Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Aber innerlich war sie ganz fertig mit dem Mann. Er hätte sich sogar ändern und wieder arbeiten und sein können wie in den ersten Jahren ihrer Ehe, sie hätte ihn nicht wieder aufgenommen. Sie hasste ihn nicht etwa, er war so ein reiner Garnichts, dass man nicht einmal Hass gegen ihn aufbringen konnte, er war ihr einfach widerlich, wie ihr Spinnen und Schlangen widerlich waren. Er sollte sie bloß in Ruhe lassen, nur nicht sehen wollte sie ihn, dann war sie schon zufrieden!
Während Eva Kluge so vor sich hin dachte, hatte sie ihr Essen auf die Gasflamme gesetzt und die Wohnküche aufgeräumt – die Kammer mit ihrem Bett machte sie schon immer am frühen Morgen zurecht. Während sie nun die Brühe schön brodeln hörte und ihr Duft sich durch die ganze Küche zu verbreiten anfing, machte sie sich an den Stopfkorb – mit den Strümpfen war es ein ewiges Elend, sie zerriss am Tage oft mehr, als sie stopfen konnte. Aber sie war der Arbeit darum nicht böse, sie liebte diese stille halbe Stunde vor dem Essen, wenn sie behaglich in weichen Filzschuhen auf dem Korbstuhl sitzen konnte, die schmerzenden Füße weit von sich gestreckt und ein wenig einwärts gedreht – so ruhten sie am besten aus.
Nach dem Essen wollte sie an ihren Liebling, den Ältesten, an Karlemann wollte sie schreiben, der in Polen war. Sie war ganz und gar nicht mit ihm einverstanden, besonders nicht, seit er in die SS eingetreten war. Man hörte in der letzten Zeit sehr viel Schlechtes von der SS, besonders gegen die Juden sollte sie so gemein sein. Aber das traute sie ihm doch nicht zu, dass ihr Junge, den sie einmal unter dem Herzen getragen hatte, Judenmädchen erst schändete und dann gleich hinterher erschoss. So was tat Karlemann nicht! Woher sollte er es auch haben? Sie hatte nie hart oder gar roh sein können, und der Vater war einfach ein Waschlappen. Aber sie würde doch versuchen, im Brief eine Andeutung zu machen, dass er anständig bleiben müsse. Natürlich musste diese Andeutung ganz vorsichtig gemacht werden, dass nur Karlemann sie verstand. Sonst bekam er Schwierigkeiten, wenn der Brief dem Zensor in die Finger geriet. Nun, sie würde schon auf irgendwas kommen, vielleicht würde sie ihn an ein Kindheitserlebnis erinnern, wie er ihr damals zwei Mark gestohlen und Bonbons dafür gekauft hatte oder, besser noch, als er sich schon mit dreizehn an die Walli rangemacht hatte, die nichts war wie eine gemeine Nutte. Was das damals für Schwierigkeiten gemacht hatte, ihn von dem Weibe wieder loszukriegen – er war solch ein Wutkopf manchmal, der Karlemann!
Aber sie lächelt, als sie an diese Schwierigkeiten denkt. Alles kommt ihr heute schön vor, was mit der Kindheit der Jungens zusammenhängt. Damals hatte sie noch Kraft in sich, sie hätte ihre Bengels gegen die ganze Welt verteidigt und gearbeitet bei Tag und gearbeitet bei Nacht, bloß um ihnen nichts abgehen zu lassen, was andere Kinder mit einem anständigen Vater bekamen. Aber in den letzten Jahren ist sie immer kraftloser geworden, ganz besonders, seit die beiden in den Krieg ziehen mussten. Nein, dieser Krieg hätte nicht kommen dürfen; war der Führer wirklich ein so großer Mann, hätte er ihn vermeiden müssen. Das bisschen Danzig und der schmale Korridor – und darum Millionen Menschen in tägliche Lebensgefahr gebracht – so was tat kein wirklich großer Mann!
Aber freilich, die Leute erzählten ja, dass er so was wie unehelich sei. Da hatte er wohl nie eine Mutter gehabt, die sich richtig um ihn kümmerte. Und so wusste er auch nichts davon, wie Müttern zumute sein kann in dieser ewigen, nie abreißenden Angst. Nach einem Feldpostbrief war es ein, zwei Tage besser, dann rechnete man, wie lange es her war, seit er abgeschickt worden war, und die Angst begann von Neuem.
