Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Aber wie eine Schwimmerin, die einen Kopfsprung machen will, hat sich Trudel Hergesell schon in die Tiefe gestürzt. Sie hören ein Flattern und Sausen, ein dumpfes Aufschlagen.
Und dann ist alles totenstill, während sie die bleichen Gesichter über das Geländer neigen und doch nichts sehen.
Dann machen sie einen Schritt zur Treppe hin.
Und in demselben Augenblick bricht die Hölle los.
Es ist, als sei’s durch die eisenbeschlagenen Zellentüren zu sehen gewesen, was geschehen ist. Erst ist es vielleicht nur ein hysterischer Schrei gewesen, aber er lief weiter von Zelle zu Zelle und von Station zu Station, von der einen Gangseite zur anderen, über den Abgrund fort.
Und während er weiterlief, wurde aus dem einen Schrei ein Brüllen, Heulen, Zetern, Keifen, Toben.
»Ihr Mörder! Ihr habt sie umgebracht! Bringt uns doch gleich alle um, ihr Henker!«
Und es gab welche, die hingen sich an die Fenster und schrien es auf die Höfe, sodass auch die Männerflügel aus ihrem angstdünnen Schlaf erwachten, und es tobte, es schrie, es geiferte, es plärrte, es grunzte, es verzweifelte.
Es klagte an, es klagte an mit tausend, mit zweitausend, mit dreitausend Stimmen, schrie das Tier seine Anklage aus tausend, zweitausend, dreitausend Mäulern.
Und die Alarmglocke schrillte, und sie trommelten mit den Fäusten gegen die Eisentüren, mit den Schemeln rannten sie dagegen an. Die Eisenbetten fielen, knallend in ihren Scharnieren, und wurden wieder hochgerissen und knallten neu. Scheppernd fuhren die Essschüsseln auf dem Boden herum, die Kübeldeckel lärmten, und das ganze Haus, dieses Riesengefängnis, stank plötzlich wie eine verhundertfachte Latrine.
Und die Bereitschaften fuhren in ihre Kleider und griffen nach ihren Gummiknütteln.
Und Zellentüren wurden aufgeschlossen: Knackknack!
Und der klatschend dumpfe Laut von Gummiknütteln auf die Schädel hernieder wurde laut und das Gebrüll wütender, vermischt mit dem Gescharr kämpfender Füße, und die hohen, tierhaften Schreie der Epileptiker und das Juhu-Gejodel idiotischer Spaßmacher und die gellenden Ludenpfiffe …
Und Wasser klatschte in die Gesichter der eindringenden Aufseher.
Und in der Leichenkammer lag Karli Hergesell ganz still mit einem kindhaft kleinen, friedlichen Gesicht.
Und all das war eine wilde, panische, grausige Symphonie, gespielt zu Ehren Trudels, verwitwete Hergesell, geborene Baumann.
Aber sie lag unten, halb auf dem Linoleum, halb auf dem schmutziggrauen Zementboden der unteren Station I.
Sie lag da ganz still, ihre kleine graue Hand, die noch so viel Mädchenhaftes hatte, war leicht geöffnet. Ihre Lippen waren von ein wenig Blut gefärbt, ihre Augen sahen blicklos in eine unbekannte Gegend.
Aber ihre Ohren schienen auf den tosenden, auf- und abschwellenden Höllenlärm zu lauschen, und ihre Stirn war gefaltet, als grübele sie darüber nach, ob dieses wohl der Friede sei, den ihr der gute Pastor Lorenz versprochen.
In Verfolg aber dieses Selbstmordes wurde der Gefängnisgeistliche Friedrich Lorenz von seinem Amte suspendiert, und nicht der versoffene Arzt. Ein Verfahren wurde gegen den Geistlichen eröffnet. Denn es ist ein Verbrechen und die Begünstigung eines Verbrechens, wenn einem Gefangenen gestattet wird, selbst sein Lebensende zu bestimmen: dazu sind allein der Staat und seine Diener berechtigt.
Wenn ein Kriminalbeamter einen Mann mit seinem Pistolenkolben so verletzt, dass er sterbenskrank wird, und wenn ein betrunkener Arzt den Verletzten sterben lässt, so ist das alles in Ordnung. Aber wenn ein Geistlicher einen Selbstmord nicht verhindert, wenn er einem Gefangenen, der keinen eigenen Willen mehr haben darf, den eigenen Willen lässt, so hat er ein Verbrechen begangen und muss dafür büßen.
