Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Sie kommt in die Stube, wo ihr Mann rastlos auf und ab geht. Sie brennen kein Licht, aber er hat die Verdunklung hochgezogen, es ist Mondschein.
Otto geht auf und ab, immer noch wortlos.
»Otto!«
»Ja?«
Er bleibt mit einem Ruck stehen und sieht zu der Frau hinüber, die sich in die Sofaecke gesetzt hat, kaum sichtbar in dem fahlen, schwachen Mondlicht, das in die Stube sickert.
»Otto, ich glaube, jetzt machen wir am besten erst einmal eine Pause. Im Augenblick haben wir kein Glück.«
»Geht nicht«, antwortet er. »Geht nicht, Anna. Das würde auffallen, wenn plötzlich keine Karten mehr kommen. Jetzt grade, wo sie uns beinahe erwischt haben, würde es besonders auffallen. So dumm sind die auch nicht – die würden merken, dass da ein Zusammenhang besteht zwischen uns und den Karten, die plötzlich nicht mehr kommen. Wir müssen schon weitermachen, ob wir wollen oder nicht.«
Er setzte hart hinzu: »Und ich will!«
Sie seufzte schwer. Sie hatte nicht den Mut, ihm laut beizustimmen, obwohl sie einsah, er hatte recht. Dies war kein Weg, auf dem man einhalten konnte, wenn man wollte. Es gab kein Zurück, keine Ruhe. Man musste immer weiter.
Nach einer Weile Nachdenkens sagte sie: »Dann lass mich von jetzt an die Karten fortbringen, Otto. Du hast jetzt kein Glück damit.«
Grollend sagte er: »Ich kann nichts dafür, wenn solch ein Angeber drei Stunden hinter dem Guckloch sitzt. Ich habe mich überall genau umgesehen, ich war vorsichtig!«
»Ich habe nicht gesagt, Otto, dass du unvorsichtig warst. Ich hab gesagt, du hast jetzt kein Glück. Dafür kannst du nichts.«
Wieder lenkt er ab. »Wo bist du eigentlich mit der zweiten Karte geblieben? Am Leibe versteckt?«
»Das ging nicht, weil doch immer Leute dabei waren. Nein, Otto, ich habe sie in einen Briefkasten am Nollendorfplatz gesteckt, gleich in der ersten Aufregung.«
»Briefkasten? Sehr gut. Hast du gut gemacht, Anna. Wir werden in den nächsten Wochen überall, wo wir grade sind, Karten in die Briefkästen stecken, damit diese eine nicht so auffällt. Briefkästen sind gar nicht so schlecht, auch bei der Post werden nicht nur Nazis sein. Und das Risiko ist auch geringer.«
»Bitte, Otto, lass mich die Karten von nun an verteilen«, bat sie noch einmal.
»Du musst nicht glauben, Mutter, dass ich einen Fehler gemacht habe, den du hättest vermeiden können. Das sind die Zufälle, vor denen ich mich immer gefürchtet habe, gegen die es keine Vorsicht gibt, weil man sie nicht voraussehen kann. Was kann ich gegen einen Spion tun, der drei Stunden hinter einem Guckloch sitzt? Und du kannst plötzlich krank werden, du fällst nur hin und brichst dir ein Bein – gleich suchen sie deine Taschen nach und finden solch eine Karte! Nein, Anna, gegen die Zufälle gibt es keinen Schutz!«
»Es würde mich so sehr beruhigen, wenn du mir die Verteilung überlassen würdest!«, fing sie wieder an.