Sie hatte längst den Stopfstrumpf sinken lassen und nur so vor sich hin geträumt. Nun steht sie ganz mechanisch auf, rückt die Brühe von der besser brennenden Flamme auf die schwächere und setzt den Kartoffeltopf auf die bessere auf. Sie ist noch dabei, als bei ihr die Klingel geht. Sofort steht sie wie erstarrt. Enno! denkt es in ihr, Enno!
Sie setzt den Topf leise hin und schleicht auf ihren Filzsohlen lautlos zur Tür. Ihr Herz geht wieder leichter: vor der Tür, ein bisschen ab, sodass sie gut gesehen werden kann, steht ihre Nachbarin, Frau Gesch. Sicher will sie wieder was borgen, Mehl oder ein bisschen Fett, das sie stets wiederzubringen vergisst. Aber Eva Kluge bleibt trotzdem misstrauisch. Sie sucht, soweit es das Guckloch in der Tür erlaubt, den ganzen Treppenflur ab und lauscht auf jedes Geräusch. Aber alles ist in Ordnung, nur die Gesch scharrt manchmal ungeduldig mit den Füßen oder sieht nach dem Guckloch hin.
Eva Kluge entschließt sich. Sie macht die Tür auf, aber nur so weit die Kette es zulässt, und fragt: »Na, was soll’s denn sein, Frau Gesch?«
Sofort überstürzt Frau Gesch, eine abgemergelte, halb zu Tode gearbeitete Frau, deren Töchter auf Kosten der Mutter einen guten Tag leben, sie mit einer Flut von Klagen über die endlose Wascherei, immer anderer Leute dreckige Wäsche waschen und nie satt zu essen, und die Emmi und die Lilli tun rein gar nichts. Nach dem Abendessen gehen sie einfach weg und lassen der Mutter den ganzen Abwasch. »Ja, und Frau Kluge, was ich Sie bitten wollte, ich habe da im Rücken was, ich glaube, ’nen Furunkel oder doch was Eitriges. Wir haben bloß einen Spiegel, und meine Augen sind so schlecht. Wenn Sie sich das mal ansehen wollten – ich kann doch wegen so was nicht zum Doktor, wann habe ich denn Zeit für ’nen Doktor? Aber vielleicht können Sie es sogar ausdrücken, wenn’s Ihnen nicht eklig ist, manche sind in so was eklig …«
Während Frau Gesch klagend immer so weiterredet, hat Eva Kluge ganz mechanisch die Kette losgemacht, und die Frau ist in die Wohnküche hineingekommen. Eva Kluge hat die Tür wieder zuziehen wollen, da hat sich ein Fuß dazwischengezwängt, und schon ist auch Enno Kluge in ihrer Wohnung. Sein Gesicht ist ausdruckslos wie immer; dass er doch etwas erregt ist, merkt sie nur daran, dass seine fast haarlosen Lider stark zittern.
Eva Kluge steht mit hängenden Armen da, ihre Knie beben so sehr, dass sie sich am liebsten zu Boden sinken ließe. Der Redestrom von Frau Gesch ist ganz plötzlich versiegt, schweigend sieht sie in die beiden Gesichter. Es ist ganz still in der Küche, nur der Brühentopf brodelt leise.
Schließlich sagt Frau Gesch: »Na, nun habe ich Ihnen den Gefallen getan, Herr Kluge. Aber ich sage Ihnen: einmal und nicht wieder. Und wenn Sie Ihr Versprechen nicht halten und fangen das wieder an mit der Nichtstuerei und dem Kneipenlaufen und dem Pferdewetten …« Sie unterbricht sich, sie hat in das Gesicht von Frau Kluge gesehen, sie sagt: »Und wenn ich Mist gemacht habe, ich helfe Ihnen auf der Stelle, das Männeken rauszuschmeißen, Frau Kluge. Wir beide schaffen das doch wie nischt!«
Eva Kluge macht eine abwehrende Bewegung. »Ach, lassen Sie schon, Frau Gesch, es ist ja doch alles egal!«
Sie geht langsam und vorsichtig zum Korbstuhl und lässt sich in ihn sinken. Sie nimmt auch wieder den Stopfstrumpf zur Hand, aber sie starrt ihn an, als wüsste sie nicht, was das ist.