Leider entzog sich Pastor Friedrich Lorenz – genau wie diese Hergesell – der Sühne seines Verbrechens, indem er an einem Blutsturz starb, grade in dem Augenblick, als er verhaftet werden sollte. Es war nämlich auch der Verdacht aufgetaucht, dass er unsittliche Beziehungen zu seinen Betreuten unterhielt. Er aber hatte den Frieden, wie er selbst gesagt hätte, ihm blieb viel erspart.
Aber so kam es, dass Frau Anna Quangel bis zur Hauptverhandlung nichts von dem Tode von Trudel und Karl Hergesell erfuhr, denn der Nachfolger des guten Pastors war zu ängstlich oder unwillig, Botengänge unter den Gefangenen zu übernehmen. Er beschränkte sich strikte auf die Seelsorge, da, wo sie gewünscht wurde.
61. Die Hauptverhandlung: Ein Wiedersehen
Auch bei dem raffiniertest ausgeklügelten System können Fehler vorkommen. Der Volksgerichtshof zu Berlin, ein Gerichtshof, der nichts mit dem Volke zu tun hatte und zu dem das Volk nicht einmal als stummer Zuschauer zugelassen war, denn seine meisten Sitzungen waren geheim – dieser Volksgerichtshof war so ein raffiniert ausgeklügeltes System: ehe der Angeklagte noch den Verhandlungssaal betreten hatte, war er praktisch schon verurteilt, und nichts schien es zu geben, das dafür sprach, dass ein Angeklagter in diesem Saale etwas Erfreuliches erleben könnte.
An diesem Morgen stand nur eine kleine Sache an: gegen Otto und Anna Quangel wegen Landes- und Hochverrats. Der Zuhörerraum war kaum zu einem Viertel gefüllt: ein paar Parteiuniformen, einige Juristen, die aus unerforschlichen Gründen dieser Verhandlung beizuwohnen wünschten, und in der Hauptsache Studenten der Jurisprudenz, die lernen wollten, wie die Justiz Menschen aus der Welt schafft, deren Verbrechen darin bestand, ihr Vaterland mehr geliebt zu haben, als es die verurteilenden Richter taten. Alle diese Leute hatten nur durch »Beziehungen« Eintrittskarten bekommen. Woher der kleine Mann mit dem weißen Spitzbärtchen und den von klugen Fältchen umgebenen Augen, woher also der Kammergerichtsrat a.D. Fromm seine Karte bezogen hatte, bleibt unbekannt. Er saß jedenfalls unauffällig zwischen den anderen, in einem kleinen Abstand von ihnen, das Gesicht gesenkt und häufig seine goldgefasste Brille putzend.
Um fünf Minuten vor zehn Uhr wurde Otto Quangel von einem Schupo in den Gerichtssaal geführt. Man hatte ihm die Kleider angezogen, die er bei seiner Verhaftung in der Werkstatt getragen hatte, ein sauberes, aber vielfach geflicktes Alltagsgewand, bei dem die dunkelblauen Flicken sehr lebhaft von dem verwaschenen Blau der Grundfarbe abstachen. Sein immer noch scharfes Auge glitt gleichgültig von den noch leeren Plätzen hinter der Gerichtsschranke zu den Zuschauern hinüber, leuchtete einen Augenblick auf beim Anblick des Kammergerichtsrats – und Quangel setzte sich auf die Bank der Angeklagten.
Kurz vor zehn Uhr wurde die zweite Angeklagte, Anna Quangel, von einem zweiten Schupo hereingeführt, und nun geschah eben jenes Versehen: kaum hatte Anna Quangel ihren Mann gesehen, so ging sie, ohne zu zögern, ohne die Menschen im Saal zu beachten, zu ihm hin und setzte sich neben ihn.
Otto Quangel flüsterte hinter der vorgehaltenen Hand: »Sprich nicht! Noch nicht!«
Aber ein Aufleuchten in seinem Auge sagte ihr, wie erfreut er über dieses Wiedersehen war.
