erst einmal wollte er diesen Enno Kluge wiederhaben, und Kommissar Escherich machte wirklich ungewöhnliche Anstrengungen, den Mann zu kriegen. Er fuhr sogar ins Ruppinsche, zu Eva Kluge, für alle Eventualitäten mit einem Haftbefehl gegen sie und gegen ihn ausgerüstet. Aber er sah doch bald, dass diese Frau wirklich nicht das Geringste mehr mit dem Manne zu tun hatte und dass sie sehr wenig von seinem Leben im letzten Jahre wusste.