Frau Gesch sagt ein wenig gekränkt: »Na, denn guten Abend oder Heil Hitler – ganz wie den Herrschaften das lieber ist!«
Hastig sagt Enno Kluge: »Heil Hitler!«
Und langsam, als erwache sie aus einem Schlaf, antwortet Eva Kluge: »Gute Nacht, Frau Gesch.« Sie besinnt sich. »Und wenn wirklich was mit Ihrem Rücken ist«, setzt sie hinzu.
»Nee, nee«, antwortet Frau Gesch, schon vor der Tür, hastig. »Mit dem Rücken ist nichts, das habe ich nur so gesagt. Aber ich misch mich gewiss nicht wieder in die Sachen von anderen Leuten. Ich seh’s ja doch: ich habe nie Dank davon.«
Damit hat sie sich aus der Tür geredet; sie ist froh, von diesen beiden schweigenden Gestalten fortzukommen, ihr Gewissen zwickt sie ein wenig.
Kaum ist die Tür hinter ihr zu, kommt Bewegung in den kleinen Mann. Ganz selbstverständlich öffnet er den Schrank, macht dadurch einen Bügel frei, dass er zwei Kleider seiner Frau übereinander hängt, und hängt dafür seinen Mantel auf den Bügel. Die Sportmütze legt er oben auf den Schrank. Er geht stets sehr sorgfältig mit seinen Sachen um, er hasst es, schlecht gekleidet zu sein, und er weiß, er kann sich nichts Neues kaufen.
Nun reibt er die Hände mit einem behaglichen »Soso!« aneinander, geht zum Gasherd und schnuppert in den Töpfen. »Fein!«, sagt er. »Brühkartoffeln mit Rindfleisch – feinfein!«
Er macht eine Pause, die Frau sitzt bewegungslos, dreht ihm den Rücken. Er legt leise wieder den Deckel auf den Topf, stellt sich neben sie, sodass er auf sie hinunter redet: »Nun sitz bloß nicht so da, Eva, als wenn du so ’ne Marmorfigur wärst! Was ist denn schon los? Du hast für ein paar Tage wieder ’nen Mann in der Wohnung, ich werd dir schon keine Scherereien machen. Und was ich dir versprochen habe, das halte ich. Ich will auch nichts von den Brühkartoffeln – höchstens, wenn ein kleiner Rest bleibt. Und auch den nur, wenn du ihn mir freiwillig gibst – ich bitte dich nicht darum.«
Die Frau antwortet ihm mit keinem Wort. Sie stellt den Stopfkorb in den Schrank zurück, setzt einen tiefen Teller auf den Tisch, füllt sich aus den Töpfen auf und fängt langsam zu essen an. Der Mann hat sich an das andere Ende des Tisches gesetzt, ein paar Sportzeitungen aus der Tasche gezogen und macht sich Notizen in ein dickes, schmieriges Notizbuch. Dabei wirft er von Zeit zu Zeit einen raschen Blick auf die essende Frau. Sie isst sehr langsam, aber sie hat sich schon zweimal nachgefüllt, viel wird bestimmt nicht überbleiben für ihn, und er hat Hunger wie ein Wolf. Den ganzen Tag, nein, seit dem Abend vorher hat er nichts gegessen. Der Mann von der Lotte, der auf Urlaub aus dem Felde kam, hat ihn ohne jede Rücksicht auf sein Frühstück mit Schlägen aus dem Bette gejagt.
Aber er wagt es nicht, Eva von seinem Hunger zu sprechen, er hat Angst vor der schweigenden Frau. Ehe er sich hier erst richtig wieder zu Hause fühlen kann, muss noch allerlei geschehen. Dass dieser Moment kommen wird, daran zweifelt er nicht einen Augenblick: man kriegt jede Frau rum, nur beharrlich muss man sein und sich viel gefallen lassen. Schließlich, ganz plötzlich meist, geben sie nach, einfach weil ihnen das Wehren über ist.