Es war natürlich nie und nirgends in der Geschäftsordnung dieses erlauchten Hauses vorgesehen, dass zwei Angeklagte, die seit Monaten sorgfältig voneinander isoliert worden waren, eine Viertelstunde vor Beginn der Verhandlung sich zusammensetzen und gemütlich miteinander plaudern konnten. Aber sei es nun, dass die beiden Schupos zum ersten Male diesen Dienst versahen und ihre Vorschriften vergessen hatten, oder sei es, dass sie dieser Strafsache keine große Bedeutung beimaßen, oder sei es, dass ihnen die beiden einfachen, fast dürftig angezogenen ältlichen Leutlein ganz unwesentlich erschienen, genug, sie erhoben keinen Einwand gegen den von Frau Anna gewählten Sitzplatz und kümmerten sich auch in der folgenden Viertelstunde so gut wie gar nicht um die beiden Angeklagten. Vielmehr begannen sie ein aufregendes Gespräch über irgendwelche Dienstbezüge, eine ihnen vorenthaltene Nachtzulage und unberechtigte hohe Lohnsteuerabzüge.
Auch im Zuschauerraum wurde – natürlich außer vom Kammergerichtsrat Fromm – von niemandem der Fehler bemerkt. Alle waren nachlässig und schlampig, niemand rügte diesen zum Nachteil des Dritten Reiches und zum Vorteil zweier Hochverräter begangenen Fehler. Ein Prozess, der nur zwei Angeklagte aus dem Arbeiterstand aufzuweisen hatte, konnte hier keinen großen Eindruck machen. Hier war man Monsterprozesse gewöhnt, mit dreißig, vierzig Angeklagten, die sich meist untereinander gar nicht kannten, die aber zu ihrer Überraschung im Verlauf des Prozesses erfuhren, dass sie alle miteinander verschworen waren, und die demgemäß auch verurteilt wurden.
So konnte Quangel, nach einigen Sekunden sorgfältigen Rundblickes, sagen: »Ich freue mich, Anna. Geht’s dir gut?«
»Ja, Otto, jetzt geht’s mir wieder gut.«
»Sie werden uns nicht lange beieinandersitzen lassen. Aber wir wollen uns dieser Minuten freuen. Dir ist doch klar, was kommen wird?«
Sehr leise: »Ja, Otto.«
»Ja, das Todesurteil für uns beide, Anna. Es ist unausbleiblich.«
»Aber, Otto …«
»Nein, Anna, kein Aber. Ich weiß, du hast den Versuch gemacht, alle Schuld auf dich zu nehmen …«
»Sie werden eine Frau nicht so schwer verurteilen, und du kommst vielleicht mit dem Leben davon.«
»Nein, nicht. Du kannst nicht gut genug lügen. Du wirst nur die Verhandlung in die Länge ziehen. Lass uns die Wahrheit sagen, dann geht es schnell.«
»Aber, Otto …«
»Nein, Anna, jetzt kein Aber. Denke nach. Lass uns nicht lügen. Die reine Wahrheit …«
»Aber, Otto …«
»Anna, ich bitte dich!«
»Otto, ich möchte dich doch retten, ich möchte wissen, dass du lebst!«
»Anna, ich bitte dich!«
»Otto, mach es mir doch nicht so schwer!«
»Sollen wir gegen die anlügen? Uns streiten? Denen ein Schauspiel bieten? Die reine Wahrheit, Anna!«
Sie kämpfte mit sich. Dann gab sie nach, wie sie ihm immer nachgegeben hatte. »Gut, Otto, ich verspreche es dir.«
»Danke, Anna. Ich danke dir sehr.«
Sie schwiegen. Sie sahen vor sich nieder. Beide schämten sie sich, ihre Rührung zu zeigen.
Die Stimme des einen Polizisten hinter ihnen wurde vernehmbar: »Und da ha’ck den Leutnant jesacht, Leutnant, ha’ck jesacht, so wat könn Se doch mit mir nich machen, Leutnant, ha’ck jesacht …«
Otto Quangel gab sich einen Ruck. Es musste sein. Wenn Anna es während der Verhandlung erfuhr – und sie musste es im Verlauf der Verhandlung erfahren –, war alles noch viel schlimmer. Die Folgen waren ganz unübersehbar.
