Hans Fallada – Gesammelte Werke

- -
- 100%
- +
Wie er da so mitten im Sausen und Kreischen seiner Werkstatt steht, den Kopf etwas erhoben und den Blick langsam von der Dicktenhobelmaschine zu der Bandsäge, zu den Naglern, Bohrern, Bretterträgern wandern lässt, merkt er, wie diese Nachricht von Ottos Tod und ganz besonders Annas und Trudels Verhalten immer weiter in ihm wirken. Er denkt nicht eigentlich darüber nach, er weiß vielmehr genau, dass dieser Liederlich, dieser Tischler Dollfuß,[13] schon vor sieben Minuten die Werkstatt verlassen hat und dass die Arbeit in seiner Reihe darum stockt, weil er auf dem Abtritt wieder mal eine Zigarette rauchen muss oder weil er dort Reden schwingt. Er gibt ihm noch drei Minuten, dann holt er ihn rein, er selber!
Und während sein Auge nun zu dem Zeiger der Wanduhr gleitet und feststellt, dass Dollfuß tatsächlich in drei Minuten zehn Minuten geschwänzt haben wird, fällt ihm nicht nur dieses hassenswerte Plakat über Trudels Kopf ein, denkt er nicht nur darüber nach, was das eigentlich genau ist: Landes- und Hochverrat und wo man so was wohl erfährt, sondern er denkt auch daran, dass er einen vom Pförtner ihm übergebenen Brief in der Jackentasche trägt, durch den der Werkmeister Quangel kurz und knapp aufgefordert wird, pünktlich fünf Uhr in der Beamtenkantine zu erscheinen.
Nicht, dass dieser Brief ihn irgendwie aufregt oder stört. Er hat früher, als die Möbelherstellung noch im Gange war, oft auf die Fabrikleitung gemusst, um die Herstellung eines Möbelstückes zu besprechen. Beamtenkantine ist etwas Neues, aber das ist ihm gleich, bis fünf Uhr sind es aber nur noch sechs Minuten, und bis dahin möchte er den Tischler Dollfuß gerne an seiner Säge haben. So geht er eine Minute früher, als er beabsichtigt hat, los, um den Dollfuß zu suchen.
Aber er findet ihn weder auf den Abtritten noch auf den Gängen, noch in den anliegenden Werkstätten, und als er in die eigene Werkstatt zurückkehrt, zeigt die Uhr eine Minute vor fünf Uhr, und es wird höchste Zeit für ihn, wenn er nicht unpünktlich sein will. Er klopft sich schnell den gröbsten Sägestaub von der Jacke und geht dann eilig hinüber in das Verwaltungsgebäude, in dessen Erdgeschoss sich die Beamtenkantine befindet.
Sie ist ersichtlich für einen Vortrag vorbereitet, eine Rednertribüne ist errichtet, ein langer Tisch für die Vorsitzenden, und der ganze Saal ist mit Stuhlreihen ausgefüllt. Er kennt das alles von den Versammlungen der Arbeitsfront, an denen er oft hat teilnehmen müssen, nur dass diese Versammlungen stets drüben in der Werkkantine stattfanden. Der einzige Unterschied ist der, dass dort rohe Holzbänke standen statt der Rohrstühle hier, und dann saßen die meisten dort wie er in Arbeitskluft, während es hier mehr braune und auch graue Uniformen gibt, die Beamten in Zivil verschwinden dazwischen.
Quangel hat sich auf einen Stuhl ganz nahe an der Tür gesetzt, um beim Schluss der Rede möglichst rasch wieder in seine Werkstatt zu kommen. Der Saal ist schon ziemlich gefüllt, als Quangel gekommen ist, zum Teil sitzen die Herren schon auf den Stühlen, ein anderer Teil steht noch auf den Gängen und an der Wand in Grüppchen, sie reden miteinander.