»Ich sage nicht nein, Anna. Ich will dir die Wahrheit gestehen, plötzlich fühle ich mich unsicher. Es ist mir, als könnte ich stets nur auf einen Fleck starren, auf dem der Gegner nicht sitzt. Und als säßen Feinde überall in meiner Nähe, und ich kann sie nicht sehen.«
»Du bist nervös geworden, Otto. Das geht schon zu lange. Wenn man nur ein paar Wochen damit aufhören könnte! Aber du hast recht, das geht nicht. Aber von jetzt an werde ich die Karten wegbringen.«
»Ich sage nicht nein. Tu’s! Ich habe keine Angst, aber du hast recht, ich bin jetzt nervös. Das machen diese Zufälle, mit denen ich nie gerechnet habe. Ich habe geglaubt, es genügt, wenn man seine Sache nur ordentlich macht. Aber es ist nichts damit, man muss auch Glück haben, Anna. Wir haben lange Glück gehabt, jetzt scheint es ein bisschen anders zu kommen …«
»Es ist ja noch einmal gutgegangen«, sagte sie beruhigend. »Es ist nichts geschehen.«
»Aber sie haben unsere Adresse, jederzeit können sie auf uns zurückgreifen! Diese verdammte Verwandtschaft, ich habe immer gesagt, sie taugt nichts.«
»Sei jetzt nicht ungerecht, Otto. Was kann Ulrich Heffke dafür?«
»Natürlich kann er nichts dafür! Wer hat was anderes gesagt? Aber wenn er nicht wäre, hätten wir dort keinen Besuch gemacht. Es taugt nichts, sich an Menschen zu hängen, Anna. Das macht alles nur schwerer. Nun sind wir in Verdacht.«
»Wenn wir wirklich in Verdacht wären, hätten sie uns nicht laufengelassen, Otto!«
»Die Tinte!«, sagte er, plötzlich stehenbleibend. »Wir haben die Tinte noch im Haus! Die Tinte, mit der ich die Karte geschrieben habe, und die gleiche Tinte ist hier im Fläschchen!«
Er lief, goss die Tinte in den Ausguss. Hinterher zog er sich an.
»Wohin willst du, Otto?«
»Die Flasche muss aus dem Haus! Wir besorgen morgen eine andere Sorte. Verbrenn unterdes den Federhalter, vor allem auch alte Karten und altes Briefpapier, das wir noch hier haben. Alles muss verbrannt werden! Sieh jedes Schubfach nach. Es darf nichts mehr von all dem Zeug im Haus sein!«
»Aber, Otto, wir sind doch nicht in Verdacht! Das alles hat doch Zeit!«
»Nichts hat Zeit! Tu, was ich dir sage! Alles durchsehen, alles verbrennen!«
Er ging.
Als er wiederkam, war er ruhiger. »Ich habe das Fläschchen in den Friedrichshain geworfen. Hast du alles verbrannt?«
»Ja!«
»Wirklich alles? Alles durchgesehen und verbrannt?«
»Wenn ich es dir doch sage, Otto!«
»Natürlich, ist ja gut, Anna! Aber komisch, wieder ist mir so, als könnte ich den Feind nicht sehen, wo er wirklich sitzt. Als hätte ich was vergessen!«
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, sah sie nachdenklich an.
»Beruhige dich, Otto, du hast bestimmt nichts vergessen, nichts. In dieser Wohnung ist nichts mehr.«
»An meinen Fingern habe ich keine Tinte? Verstehst du, ich darf nicht den geringsten Tintenfleck an mir haben, jetzt, wo keine Tinte mehr im Hause ist.«
Sie sahen nach, und wirklich fanden sie noch einen Tintenfleck an seinem rechten Zeigefinger. Sie rieb ihn mit der Hand fort.
»Siehst du, ich sage es ja, man findet immer noch was! Das sind die Feinde, die ich nicht sehen kann. Nun, vielleicht war es dieser Tintenfleck, auf den ich nicht geachtet habe und der mich immer noch quälte!«
»Er ist fort, Otto, nun ist nichts mehr, das dich unruhig machen muss!«
»Gott sei Dank! Versteh, Anna, ich habe keine Angst, aber ich möchte doch nicht, dass wir zu früh entdeckt werden. So lange wie möglich möchte ich noch meine Arbeit tun. Wenn es geht, will ich noch erleben, wie dies alles zusammenbricht. Ja, das möchte ich noch erleben. Ein wenig haben doch auch wir dazu geholfen!«
Und diesmal ist es Anna, die ihm Trost zuspricht: »Ja, du wirst es erleben, wir werden es beide noch erleben. Was ist denn geschehen? Gewiss, wir waren in großer Gefahr, aber … du sagst, das Glück hat sich gegen uns gewendet? Das Glück ist uns treu geblieben, die Gefahr ist vorüber. Wir sind hier.«
»Ja«, sagte Otto Quangel. »Wir sind hier, wir sind frei. Noch sind wir es. Und ich hoffe, wir sind es noch lange, lange …«
42. Der alte Parteigenosse Persicke
Der Schnüffler des Kriminalrats Zott, ein gewisser Klebs, hatte die Jablonskistraße nach dem alten, alleinlebenden Mann abzuklappern, auf dessen Feststellung man bei der Gestapo so großen Wert legte. In der Tasche trug er eine Liste, in der für jedes Haus und möglichst auch für jedes Hinterhaus ein zuverlässiger Parteigenosse genannt war, auch der Name Persicke stand auf dieser Liste.