»Anna«, flüsterte er. »Du bist stark und mutig, nicht wahr?«
»Ja, Otto«, antwortete sie. »Jetzt bin ich es. Seit ich bei dir bin, bin ich es. Was ist noch Schlimmes?«
»Ja, es ist etwas Schlimmes, Anna …«
»Was ist es denn, Otto? Sage es doch, Otto! Wenn selbst du Angst hast, es mir zu sagen, bekomme ich auch Angst.«
»Anna, du hast nichts mehr von der Gertrud gehört?«
»Von welcher Gertrud?«
»Von der Trudel doch!«
»Ach, von der Trudel! Was ist mit der Trudel? Nein, seit wir in der Untersuchungshaft sind, habe ich nichts mehr von ihr gehört. Sie hat mir sehr gefehlt, sie war so gut zu mir. Sie hat mir verziehen, dass ich sie verraten hatte.«
»Du hast sie doch nicht verraten, die Trudel! Erst habe ich es auch gedacht, aber dann habe ich es verstanden.«
»Ja, sie hat es auch verstanden. Ich war so verwirrt während der ersten Verhöre durch diesen schrecklichen Laub, dass ich nicht wusste, was ich sagte, aber sie hat es verstanden. Sie hat mir verziehen.«
»Gottlob! Anna, sei mutig und stark! Die Trudel ist tot.«
»Oh!«, stöhnte Anna nur und legte die Hand aufs Herz. »Oh!«
Und er setzte rasch hinzu, um jetzt alles auf einmal hinter sich zu bringen: »Und ihr Mann ist auch tot.«
Jetzt kam lange keine Antwort. Sie saß da, die Hände vor dem gesenkten Gesicht, aber Otto fühlte, dass sie nicht weinte, dass sie noch wie betäubt war von der schrecklichen Nachricht. Und unwillkürlich sprach er die Worte, die der gute Pastor Lorenz zu ihm beim Überbringen dieser Nachricht gesagt hatte: »Sie sind tot. Sie haben den Frieden. Ihnen ist viel erspart geblieben.«
»Ja!«, sagte Anna jetzt. »Ja. Sie hat sich so viel um Ihren Karli geängstigt, als keine Nachricht kam, aber nun hat sie den Frieden.«
Sie schwieg lange, und Quangel drängte sie nicht, obwohl er an der Unruhe im Saale merkte, dass der Gerichtshof bald kommen würde.
Leise fragte Anna schließlich: »Sind die beiden – hingerichtet?«
»Nein«, antwortete Quangel. »Er ist an den Folgen eines Schlages gestorben, den er bei der Verhaftung abbekommen hat.«
»Und Trudel?«
»Sie hat sich dann selbst das Leben genommen«, sagte Otto Quangel schnell. »Sie ist über das Gitter im fünften Stock gesprungen. Sie ist sofort tot gewesen, hat der Pastor Lorenz gesagt. Sie hat nicht gelitten.«
»Das ist in der Nacht geschehen«, erinnerte sich Anna Quangel plötzlich, »als das ganze Gefängnis schrie! Jetzt weiß ich es, oh, es war schrecklich, Otto!« Und sie verbarg das Gesicht.
»Ja, es war schrecklich«, wiederholte Quangel. »Auch bei uns war es schrecklich.«
Nach einer Weile hob sie den Kopf wieder und sah Otto fest an. Noch zitterten ihre Lippen, aber sie sagte: »Es ist besser, wie es gekommen ist. Wenn sie hier neben uns säßen, es wäre so schrecklich. Nun haben sie ihren Frieden.« Und ganz leise: »Otto, Otto, wir könnten es auch so machen.«
Er sah sie fest an. Und sie sah in den harten, scharfen Augen ein Licht, wie sie es nie gesehen, ein spöttisches Licht, als sei alles nur ein Spiel, das, was sie jetzt sagte, und das, was kommen würde, und das unvermeidliche Ende. Als sei es nicht wert, so ernst genommen zu werden.
Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Nein, Anna, wir tun das nicht. Wir stehlen uns nicht weg, als seien wir überführte Verbrecher. Wir nehmen ihnen das Urteil nicht ab. Wir nicht!« Und in einem ganz anderen Ton: »Für all so was ist es zu spät. Wirst du nicht gefesselt?«
»Doch«, sagte sie. »Aber als der Schupo mich bis an die Tür hier geführt hatte, hat er mir das Kettchen abgenommen.«
»Du siehst!«, sagte er. »Es würde misslingen.«
Er verschwieg ihr, dass er, seit man ihn aus dem Untersuchungsgefängnis fortgeführt hatte, gefesselt war, mit Handschellen und einer Kette, mit Fußschellen und einer Eisenstange. Wie bei Anna hatte der Schupo ihm erst an der Tür des Verhandlungssaals diesen Schmuck abgenommen: der Staat sollte nicht um sein Schlachtopfer betrogen werden.