Sie alle aber, die hier versammelt sind, tragen das Hakenkreuz. Quangel scheint der Einzige ohne das Parteiabzeichen zu sein (von den Wehrmachtsuniformen natürlich abgesehen, aber die tragen dafür das Hoheitszeichen). Es ist wohl ein Irrtum, dass sie ihn hierher eingeladen haben. Quangel wendet den Kopf aufmerksam hin und her. Ein paar Gesichter kennt er. Der dicke Bleiche dort, der schon am Vorstandstisch sitzt, das ist der Herr Generaldirektor Schröder, den kennt er vom Sehen. Und der kleine Spitznasige mit dem Klemmer, das ist der Herr Kassierer, von dem er jeden Sonnabend seine Lohntüte in Empfang nimmt und mit dem er sich schon ein paarmal wegen der hohen Abzüge kräftig gestritten hat. Komisch, wenn der an seiner Kasse steht, hat er nie das Parteiabzeichen getragen!, denkt Quangel flüchtig.
Aber die meisten Gesichter, die er sieht, sind ihm völlig unbekannt, es sind wohl fast nur Herren aus den Büros, die hier sitzen. Plötzlich wird Quangels Blick scharf und stechend, in einer Gruppe hat er den Mann entdeckt, den er vorhin vergeblich auf dem Abtritt gesucht hat, den Tischler Dollfuß. Aber der Tischler Dollfuß trägt jetzt keine Arbeitskluft, er trägt einen feinen Sonntagsanzug und redet mit den zwei Herren in Parteiuniform ganz so, als seien sie seinesgleichen. Und jetzt trägt auch der Tischler Dollfuß ein Hakenkreuz, dieser Mann, der ihm schon ein paarmal in der Werkstatt durch sein leichtsinniges Gerede aufgefallen ist! So ist das also!, denkt Quangel. Das ist also ein richtiger Spitzel. Womöglich ist der Mann gar kein richtiger Tischler und heißt auch nicht Dollfuß. War Dollfuß nicht ein Kanzler in Österreich, den sie ermordet haben? Alles Schiebung – und ich habe nie was gemerkt, ich dummes Aas!
Und er fängt an, darüber nachzugrübeln, ob der Dollfuß schon in seiner Werkstatt war, als der Ladendorf und der Tritsch abgelöst wurden und alle munkelten, sie seien ins KZ gewandert.
Quangels Haltung hat sich gestrafft. Achtung!, hat es in ihm gesagt. Und: Hier sitz ich ja wie unter Mördern! Später denkt er: Ich werde mich auch von diesen Brüdern nicht kriegen lassen. Ich bin eben nur ein oller, dussliger Werkmeister, ich versteh von nischt was. Aber mitmachen, nee, das tu ich nicht. Ich hab’s heute früh gesehen, wie es die Anna gepackt hat und danach die Trudel; ich mach bei so was nicht mit. Ich will nicht, dass eine Mutter oder Braut durch mich so hingerichtet wird. Die sollen mich rauslassen aus ihren Sachen …
So denkt er. Unterdes hat sich der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt. Der Vorstandstisch ist eng von braunen Uniformen und schwarzen Röcken besetzt, und auf dem Rednerpult steht jetzt ein Major oder Oberst (Quangel hat es nie gelernt, Uniformen und Rangabzeichen auseinanderzuhalten) und spricht von der Kriegslage.
Natürlich ist die großartig, der Sieg über Frankreich wird gebührend gefeiert, und es kann nur eine Frage von wenigen Wochen sein, dass auch England am Boden liegt. Dann kommt der Redner allmählich dem Punkte näher, der ihm am Herzen liegt: wenn nämlich die Front so große Erfolge erzielt, so wird erwartet, dass auch die Heimat ihre Pflicht tut. Was nun folgt, das klingt beinahe so, als komme der Herr Major (oder Oberst oder Hauptmann) direkt aus dem Hauptquartier, um der Belegschaft der Möbelfabrik Krause & Co. vom Führer zu sagen, dass sie unbedingt ihre Leistungen steigern müsse. Der Führer erwartet, dass die Fabrik in drei Monaten ihre Leistung um fünfzig Prozent, in einem halben Jahr aber aufs Doppelte gesteigert hat. Vorschläge, um dieses Ziel zu erreichen, werden aus der Versammlung gerne entgegengenommen. Wer aber nicht mitmacht, ist als Saboteur zu betrachten und entsprechend zu behandeln.