Legte man in der Prinz-Albrecht-Straße großen Wert auf die Ergreifung des Gesuchten, für den Schnüffler Klebs war es ein bloßes Routinegeschäft. Klein, schlecht bezahlt und schlecht ernährt, mit schiefen Beinen, einer unreinen Haut und kariösen Zähnen erinnerte Klebs an eine Ratte, und er verrichtete seine Geschäfte, wie eine Ratte in Abfalltonnen wühlt. Immer war er bereit, eine Stulle Brot anzunehmen, um was zu trinken oder zu rauchen zu betteln, und seine klägliche, quiekende Stimme bekam bei diesem Betteln etwas leise Pfeifendes, als gehe dem Unseligen der letzte Atem aus.
Bei den Persickes öffnete ihm der Alte. Er sah wüst aus, das graue Haar in Zotteln, das Gesicht gedunsen, die Augen rot, und der ganze Mann schwankend und rollend wie ein Schiff im schweren Sturm.
»Wat willste denn?«
»Nur ’ne kleine Erkundigung einziehen, für die Partei.«
Es war diesen Schnüfflern nämlich strengstens verboten, sich bei ihren Erkundigungen auf die Gestapo zu berufen. Diese ganze Nachfrage sollte wie eine bedeutungslose Erkundigung nach einem Parteimitglied aussehen.
Aber auf den alten Persicke wirkte selbst diese harmlose Auskunft »Erkundigung für die Partei« wie ein Schlag auf den Magen. Er stöhnte und lehnte sich gegen den Türpfosten. In sein blödes, von Alkoholdünsten umnebeltes Hirn kehrte für einen Augenblick etwas Besinnung zurück und – mit der Besinnung – Angst.
Dann raffte er sich auf und sagte: »Komm rein!«
Die Ratte folgte schweigend. Sie beobachtete den alten Mann mit spitzen, flinken Augen. Nichts entging ihr.
In der Stube sah es wüst aus. Umgestürzte Stühle, umgefallene Flaschen, vor deren Hälsen Schnaps stinkend am Boden verdunstete. Eine zusammengeknüllte Schlafdecke auf der Erde. Ein heruntergerissenes Tischtuch. Unter dem Spiegel, der von einem Schlag ein Spinnennetz von Sprüngen aufwies, ein Haufen Glasscherben. Eine zugezogene Gardine und eine herabgerissene Gardine. Und überall Zigarettenstummel, Zigarettenstummel, halb angerissene Packungen mit Rauchwaren.
In den Diebsfingern des Schnüfflers Klebs zuckte es. Am liebsten hätte er jetzt gerafft und gegrapscht: Schnaps, Rauchwaren, Kippen, auch die Taschenuhr dort aus der Weste, die über einem Stuhl hing. Aber er war jetzt nur ein Bote der Gestapo oder der Partei. So setzte er sich brav auf ein Stühlchen und piepste fröhlich: »Ach, hier gibt’s zu trinken und zu rauchen! Du hast’s gut, Persicke!«
Der Alte sah ihn mit einem schweren, trüben Blick an. Dann schob er dem Besucher mit einem Ruck eine halbvolle Flasche Schnaps über den Tisch – Klebs konnte sie grade noch fassen, ehe sie kippte.
»Such dir was zu rauchen!«, murmelte Persicke und sah sich in der Stube um. »Hier muss irgendwas zu rauchen rumliegen.« Und er setzte mit schwerer Zunge hinzu: »Aber Feuer habe ich keines!«
»Mach dir keine Sorgen, Persicke!«, pfiff Klebs beruhigend. »Ich finde schon, was ich brauche. Du wirst ja in der Küche Gas haben und einen Gasanzünder.«
Er tat so, als kennten sie sich schon seit langem. Als seien sie die ältesten Freunde. Ganz selbstverständlich schlich er auf seinen schiefen Beinen in die Küche – dort sah es mit zertrümmertem Geschirr und umgestürzten Möbeln noch schlimmer aus als in der Stube –, fand wirklich den Gasanzünder in all dem Durcheinander und machte sich Feuer.