»Nun gut«, fand sie sich darein. »Aber du glaubst doch, Otto, dass wir zusammen hingerichtet werden?«
»Ich weiß nicht«, sagte er ausweichend. Er wollte sie nicht belügen und wusste doch, jedes würde allein sterben müssen.
»Aber man wird uns doch zur gleichen Stunde hinrichten?«
»Sicher, Anna, bestimmt wird man das!«
Aber er war nicht so sicher. Er fuhr fort: »Aber denke jetzt nicht daran. Denke nur daran, dass wir jetzt stark sein müssen. Wenn wir uns schuldig bekennen, wird alles sehr schnell gehen. Wenn wir keine Ausflüchte machen und nicht lügen, haben wir vielleicht schon in einer halben Stunde unser Urteil.«
»Ja, so wollen wir es machen. Aber, Otto, wenn es so schnell geht, werden wir auch schnell wieder getrennt, und vielleicht sehen wir uns nie wieder.«
»Bestimmt sehen wir uns – vorher noch wieder, Anna. Das hat man mir gesagt, wir dürfen noch Abschied nehmen voneinander. Bestimmt, Anna!«
»Dann ist es gut, Otto, dann habe ich doch was, auf das ich mich jede Stunde freuen kann. Und jetzt sitzen wir beisammen.«
Sie saßen nur noch eine Minute beisammen, dann wurde der Fehler entdeckt, und die beiden wurden weit auseinander gesetzt. Sie mussten den Kopf wenden, um einander zu sehen. Gottlob war es der Anwalt von Frau Quangel, der den Fehler entdeckte, ein freundlicher, grauer, etwas versorgter Mann, den das Gericht als Pflichtanwalt bestellt hatte, da Quangel dabei geblieben war, kein Geld an eine so nutzlose Sache wie ihre Verteidigung zu wenden.
Da der Anwalt den Fehler entdeckt hatte, ging es ohne alles Geschrei ab. Auch die beiden Schutzpolizisten hatten alle Ursache, den Mund zu halten, und so erfuhr der Präsident des Volksgerichtshofs, Feisler, nie, was hier Unverzeihliches geschehen war. Die Verhandlung hätte sonst wahrscheinlich noch viel länger gedauert.
62. Die Hauptverhandlung: Präsident Feisler
Der Präsident des Volksgerichtshofs, der höchste Richter im deutschen Lande zu jener Zeit, Feisler, hatte das Aussehen eines gebildeten Mannes. Er war, nach der Terminologie des Werkmeisters Otto Quangel, ein feiner Herr. Er wusste seinen Talar mit Anstand zu tragen, und das Barett verlieh seinem Haupt Würde, saß nicht sinnlos angeklebt darauf wie auf vielen anderen Köpfen. Die Augen waren klug, aber kalt. Er hatte eine hohe, schöne Stirn, aber der Mund war gemein, dieser Mund mit den harten, grausamen und doch wollüstigen Lippen verriet den Mann, einen Lüstling, der alle Genüsse dieser Welt gesucht hatte und der stets andere dafür hatte zahlen lassen.
Und die Hände mit ihren langen, knotigen Fingern waren gemein, Finger wie die Krallen eines Geiers – wenn er eine besonders verletzende Frage stellte, so krümmten sich diese Finger, als wühlten sie im Fleisch des Opfers. Und seine Art zu sprechen war gemein: dieser Mann konnte nie ruhig und sachlich sprechen, er hackte auf seine Opfer los, er beschimpfte sie, er sprach mit schneidender Ironie. Ein gemeiner Mensch, ein schlechter Mensch.
Seitdem Otto Quangel die Anklage zugestellt worden war, hatte er manches Mal mit Dr. Reichhardt, seinem Freunde, über diese Hauptverhandlung gesprochen. Auch der kluge Dr. Reichhardt war der Ansicht gewesen, da das Ende doch unabänderlich sei, solle Quangel von vornherein alles zugestehen, nichts vertuschen, nie lügen. Das würde diesen Leuten den Wind aus den Segeln nehmen, sie würden nicht lange mit ihm herumschimpfen können. Die Verhandlung würde dann nur kurz sein, man würde bestimmt auf eine Zeugenvernehmung verzichten.