Während der Redner noch ein »Siegheil« auf den Führer ausbringt, denkt Otto Quangel: Dumm sind die, dumm wie Schifferscheiße! England liegt in ein paar Wochen am Boden, der Krieg ist alle, und wir steigern in einem halben Jahre unsere Kriegsproduktion um hundert Prozent! Wer denen bloß so was abnimmt?
Aber er schreit brav sein »Siegheil« mit, setzt sich wieder und blickt dann auf den nächsten Redner, der in brauner Uniform das Pult betritt, die Brust dick mit Medaillen, Orden und Abzeichen geschmückt. Dieser Parteiredner ist eine ganz andere Sorte Mann als sein militärischer Vorredner. Von allem Anfang an spricht er scharf und zackig von dem Ungeist, der immer noch in den Betrieben umgeht, trotz der herrlichen Erfolge des Führers und der Wehrmacht. Er redet so scharf und zackig, dass er nur brüllt, und er nimmt kein Blatt vor den Mund, als er von den Miesmachern und Meckerern spricht. Jetzt soll und wird der letzte Rest von ihnen ausgetilgt werden, Schlitten wird man mit ihnen fahren, man wird ihnen was über die Schnauze geben, dass sie nie wieder die Zähne auseinanderkriegen! Suum cuique, das hat auf den Koppelschlössern gestanden im Ersten Weltkrieg, und: Jedem das Seine, das steht jetzt über den Toren der Konzertlager! Da wird denen was beigebracht, und wer dafür sorgt, dass so ’n Kerl oder so ’n Weib reinkommt, der hat was geleistet für das deutsche Volk, und der ist ein Mann des Führers.
»Euch aber alle hier, die ihr hier sitzt«, brüllt der Redner zum Schluss, »ihr Werkstättenleiter, Abteilungsvorsteher, Direktoren – euch mache ich persönlich dafür haftbar, dass euer Betrieb sauber ist! Und Sauberkeit, das ist nationalsozialistisches Denken! Nur das! Wer da schlappschwänzig ist und weichmäulig und wer nicht alles anzeigt, auch die geringste Kleinigkeit, der fliegt selber ins KZ. Dafür stehe ich euch persönlich, ob ihr nun Direktor seid oder Werkmeister, ich bring euch zurecht, und wenn ich euch die Schlappheit mit den Stiebeln aus dem Leibe treten soll!«
Der Redner steht noch einen Augenblick da, er hat seine Hände wutverkrampft erhoben, er ist blaurot im Gesicht. In der Versammlung ist es nach diesem Ausbruch totenstill geworden, sie machen alle ziemlich bekniffene Gesichter, sie, die so plötzlich und unverhüllt zu Spitzeln ihrer Kameraden gemacht wurden. Dann stampft der Redner mit schweren Schritten von seinem Pult hinunter, wobei die Abzeichen auf seiner Brust leise klingeln, und nun erhebt sich der blasse Generaldirektor Schröder und fragt mit sanfter, leiser Stimme, ob etwa Wortmeldungen vorlägen.