Eva Kluge kratzt die Reste aus den Töpfen aus. Sie hat es geschafft, sie hat das Essen für zwei Tage an einem Abend geschafft, aber nun kann er sie doch nicht um die Reste anbetteln! Dann erledigt sie rasch das bisschen Abwasch, und nun fängt sie eine große Umräumerei an. Direkt vor seinen Augen bringt sie alles, was ihr ein bisschen wert ist, in die Kammer. Die Kammer hat ein festes Schloss, in die Kammer ist er noch nie reingekommen. Sie schleppt die Essvorräte, ihre guten Kleider und Mäntel, das Schuhwerk, die Kissen vom Kanapee, ja, sogar das Bild mit den beiden Jungen in die Kammer – alles vor seinen Augen. Es ist ihr ganz egal, was er denkt oder sagt. In die Wohnung ist er mit List gekommen, aber viel soll er davon nicht haben.
Dann schließt sie die Kammertür ab und holt sich das Schreibzeug an den Tisch. Sie ist todmüde, sie läge am liebsten im Bett, aber sie hat sich nun einmal vorgenommen, heute Abend an den Karlemann zu schreiben, so tut sie’s. Sie kann nicht nur hart gegen ihren Mann, sie kann auch hart gegen sich sein.
Sie hat erst ein paar Sätze geschrieben, da beugt sich der Mann über den Tisch und fragt: »An wen schreibste denn, Evchen?«
Unwillkürlich antwortet sie ihm, trotzdem sie sich fest vorgenommen hat, nicht mehr mit ihm zu sprechen. »An Karlemann …«
»So«, sagt er und legt die Zeitungen aus der Hand. »So, also an den schreibste und schickst ihm womöglich auch noch Päckchen, aber für seinen Vater haste nicht mal ’ne Kartoffel und ’n Happen Fleisch übrig, hungrig wie der ist!«
Seine Stimme hat etwas von ihrem gleichgültigen Klang verloren, sie klingt, als sei der Mann jetzt ernstlich beleidigt und in seinem Recht gekränkt, weil sie dem Sohne etwas gibt, das sie dem Vater vorenthält.
»Lass man, Enno«, sagt sie ruhig. »Das ist meine Sache, der Karlemann ist ein ganz guter Junge …«
»So!«, sagt er. »So! Und das hast du natürlich ganz vergessen, wie er zu seinen Eltern war, als sie ihn erst zum Scharführer gemacht hatten? Wie du ihm nichts mehr recht machen konntest und er uns als alte, dumme Bürger ausgelacht hat – alles vergessen, wa, Evchen? Ein guter Junge, wahrhaftig, der Karlemann!«
»Mich hat er nie ausgelacht!«, verteidigt sie ihn mit schwacher Stimme.
»Nee, natürlich nicht!«, spottet er. »Und das hast du natürlich auch vergessen, dass er seine eigene Mutter nicht gekannt hat, wenn sie mit der schweren Posttasche die Prenzlauer Allee langkam? Wie er da mit seinem Mädchen weggeguckt hat, der feine Knochen, der!«
»So was kann man ’nem jungen Menschen nicht übelnehmen«, sagt sie. »Die wollen alle möglichst fein vor ihren Damen dastehen, so sind sie alle. Das gibt sich später wieder, der kommt zurück zu seiner Mutter, die ihn an der Brust gehabt hat.«
Einen Augenblick sieht er sie zögernd an, ob er auch das noch sagen soll. Er ist sonst wirklich nicht nachtragend, aber diesmal hat sie ihn zu sehr gekränkt, erst, weil sie ihm kein Essen gab, dann, als sie vor seinen Augen offensichtlich alle guten Sachen in die Kammer trug. So sagt er denn: »Ich, wenn ich ’ne Mutter wäre, ich möchte so ’nen Sohn nie wieder in meine Arme nehmen, solch Schwein, wie der geworden ist!« Er sieht in ihre von der Angst vergrößerten Augen, er sagt es ihr erbarmungslos in das wächserne Gesicht hinein. »Auf dem letzten Urlaub, da hat er mir ein Foto von sich gezeigt, das hat ein Kamerad von ihm aufgenommen. Noch geprahlt hat er mit dem Bild. Da ist dein Karlemann drauf zu sehen, wie er so ’n Judenkind von vielleicht drei Jahren beim Bein hält, und mit dem Kopf haut er’s gegen die Stoßstange vom Auto …«
»Nein! Nein!«, schreit sie. »Das hast du gelogen! Das hast du dir aus Rache ausgedacht, weil ich dir kein Essen gegeben habe! So was tut Karlemann nicht!«
»Wie kann ich mir das denn ausgedacht haben?«, fragt er, schon wieder ruhiger, nachdem er ihr diesen Stoß versetzt hat. »Mir so was auszudenken, habe ich gar nicht den Kopf! Und übrigens, wenn du mir nicht glaubst, dann kannst du ja in die Destille von Senftenberg gehen, da hat er das Foto allen gezeigt. Der dicke Senftenberg und dem seine Olle, die haben es auch gesehen …«
Er hört auf zu reden. Es ist sinnlos, jetzt mit dieser Frau weiterzureden, sie sitzt da, den Kopf auf dem Tisch, und heult. Das hat sie davon, und übrigens ist sie doch auch in der Partei und hat immer auf den Führer und alles, was er tat, geschworen. Da kann sie sich doch nicht wundern, dass der Karlemann so geworden ist.