Es war eine kleine Sensation, als beide Angeklagte auf die Frage des Vorsitzenden, ob sie sich im Sinne der Anklage schuldig bekennten, mit einem einfachen »Ja« antworteten. Denn mit diesem Ja hatten sie sich selbst das Todesurteil gesprochen und jede weitere Verhandlung unnötig gemacht.
Einen Augenblick stutzte auch der Präsident Feisler, überwältigt von diesem kaum je gehörten Geständnis.
Aber dann besann er sich. Er wollte seine Verhandlung haben. Er wollte diese beiden Arbeiter im Dreck sehen, er wollte sie sich winden sehen unter seinen messerscharfen Fragen. Dieses Ja auf die Frage »Schuldig?« hatte Stolz gezeigt. Präsident Feisler sah es den Gesichtern im Zuhörerraum an, die teils verblüfft, teils nachdenklich aussahen, und er wollte den Angeklagten diesen Stolz nehmen. Sie sollten aus dieser Verhandlung ohne Stolz, ohne Würde hinausgehen.
Feisler fragte: »Sie sind sich klar darüber, dass Sie durch dieses Ja sich selbst das Leben abgesprochen haben, dass Sie sich selbst geschieden haben von allen anständigen Menschen? Dass Sie ein gemeiner, todeswürdiger Verbrecher sind, dessen Aas man am Halse aufhängen wird? Sie sind sich klar darüber? Antworten Sie mit Ja oder mit Nein!«
Quangel sagte langsam: »Ich bin schuldig, ich habe getan, was in der Anklage steht.«
Der Präsident hackte zu: »Sie sollen mit Ja oder Nein antworten! Sind Sie ein gemeiner Volksverräter, oder sind Sie es nicht? Ja oder nein!«
Quangel sah den feinen Herrn dort über sich scharf an. Er sagte: »Ja!«
»Pfui Teufel!«, schrie der Präsident und spuckte hinter sich. »Pfui Teufel! Und so was nennt sich Deutscher!«
Er sah Quangel mit tiefer Verachtung an und wandte dann seinen Blick zu Anna Quangel. »Und Sie da, Sie Frau da?«, fragte er. »Sind Sie auch so gemein wie Ihr Mann? Sind Sie auch eine schuftige Volksverräterin? Schänden Sie auch das Ansehen Ihres auf dem Felde der Ehre gefallenen Sohnes? Ja oder nein?«
Der versorgte graue Anwalt erhob sich eilig und sagte: »Ich bitte doch, bemerken zu dürfen, Herr Präsident, dass meine Mandantin …«
Der Präsident hackte wieder zu. »Ich nehme Sie in Strafe, Herr Rechtsanwalt«, sagte er, »ich nehme Sie sofort in Strafe, wenn Sie noch einmal, ohne aufgefordert zu sein, das Wort ergreifen! Setzen Sie sich!«
Der Präsident wendete sich wieder an Anna Quangel. »Nun, wie ist es mit Ihnen? Besinnen Sie sich auf den letzten Rest von Anständigkeit in Ihrer Brust, oder wollen Sie so etwas sein wie Ihr Mann, von dem wir jetzt schon wissen, dass er ein gemeiner Volksverräter ist? Sind Sie eine Verräterin Ihres Volkes in schwerer Notzeit? Haben Sie den Mut, den eigenen Sohn zu schänden? Ja oder nein?«
Anna Quangel sah ängstlich zögernd zu ihrem Mann hinüber.
»Sie haben mich anzusehen! Nicht diesen Hochverräter! Ja oder nein!«
Leise, aber deutlich: »Ja!«
»Sie sollen laut reden! Wir wollen es alle hören, dass eine deutsche Mutter sich nicht schämt, den Heldentod ihres eigenen Sohnes mit Schande zu bedecken!«
»Ja!«, sagte Anna Quangel laut.