Ein Aufatmen geht durch die Versammlung, ein Zurechtrücken – als wäre ein böser Traum ausgeträumt, und der Tag komme wieder zu seinem Recht. Es scheint niemand zu sein, der jetzt noch sprechen will, alle haben sie wohl den Wunsch, möglichst bald diesen Saal zu verlassen, und der Generaldirektor will eben die Versammlung mit einem »Heil Hitler« schließen, da steht plötzlich im Hintergrund ein Mann in blauer Arbeitsbluse auf und sagt, was die Leistungssteigerung in seiner Werkstatt angehe, so sei das ganz einfach. Man müsse nur noch die und die Maschinen aufstellen, er zählt sie auf und erklärt, wie sie aufgestellt werden müssen. Ja, und dann müsse man noch sechs oder acht Leute aus seiner Werkstatt raussetzen, Bummelanten und Nichtskönner. Dann schaffe er das mit den hundert Prozent schon in einem Vierteljahr.
Quangel steht kühl und gelassen da, er hat den Kampf aufgenommen. Er fühlt, wie sie ihn alle anstarren, diesen einfachen Arbeiter, der so gar nicht zwischen diese feinen Herren gehört. Aber er hat sich nie was aus den Menschen gemacht, ihm ist es egal, ob sie ihn anstarren. Jetzt, wo er ausgeredet hat, stecken sie am Vorstandstisch die Köpfe über ihn zusammen. Die Redner erkundigen sich, wer das wohl ist, dieser Mann in der blauen Bluse. Dann steht der Major oder Oberst auf und sagt Quangel, die technische Leitung werde sich mit ihm wegen der Maschinen besprechen, aber wie er das meine mit den sechs oder acht Leuten, die aus seiner Werkstatt raus sollten?
Langsam und hartnäckig antwortet Quangel: »Ja, manche können eben nicht so arbeiten, und manche wollen es nicht. Da sitzt gleich einer von denen!« Und er zeigt mit dem großen, starren Zeigefinger ganz unverhohlen auf den Tischler Dollfuß, der einige Reihen vor ihm sitzt.
Jetzt platzen einige mit Lachen heraus, und zu den Lachern gehört auch der Tischler Dollfuß, der den Kopf nach ihm umgedreht hat und ihn anlacht.
Aber Quangel sagt kalt und ohne eine Miene zu verziehen: »Ja, leichtsinnig reden, Zigaretten auf dem Abtritt rauchen und die Arbeit versäumen, das kannst du, Dollfuß!«
Am Vorstandstisch haben sie wieder die Köpfe über diesen verdrehten Kauz zusammengesteckt. Aber jetzt hält nichts mehr den braunen Redner, er springt auf und schreit: »Du bist nicht in der Partei – warum bist du nicht in der Partei?«
Und Quangel antwortet, was er immer auf diese Frage geantwortet hat: »Weil ich jeden Groschen brauche, weil ich Familie habe, darum kann ich mir das nicht leisten!«
Der Braune brüllt: »Weil du ein geiziger Hund bist! Weil du nichts über hast für deinen Führer und dein Volk! Wie groß ist denn deine Familie?«
Und kalt antwortet ihm Quangel ins Gesicht hinein: »Von meiner Familie reden Sie mir heut nicht, lieber Mann! Ich habe gerade heute die Nachricht bekommen, dass mir mein Sohn gefallen ist!«
Einen Augenblick ist es totenstill im Saal, über die Stuhlreihen weg starren sich der braune Bonze und der alte Werkmeister an. Dann setzt sich Otto Quangel plötzlich, als sei nun alles erledigt, und ein wenig später setzt sich auch der Braune. Wieder erhebt sich der Generaldirektor Schröder und bringt nun das »Siegheil!« auf den Führer aus: Es klingt etwas dünn. Dann ist die Versammlung geschlossen.