Er hatte sich gleich drei angebrochene Zigarettenpackungen eingesteckt. Eine davon hatte zwar in Schnaps gebadet, aber das konnte man trocknen. Auf dem Rückweg sah Klebs noch in die beiden anderen Stuben, alles sah völlig verwüstet und verkommen aus. Wie Klebs gleich vermutet hatte, war der alte Mann allein in der Wohnung. Der Schnüffler rieb sich zufrieden die Hände, wobei seine gelbschwarzen Zähne sichtbar wurden. Bei dem würde wohl noch mehr zu holen sein als ein bisschen Schnaps und ein paar Zigaretten.
Der alte Persicke saß noch immer auf demselben Stuhl am Tisch, genau, wie ihn Klebs verlassen hatte. Aber der listige Klebs merkte doch, dass der Alte zwischendurch auf den Beinen gewesen sein musste, denn vor ihm stand jetzt eine volle Schnapsflasche, die vorher nicht zu sehen gewesen war.
Hat also irgendwo noch mehr liegen. Das werden wir schon noch rauskriegen!
Klebs ließ sich mit einem behaglichen Fiepen auf seinem Stuhl nieder, blies seinem Gegenüber einen Schwaden Tabakrauch ins Gesicht, nahm einen Schluck aus der Flasche und fragte harmlos: »Na, was hast du nu auf dem Herzen, Persicke? Immer raus, alter Junge, frei die Brust! Und frisch gewaschen, sonst wirst du erschossen!«
Der alte Mann zitterte bei den letzten Worten. Er hatte nicht erfassen können, in welchem Zusammenhang sie gesprochen waren. Nur dass von Erschießen die Rede war, hatte er begriffen.
»Nein, nein!«, murmelte er ängstlich. »Nicht schießen, nur nicht schießen. Baldur kommt, Baldur macht alles wieder gut!«
Die Ratte ließ es erst einmal unerörtert, wer Baldur war, der alles wiedergutmachende Baldur. »Ja, wenn du’s nur wiedergutmachen kannst, Persicke!«, sagte er vorsichtig.
Er warf einen Blick auf das Gesicht des anderen, das, wie es ihm schien, finster und argwöhnisch auf ihn starrte. »Aber freilich, wenn erst Baldur kommt …«, meinte er versöhnlich.
Der alte Mann starrte ihn immer weiter schweigend an. Plötzlich sagte er, in einem jener lichten Momente, wie sie grade dauernd Betrunkene dann und wann haben, mit gar nicht mehr lallender Zunge: »Wer sind Sie eigentlich? Was wollen Sie von mir? Ich kenn Sie doch gar nicht!«
Die Ratte sah den plötzlich so klar Gewordenen vorsichtig an. In solchen Stadien wurden die Betrunkenen oft streit- und prügelsüchtig, und Klebs war bloß ein Männchen (und ein Feigling dazu), während man es dem alten Persicke selbst jetzt im schlimmsten Verfall ansah, dass er seinem Führer zwei stattliche SS-Männer und einen Schüler der Napola geschenkt hatte.
Klebs sagte einlenkend: »Hab’s Ihnen schon gesagt, Herr Persicke. Sie haben’s vielleicht nicht ganz erfasst. Mein Name ist Klebs, komme von der Partei, um ein paar Erkundigungen einzuziehen …«
Die Faust Persickes donnerte auf den Tisch. Die beiden Flaschen gerieten ins Schwanken – rasch rettete sie Klebs.
»Wie kommst du Hund dazu«, schrie Persicke, »zu sagen, ich hätte was nicht erfasst? Bist du klüger als ich, du Stinktier? Sagst mir in meinem eigenen Hause an meinem eigenen Tisch, ich kann nicht erfassen, was du sagst. Stinktier, elendiges!«
»Nein, nein, nein, Herr Persicke!«, säuselte die Ratte beruhigend. »Ich hab’s nicht so gemeint. Kleines Missverständnis. Alles in Friede und Freundschaft. Immer mit der Ruhe – alte Parteigenossen wie wir!«
»Wo hast du deinen Ausweis? Wieso kommst du in meine Bude und zeigst keinen Ausweis? Du weißt, das ist von Partei wegen verboten!«
Aber in diesem Punkt war Klebs nicht zu schrecken: die Gestapo hatte für vollgültige, ausgezeichnete, lückenlose Ausweise gesorgt.