Einen Augenblick steht Enno Kluge und sieht zweifelnd nach dem Kanapee hinüber – keine Decke und keine Kissen! Das kann ’ne schöne Nacht werden! Aber vielleicht ist das grade jetzt der richtige Augenblick, was zu riskieren? Er steht zweifelnd, sieht nach der verschlossenen Kammertür hin, dann entschließt er sich. Er greift einfach in die Schürzentasche der hemmungslos weinenden Frau und holt den Schlüssel raus. Er schließt die Tür auf und fängt an, in der Kammer rumzusuchen, und das nicht einmal leise …
Eva Kluge, die abgehetzte, übermüdete Briefbestellerin, hört das alles auch; sie weiß, dass er sie jetzt bestiehlt, aber es ist ihr gleich. Ihre Welt ist doch kaputt, ihre Welt kann nie wieder heil werden. Wozu hat man denn gelebt auf dieser Welt, wozu hat man Kindern das Leben geschenkt, sich an ihrem Lächeln, ihren Spielen erfreut, wenn dann Tiere aus ihnen werden? Ach, der Karlemann – er war solch ein süßer blonder Junge! Wie sie damals mit ihm im Zirkus Busch war, und die Pferde mussten sich der Länge nach hinlegen im Sand, wie er da Mitleid mit den armen Hottos hatte – ob sie krank seien? Sie musste ihn beruhigen, die Hottos schliefen nur.
Und nun ging er hin und tat den Kindern anderer Mütter dies an! Nicht einen Augenblick zweifelte Frau Eva Kluge daran, dass das mit dem Bilde stimmte, Enno war wirklich nicht fähig, sich so was auszudenken. Nein, sie hatte nun auch den Sohn verloren. Es war viel schlimmer, als wenn er gestorben wäre, dann hätte sie wenigstens über ihn trauern können. Jetzt konnte sie ihn nie mehr in die Arme nehmen, auch vor ihm musste sie ihr Heim verschlossen halten.
Der suchende Mann in der Kammer hat unterdes das gefunden, was er längst im Besitz seiner Frau vermutete: ein Postsparkassenbuch. 632 Mark drauf, ’ne tüchtige Frau, aber eigentlich wozu so tüchtig? Sie kriegt doch mal eines Tages ihre Rente, und was sie sonst gespart hat … Er wird morgen erst mal jedenfalls 20 Mark auf Adebar setzen und vielleicht 10 auf Hamilkar … Er blättert weiter in dem Buch: nicht nur ’ne tüchtige Frau, auch ’ne ordentliche. Alles liegt beisammen: hinten im Buch ist die Kontrollmarke, und die Auszahlungszettel fehlen auch nicht …
Er will das Buch grade in die Tasche stecken, da ist die Frau bei ihm. Sie nimmt ihm das Buch einfach aus der Hand und legt es aufs Bett. »Raus!«, sagt sie nur. »Raus!«
Und er, der eben noch den ganzen Sieg fest in seinen Händen glaubte, geht vor ihren bösen Augen aus der Kammer. Mit zitternden Händen, ohne auch nur ein Wort zu wagen, holte er Mantel und Mütze aus dem Schrank, ohne ein Wort ging er durch die geöffnete Tür an ihr vorbei ins dunkle Treppenhaus. Die Tür wurde ins Schloss gezogen, er knipste die Treppenbeleuchtung an und stieg die Stufen hinab. Gottlob hatte jemand die Haustür offengelassen. Er wird in seine Stammkneipe gehen; zur Not, wenn er niemanden findet, lässt ihn der Budiker auf dem Sofa dort schlafen. Er marschiert los, in sein Schicksal ergeben, gewohnt, Schläge einzustecken. Die Frau oben hat er schon wieder halb vergessen.