»Unglaublich!«, rief Feisler. »Ich habe hier viel Trauriges und auch Grauenhaftes erlebt, aber eine solche Schande ist mir noch nicht vorgekommen! Sie müssten nicht gehängt, sondern entmenschte Bestien wie Sie müssten gevierteilt werden!«
Er sprach mehr zu den Hörern als zu den Quangels, er nahm die Anklagerede des Anklägers vorweg. Er schien sich zu besinnen (er wollte seine Verhandlung haben): »Aber meine schwere Pflicht als Oberster Richter gebietet es mir, mich nicht einfach mit Ihrem Schuldbekenntnis zu begnügen. So schwer es mir auch fällt und so aussichtslos es erscheint, meine Pflicht gebietet mir nachzuprüfen, ob es nicht doch vielleicht irgendwelche Milderungsgründe gibt.«
So begann es, und dann dauerte es sieben Stunden an.
Ja, der kluge Dr. Reichhardt in der Zelle hatte sich geirrt und Quangel mit ihm. Nie hatten sie damit gerechnet, dass der höchste Richter des deutschen Volkes die Verhandlung in einer so abgrundtiefen, so gemeinen Gehässigkeit führen werde. Es war, als hätten die Quangels ihn selbst, den Herrn Präsidenten Feisler, höchstpersönlich gekränkt, als sei ein kleiner, missgünstiger, nie verzeihender Mann in seiner Ehre beleidigt und lege es nun darauf an, seinen Gegner bis auf den Tod zu verletzen. Es war, als habe Quangel die Tochter des Präsidenten verführt, so persönlich war das alles, so himmelweit entfernt von aller Sachlichkeit. Nein, da hatten sich die beiden gewaltig geirrt, dieses Dritte Reich hatte für seinen tiefsten Verächter immer noch neue Überraschungen, es war über jede Gemeinheit hinaus gemein.
»Die Zeugen, Ihre anständigen Arbeitskameraden, haben ausgesagt, dass Sie von einem gradezu schmutzigen Geiz besessen waren, Angeklagter. Was haben Sie nun wohl in einer Woche verdient?«, fragte der Präsident etwa.
»Vierzig Mark habe ich in der letzten Zeit nach Haus gebracht«, antwortete Quangel.
»So, vierzig Mark, und da waren also die Abzüge, die Lohnsteuer und das Winterhilfswerk und die Krankenkasse und die Arbeitsfront, schon weg?«
»Die waren schon weg.«
»Das scheint mir aber ein ganz hübscher Verdienst zu sein für zwei alte Leute wie Sie, ja?«
»Wir sind damit ausgekommen.«
»Nein, Sie sind nicht damit ausgekommen! Sie lügen schon wieder! Sondern Sie haben noch regelmäßig gespart! Stimmt das oder stimmt das nicht?«
»Das stimmt. Meistens haben wir was zurückgelegt.«
»Wie viel haben Sie denn zurücklegen können jede Woche, im Durchschnitt?«
»Das kann ich so genau nicht sagen. Das war verschieden.«
Der Präsident ereiferte sich: »Im Durchschnitt, habe ich gesagt! Im Durchschnitt! Verstehen Sie nicht, was das heißt, im Durchschnitt? Und Sie schimpfen sich Handwerksmeister? Können nicht mal rechnen! Prachtvoll!«
Der Präsident Feisler schien es aber gar nicht prachtvoll zu finden, sondern er sah den Angeklagten empört an.
»Ich bin über fünfzig. Ich habe fünfundzwanzig Jahre gearbeitet. Die Jahre sind verschieden gewesen. Ich bin auch mal arbeitslos gewesen. Oder der Junge war krank. Ich kann keinen Durchschnitt sagen.«
»So? Das können Sie nicht? Ich will Ihnen sagen, warum Sie das nicht können! Sie wollen es nicht! Das ist eben Ihr schmutziger Geiz gewesen, von dem Ihre anständigen Arbeitskameraden sich mit Abscheu abgewandt haben. Sie haben Angst, wir könnten hier erfahren, wie viel Sie zusammengescharrt haben! Nun, wie viel ist es gewesen? Können Sie das auch nicht sagen?«
Quangel kämpfte mit sich. Der Präsident hatte wirklich eine schwache Stelle bei ihm gefunden. Wie viel sie tatsächlich gespart hatten, wusste nicht einmal Anna. Aber dann gab Quangel sich einen Ruck. Er warf auch das hinter sich. In den letzten Wochen hatte er so vieles hinter sich geworfen, warum nicht auch dies? Er löste sich ganz von dem Letzten, das ihn noch an sein altes Leben band, und sagte: »4763 Mark!«