»Da, Herr Persicke, sehen Sie sich alles in Ruhe an. Stimmt alles. Bin berechtigt, Erkundigungen einzuziehen, und Sie sollen mir helfen, wenn Sie können!«
Der alte Mann sah mit trüben Augen auf die Ausweise, die ihm vorgehalten wurden – Klebs hütete sich wohl, sie aus der Hand zu geben. Die Schrift verschwamm vor seinen Augen, er tippte schwerfällig mit dem Finger darauf: »Sind Sie das?«
»Aber das sehen Sie doch, Herr Persicke! Alle sagen, das Bild ist mir mächtig ähnlich!« Und eitel: »Nur soll ich in Wirklichkeit zehn Jahre jünger aussehen. Ich weiß das nicht, ich bin nicht eitel. Ich sehe nie in den Spiegel!«
»Nimm das Zeugs weg!«, knurrte der Ex-Budiker. »Mag jetzt nicht lesen. Setz dich hin, trink Schnaps, rauch, aber sei ruhig. Ich muss erst mal nachdenken.«
Die Ratte Klebs tat, wie ihr befohlen, und beobachtete dabei aufmerksam ihr Gegenüber, das wieder in seinen Rausch zu versinken schien.
Ja, der alte Persicke, der auch einen großen Schluck aus seiner Flasche genommen hatte, war wieder von seiner Klarheit verlassen, unwiderstehlich zog es ihn zurück in den Strudel seiner Betrunkenheit, und was er Nachdenken nannte, das war ein hilfloses Grübeln, das Suchen nach etwas, das ihm längst entfallen war. Er wusste nicht einmal, was er suchte.
Er war in einer schlimmen Lage, der alte Mann. Erst war der eine Sohn nach Holland gekommen, dann der andere nach Polen. Baldur war auf eine Napola geschickt worden, der ehrgeizige Bengel hatte sein erstes Ziel erreicht: er war unter die Ersten der deutschen Nation aufgenommen worden, ein Sonderschüler des Führers selbst! Er lernte weiter, er lernte beherrschen, nicht grade sich selbst, aber alle anderen Menschen, die es nicht so weit gebracht hatten wie er.
Der Vater war mit Frau und Tochter allein geblieben. Er hatte immer schon zu gerne getrunken, der alte Persicke war schon in der verkrachten Budike sein bester Gast gewesen. Als die Söhne fort waren, als vor allem Baldurs Aufsicht fehlte, hatte Persicke zu trinken angefangen, mit Saufen war er fortgefahren. Der Frau war es zuerst unheimlich geworden; klein, ängstlich, weinerlich in diesem Männerhaushalt, in dem sie nie mehr als ein unbezahltes und sehr schlecht behandeltes Dienstmädchen gewesen war, hatte sie die Angst gepackt, woher denn der Mann wohl all das Geld für den vielen Schnaps nahm. Dazu kam die Angst vor den Drohungen, den Misshandlungen durch den Betrunkenen – und sie war heimlich zu Verwandten geflohen, den Vater der Tochter überlassend.
Die Tochter, ein wüstes Ding, durch den BDM gegangen, sogar Führerin im BDM gewesen, hatte nicht die geringste Neigung gehabt, dem Alten seinen Dreck nachzuräumen und sich dafür noch schlecht behandeln zu lassen. Sie verschaffte sich durch ihre Verbindungen eine Stellung als Aufseherin im Frauen-KZ Ravensbrück und zog es vor, dort alte Frauen, die nie in ihrem Leben körperliche Arbeit geleistet hatten, mit scharfen Schäferhunden und schwipper Reitpeitsche dahin zu bringen, dass sie mehr Arbeit taten, als ihr Körper leisten konnte.
Der allein gebliebene Vater versank immer mehr. Auf seinem Büro hatte er sich krankmelden lassen, niemand sorgte für sein Essen, er lebte fast nur noch von Alkohol. In den ersten Tagen hatte er sich auf seine Marken wenigstens noch ab und zu Brot geholt, aber die Marken waren ihm abhandengekommen, oder man hatte sie ihm auch gestohlen, seit Tagen hatte Persicke nicht mehr gegessen.