Fünf Minuten später steht Quangel wieder in seiner Werkstatt; mit etwas erhobenem Kopf lässt er langsam den Blick von der Dicktenhobelmaschine zu der Bandsäge wandern, von da weiter zu den Naglern, den Bohrern, den Bretterträgern … Aber es ist der alte Quangel nicht mehr, der dort steht. Er fühlt es, er weiß es, er hat sie alle überlistet. Vielleicht auf eine hässliche Weise überlistet, indem er aus dem Tode des Sohnes Kapital schlug, aber soll man zu solchen Biestern anständig sein? Nee!, sagt er fast laut zu sich. Nee, Quangel, der alte wirst du nie wieder. Ich bin doch mal neugierig, was Anna zu dem allen sagt. Ob der Dollfuß gar nicht wieder auf seinen Arbeitsplatz kommt? Dann muss ich heute noch einen anderen anfordern. Wir sind im Rückstand …
Aber keine Bange, der Dollfuß kommt. Er kommt sogar in der Begleitung eines Abteilungsleiters, und dem Werkmeister Otto Quangel wird eröffnet, dass er zwar die technische Leitung dieser Werkstatt behalte, dass er aber sein Amt in der DAF hier an den Herrn Dollfuß abzugeben und sich um Politik überhaupt nicht mehr zu kümmern habe. »Verstanden?«
»Und ob ich das verstanden habe! Ich bin froh, dass du mir den Posten abnimmst, Dollfuß! Mein Gehör wird immer schlechter, und hinhorchen, wie der Herr sich das vorhin vorgestellt hat, das kann ich hier in dem Lärm überhaupt nicht.«
Dollfuß nickt kurz mit dem Kopf, er sagt rasch: »Und was Sie da vorhin gesehen und gehört haben, darüber zu keinem Menschen ein Wort, sonst …«
Fast gekränkt antwortet Quangel: »Zu wem soll ich denn reden, Dollfuß? Hast du mich schon mal mit einem Menschen reden hören? Das interessiert mich nicht, mich interessiert bloß meine Arbeit, und da weiß ich, dass wir heute feste im Rückstand sind. Es wird Zeit, dass du wieder an deiner Maschine stehst!« Und mit einem Blick auf die Uhr: »Eine Stunde und siebenunddreißig Minuten hast du jetzt versäumt!«
Einen Augenblick später steht der Tischler Dollfuß wirklich an seiner Säge, und mit Windeseile, keiner weiß, woher, verbreitet sich in der Werkstatt das Gerücht, der Dollfuß habe wegen seiner ewigen Raucherei und Schwätzerei einen reingewürgt gekriegt.
Der Werkmeister Otto Quangel geht aber aufmerksam von Maschine zu Maschine, greift zu, starrt mal einen Schwätzer an und denkt dabei: Die bin ich los – für immer und ewig! Und sie haben keinen Verdacht, ich bin bloß ein alter Trottel für die! Dass ich den Braunen mit »lieber Mann« angeredet habe, das hat denen den Rest gegeben! Nun bin ich bloß neugierig, was ich jetzt anfange. Denn irgendwas fange ich an, das weiß ich. Ich weiß bloß noch nicht, was …
7. Nächtlicher Einbruch
Am späten Abend, eigentlich ist es schon Nacht, eigentlich ist es schon viel zu spät für das Verabredete, hat der Herr Emil Barkhausen seinen Enno doch noch getroffen, im Restaurant »Ferner liefen«. Das hat die Briefträgerin Eva Kluge mit ihrem heiligen Zorn doch noch zuwege gebracht. Die Herren haben sich bei einem Glase Bier an einem Ecktisch zusammengesetzt, und dort haben sie geflüstert, sie haben so lange geflüstert – bei einem Glase Bier –, bis der Wirt sie darauf aufmerksam gemacht hat, dass er schon dreimal Polizeistunde geboten hat, und sie möchten doch sehen, dass sie endlich bei ihre Weiber kämen.