Sie aber steht am Fenster und starrt in das abendliche Dunkel hinaus. Schön. Schlimm. Auch Karlemann ist verloren. Sie wird es noch mit Max versuchen, dem jüngeren Sohn. Max war immer farbloser, mehr der Vater als sein glänzender Bruder. Vielleicht kann sie sich in Max einen Sohn gewinnen. Und wenn nicht, nun gut, dann wird sie eben für sich allein leben. Aber sie wird anständig bleiben. Dann hat sie eben das im Leben erreicht, dass sie anständig geblieben ist. Gleich morgen wird sie horchen, wie man es anfängt, aus der Partei herauszukommen, ohne dass die sie ins KZ stecken. Es wird schwer fallen, aber vielleicht schafft sie es. Und wenn es eben gar nicht anders sein kann, geht sie ins KZ. Das ist dann gewissermaßen ein klein bisschen Sühne für das, was Karlemann getan hat.
Sie zerknüllt den angefangenen, verweinten Brief an den Älteren. Sie legt ein neues Briefblatt hin und beginnt zu schreiben:
»Lieber Sohn Max!
Ich will Dir wieder mal ein Brieflein schreiben. Mir geht es noch gut, was ich auch von Dir hoffe. Vater war eben hier, aber ich habe ihm die Tür gewiesen, er wollte doch nur von mir ziehen. Auch von Deinem Bruder Karl habe ich mich losgesagt, wegen der Scheußlichkeiten, die er begangen hat. Jetzt bist Du mein einziger Sohn. Ich bitte Dich, bleibe immer anständig. Ich will auch alles tun, was ich für Dich kann. Schreibe mir bald auch einmal ein Brieflein. Es grüßt und küsst Dich
Deine Mutter.«
6. Otto Quangel gibt sein Amt auf
Die mit etwa achtzig Arbeitern und Arbeiterinnen besetzte Werkstatt der Möbelfabrik, der Otto Quangel als Werkmeister vorstand, hatte bis zum Kriegsausbruch nur Einzelmöbel nach Zeichnungen hergestellt, während die Fabrik sonst in allen ihren anderen Abteilungen nur Massenmöbel anfertigte. Mit dem Kriegsbeginn war der ganze Betrieb auf die Herstellung von Heeresgut umgestellt worden, und der Quangel’schen Werkstatt war dabei die Aufgabe zugefallen, gewisse, sehr schwere und große Kisten herzustellen, von denen behauptet wurde, sie dienten zum Transport schwerer Bomben.
Was Otto Quangel anging, so war es ihm ganz egal, wozu die Kisten dienten; er fand diese neue, geistlose Arbeit seiner unwürdig und verächtlich. Er war ein richtiger Kunsttischler gewesen, den die Maserung eines Holzes, die Anfertigung eines schön geschnitzten Schrankes mit einem Gefühl tiefer Befriedigung erfüllen konnte. Er hatte bei solcher Arbeit so viel Glück empfunden, wie ein Mensch seiner kühlen Veranlagung nur empfinden kann. Jetzt war er zu einem bloßen Antreiber und Aufpasser hinabgesunken, der nur noch darauf zu achten hatte, dass seine Werkstatt ihr Soll und möglichst mehr als dieses Soll erfüllte. Seiner Art nach hatte er aber nie ein Wort über diese Gefühle verloren, und sein scharfes, vogelhaftes Gesicht hatte nie etwas von der Verachtung, die er für diese erbärmliche Fichtenholzarbeit empfand, verraten. Hätte ihn jemand genauer beobachtet, so hätte er bemerkt, dass der wenig redende Quangel nun überhaupt nichts mehr sprach und dass er unter diesem Zutreibersystem eher geneigt war, die Sieben grade sein zu lassen.
Aber wer sollte auf einen so trockenen, unausgiebigen Mann wie Otto Quangel groß achten? Er schien zeit seines Lebens nur ein Arbeitstier gewesen zu sein, ohne irgendein anderes Interesse als das für die Arbeit, die er zu verrichten hatte. Er hatte nie einen Freund hier besessen, nie zu jemandem ein freundliches Wort gesprochen. Arbeit, nur Arbeit, ganz gleich, ob Menschen oder Maschinen, wenn sie nur ihre Arbeit taten!