In der vergangenen Nacht war er sehr krank gewesen, das wusste er noch. Er wusste nicht mehr, dass er getobt hatte, Geschirr zerschlagen, Schränke umgestürzt, dass er in grauenvoller Angst überall Verfolger gesehen hatte. Quangels und der alte Kammergerichtsrat Fromm hatten an seiner Tür gestanden und hatten geklingelt und geklingelt. Aber er hatte sich nicht gerührt, er hatte sich gehütet, seinen Verfolgern aufzumachen. Dort draußen standen nur die Boten der Partei, die von ihm die Abrechnung über seine Kasse haben wollten, und es fehlten doch über dreitausend Mark (es konnten auch sechstausend sein, selbst in seinen lichtesten Momenten konnte er das so genau nicht sagen).
Der alte Kammergerichtsrat meinte kühl: »Also lassen wir ihn weitertoben. Ich habe kein Interesse …«
Das sonst so liebenswürdige, meist leicht ironische Gesicht hatte sehr kalt ausgesehen. Der alte Herr war die Treppe wieder hinuntergegangen.
Und Otto Quangel, mit seiner tiefen Abneigung, in etwas hineingezogen zu werden, hatte auch gesagt: »Was sollen wir uns da einmischen? Wir haben nur Scherereien davon! Du hörst doch, Anna, er ist besoffen! Er wird schon wieder nüchtern werden.«
Aber Persicke, der von all diesen Dingen am nächsten Tage kaum noch etwas wusste, Persicke war nicht nüchtern geworden. Am Morgen war es ihm schlimm gegangen, er hatte so sehr an allen Gliedern gezittert, dass er kaum noch den Flaschenhals an den Mund bringen konnte. Aber je mehr Schnaps er trank, umso geringer wurde das Zittern, die Angst, die ihn noch immer ruckweise überfiel. Nur noch das dunkle Gefühl, er habe etwas vergessen, das ihm unbedingt einfallen müsse, quälte ihn noch.
Und nun saß ihm die Ratte gegenüber, geduldig, listig, gierig. Die Ratte hatte es nicht eilig, sie hatte ihre Gelegenheit gesehen und war entschlossen, sie zu nützen. Die Ratte Klebs hatte es nicht eilig mit ihrem Bericht an den Herrn Kriminalrat Zott. Dem konnte man noch immer was vorsohlen, warum man noch nicht weitergekommen war. Dies war eine einzigartige Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen konnte.
Er ließ sie sich wirklich nicht entgehen, der Klebs! Der alte Persicke versank immer tiefer in seine Betrunkenheit, und wenn er auch nur noch mühsam lallen konnte, auch eine gelallte Auskunft ist etwas wert.
Nach einer Stunde wusste Klebs alles, was zu wissen nottat, von den Veruntreuungen des Alten; er wusste auch, wo die Schnapsflaschen lagen und die Rauchwaren – da steckte der Rest des Geldes schon in seiner Tasche.
Jetzt ist die Ratte längst der beste Freund des Alten. Sie hat ihn in sein Bett gepackt; und wenn Persicke brüllt, läuft Klebs zu ihm und gibt ihm so viel Schnaps zu trinken, dass er wieder mit Brüllen aufhört. Dazwischen packt die Ratte eilig in zwei Koffer, was ihr mitnehmenswert erscheint. Die schöne Damastwäsche der toten Rosenthal wechselt schon wieder den Besitzer, wiederum nicht völlig legal.
Dann gibt Klebs dem Alten noch einmal tüchtig zu trinken, nun nimmt er die Koffer und schleicht aus der Wohnung.