Dabei war er nicht einmal unbeliebt, trotzdem er die Aufsicht über die Werkstatt hatte und zur Arbeit antreiben musste. Aber er schimpfte nie, und er schwärzte nie jemanden bei den Herren vorne an. Schien ihm irgendwo die Arbeit nicht richtig voranzugehen, so ging er dorthin und beseitigte wortlos mit seinen geschickten Händen das Arbeitshindernis. Oder er stellte sich zu ein paar Schwätzern und blieb, die dunklen Augen fast blicklos auf die Sprechenden geheftet, so lange bei ihnen stehen, bis ihnen die Lust zum Weiterreden vergangen war. Ständig verbreitete er ein Gefühl von Kühle um sich. In den kurzen Ruhepausen suchten die Arbeiter möglichst entfernt von ihm zu sitzen, und so genoss er eine ihm ganz selbstverständlich gezollte Achtung, die ein anderer mit noch so viel Reden und Anfeuern sich nicht verschafft hätte.
Auf der Fabrikleitung wussten sie auch wohl, was sie an Otto Quangel hatten. Seine Werkstatt erzielte stets die höchsten Leistungen, es gab nie Schwierigkeiten mit den Leuten, und Quangel war willig. Er wäre längst aufgerückt, wenn er sich hätte entschließen können, in die Partei einzutreten. Aber das lehnte er stets ab. »Für so was habe ich kein Geld übrig«, sagte er dann wohl. »Ich brauch jede Mark. Ich muss ’ne Familie ernähren.«
Man grinste im Geheimen über das, was man seinen schmutzigen Geiz nannte. Dieser Quangel schien ja innerlich über jeden Groschen, den er zu einer Sammlung spenden musste, vor Leid zu vergehen. Er bedachte gar nicht, dass er durch den Eintritt in die Partei viel mehr an Gehaltszulage gewann, als er durch den Parteibeitrag verlor. Aber dieser tüchtige Werkmeister war eben politisch ein hoffnungsloser Idiot, und so hatte man denn auch keine Bedenken, ihn in dieser kleinen leitenden Stellung zu belassen, obwohl er kein Parteimitglied war.
In Wahrheit war es nicht der Geiz Otto Quangels, der ihn von einem Eintritt in die Partei abhielt. Gewiss, er war in Gelddingen sehr genau und konnte sich über einen unüberlegt ausgegebenen Groschen noch wochenlang hinterher ärgern. Aber eben, weil er bei sich genau war, war er es auch bei anderen, und diese Partei schien alles andere als genau bei der Durchführung ihrer Grundsätze zu sein. Was er bei der Erziehung seines Sohnes durch Schule und Hitlerjugend erlebt, was er von Anna gehört hatte, wie er selbst erlebt hatte, dass alle gut bezahlten Posten in der Fabrik mit Parteigenossen besetzt wurden, denen die tüchtigsten Nichtparteigenossen stets zu weichen hatten – das alles bestärkte ihn in seiner Überzeugung, dass die Partei nicht genau, das heißt nicht gerecht war, und mit einer solchen Sache wollte er nichts zu tun haben.
Darum hatte ihn ja auch Annas Ruf ›Du und dein Führer‹ am Morgen so sehr gekränkt. Gewiss, er hatte bisher an den ehrlichen Willen des Führers, an seine Größe und seine guten Absichten geglaubt. Man brauchte nur alle diese Schmeißfliegen und Speckjäger, denen es nur um Geldscheffeln und Lebeschön ging, aus seiner Umgebung zu entfernen, und alles wurde besser. Aber bis es so weit war, machte er nicht mit, er nicht, und das wusste Anna, die Einzige, mit der er wirklich mal ein Wort sprach, auch ganz gut. Nun schön, sie hatte es in ihrer ersten Aufregung gesagt, er würde es mit der Zeit schon vergessen, er konnte ihr nie was nachtragen.
Was es freilich mit dem Führer und mit diesem Kriege auf sich hatte, das musste er sich erst noch genau überlegen. All so etwas ging nur langsam bei ihm. Andere waren von überraschenden Erlebnissen sofort beeindruckt, sie redeten los oder schrien und taten irgendetwas, bei ihm wirkte es lange, lange.