Als er die Flurtür öffnet, tritt dicht vor ihn ein großer, knochiger Mann mit einem finsteren Gesicht und sagt: »Was machen Sie denn hier in der Wohnung von Persickes? Was schleppen Sie denn hier raus? Sie sind doch ohne Koffer gekommen! He, wird’s bald? Oder wollen Sie lieber mit mir auf die Polizei kommen?«
»Bitte, treten Sie doch näher«, pfeift die Ratte demütig. »Ich bin ein alter Freund und Parteigenosse des Herrn Persicke. Er wird es Ihnen bestätigen. Sie sind der Hausverwalter, nicht wahr? Herr Hausverwalter, mein Freund Persicke ist nämlich sehr krank …«
43. Barkhausen zum dritten Mal geprellt
Die beiden Herren hatten in dem verwüsteten Wohnzimmer Platz genommen; jetzt saß der »Hausverwalter« auf dem Platz der Ratte, und Klebs saß auf dem Stuhl Persickes. Nein, der alte Persicke hatte nicht einmal eine Auskunft geben können, aber die Sicherheit, mit der sich Klebs in der Wohnung bewegte, die Ruhe, in der er mit Persicke sprach und ihm zu trinken gab, hatte den »Hausverwalter« doch zu einiger Vorsicht gemahnt.
Jetzt zog Klebs wieder seine abgegriffene Brieftasche aus einem Kunststoff, der einmal schwarz gewesen war und nun an den Kanten rostrot schimmerte, hervor. Er sagte: »Wenn ich dem Herrn Hausverwalter vielleicht meine Papiere zeigen darf? Es ist alles in Ordnung, ich bin von der Partei beauftragt …«
Aber sein Gegenüber wies die Papiere zurück, er lehnte auch den Schnaps ab, nur eine Zigarette nahm er. Nein, jetzt trank er keinen Schnaps, er erinnerte sich zu gut, wie damals bei der Rosenthal oben der Enno ihm ein glänzendes Geschäft mit Kognaktrinken vermasselt hatte. Das sollte ihm nicht noch einmal passieren. Barkhausen, denn niemand anders als Barkhausen ist es, der dort als »Hausverwalter« sitzt, denkt nach, wie er seinem Gegenüber beikommen kann. Er hat diesen Bruder sofort durchschaut: ob der nun tatsächlich ein Bekannter vom alten Persicke ist oder nicht, ob er im Auftrag der Partei hier sitzt oder nicht – ganz egal: der Kerl hat klauen wollen! Was er in den Koffern hatte, war geklaute Ware – sonst wäre er nicht so erschrocken gewesen bei Barkhausens Anblick, sonst wäre er jetzt nicht so ängstlich und betulich. Niemand, der was Rechtes vorhat, kriecht so vor einem anderen, das weiß Barkhausen aus eigenster Erfahrung.
»Vielleicht jetzt ein Schnäpschen gefällig, Herr Hausverwalter?«
»Nein!« Barkhausen brüllt das fast. »Halten Sie den Mund, ich muss noch was überlegen …«
Die Ratte ist zusammengezuckt und schweigt.
Barkhausen hat ein sehr schlechtes Jahr hinter sich. Nein, die damals von Frau Häberle gesandten zweitausend Mark hat er auch nicht bekommen. Die Post hat ihm auf seinen Nachsendungsantrag hin mitgeteilt, dass die Gestapo das Geld für sich, als aus einem Verbrechen stammend, angefordert habe, er möge sich mit der Gestapo in Verbindung setzen. Nein, Barkhausen hatte das nicht getan. Er wollte nie wieder etwas mit diesem wortbrüchigen Escherich zu tun haben, und Escherich schickte auch nie wieder nach Barkhausen.
Das war also ein Reinfall gewesen; viel schlimmer aber war es noch, dass der Kuno-Dieter nicht wieder nach Haus gekommen war. Zuerst hatte Barkhausen noch gedacht: Na, warte du! Wenn du erst wieder zu Hause bist! Hatte sich mit der Ausmalung von Prügelszenen ergötzt und die angstvollen Fragen Ottis nach dem Ausbleiben ihres Lieblings mit Grobheit abgewimmelt.
Aber als dann Woche um Woche verging, war die Lage ohne Kuno-Dieter doch ziemlich unerträglich geworden. Die Otti wurde zu einer wahren Giftschlange und machte ihm das Leben zur Hölle. Ihm war es schließlich egal, mochte der Bengel ganz wegbleiben, umso besser: ein unnützer Fresser weniger im Haus! Aber Otti stellte sich da reineweg toll an wegen ihres Lieblings, es war, als könnte sie keinen Tag mehr ohne Kuno-Dieter leben, und früher hatte sie doch auch bei ihm nie mit Schelte und Prügel gespart.