Auf der Straße haben die beiden ihre Unterhaltung fortgesetzt; sie sind erst ein Stück nach der Prenzlauer Allee zu gegangen, und dann hat der Enno wieder zurückverlangt, weil es ihm eingefallen ist, es wäre vielleicht doch besser, es bei einer zu versuchen, die er einmal gehabt hat und die Tutti genannt wird. Tutti, der Pavian. Besser als solche faulen Geschichten …
Der Emil Barkhausen ist fast aus der Haut geplatzt vor so viel Unverstand. Er hat dem Enno zum zehnten, er hat ihm zum hundertsten Male versichert, dass hier von faulen Geschichten nicht die Rede sein könne. Es handele sich vielmehr um eine – beinahe gesetzmäßige – Beschlagnahme, die unter dem Schutze der SS erfolge, und außerdem sei’s doch bloß eine olle Jüdsche, nach der kein Hahn krähe. Sie würden sich beide für eine Zeit lang gesundmachen, und die Polizei und das Gericht hätten damit gar nichts zu tun.
Worauf der Enno wieder gesagt hat: Nein, nein, in solchen Sachen habe er noch nie seine Finger gehabt, er verstünde gar nichts davon. Weiber ja und Rennwetten dreimal ja, aber mit faulen Fischen habe er noch nicht gehandelt. Die Tutti sei immer ganz gutmütig gewesen, obwohl sie »der Pavian« genannt werde, die denke sicher nicht mehr daran, dass sie ihm damals mit ein bisschen Geld und Lebensmittelkarten ausgeholfen habe, ohne es zu wissen.
Dabei sind sie schon in der Prenzlauer Allee gewesen.
Der Barkhausen, dieser eigentlich immer zwischen Kriecherei und Drohen hin und her pendelnde Mann, hat ärgerlich gesagt, wobei er an seinem lockeren, fliegenden Schnurrbart riss: »Wer zum Kuckuck hat denn von dir verlangt, dass du was von der Sache verstehst? Ich werde das Kind schon alleine schaukeln, von meinswegen kannste mit den Händen in der Tasche dabeistehen. Ich pack dir sogar noch deine Koffer, wenn du das auch noch verlangst! Versteh doch endlich, dass ich dich nur darum mitnehme, Enno, um mich vor einem Streich von der SS zu schützen, als Zeuge gewissermaßen, dass es bei der Teilung auch richtig zugeht. Denk doch bloß mal dran, was alles bei einer so reichen jüdischen Geschäftsfrau zu holen ist, selbst wenn die Gestapo damals, als sie den Mann holte, schon einiges hat mitgehen lassen!«
Plötzlich hat der Enno Kluge Ja gesagt, ohne weiteres Wehren und Bedenklichkeit, ohne Übergang. Nun hat er gar nicht schnell genug in die Jablonskistraße kommen können. Was ihn aber zu der Überwindung seiner Angst und zu einem so rückhaltlosen Ja bestimmt hat, das ist weder das Gerede von dem Barkhausen gewesen noch die Aussicht auf eine reiche Beute, sondern schlichtweg sein Hunger. Plötzlich hat er an die Speisekammer der Rosenthal denken müssen, und dass die Juden immer gerne gut gegessen haben, und dass ihm eigentlich nichts im Leben so schön geschmeckt hat wie gefüllter Gänsehals, zu dem er ein einziges Mal von einem reichen Kleiderjuden eingeladen worden ist.
Plötzlich hat er sich in seinen Hungerfantasien fest eingebildet, er finde solchen gefüllten Gänsehals in der Rosenthal’schen Speisekammer. Er hat die Porzellanschüssel, in der er liegt, ganz deutlich vor sich gesehen, und den Hals, wie er in der zu Fett erstarrten Soße liegt, ganz dick gestopft und an beiden Enden mit einem Faden zugebunden. Er wird die Schüssel nehmen und sich das Ganze auf der Gasflamme warm machen, und alles andere ist ihm ganz egal. Der Barkhausen kann tun, was er will, das ist ohne Interesse für ihn. Er wird Brot in die warme, fettige, stark gewürzte Soße tunken, und den Gänsehals wird er aus der Hand essen, dass die Fettigkeit nach allen Seiten rausquatscht.
»Leg noch ’nen Zahn zu, Emil, ich hab das eilig!«
»Warum so plötzlich?«, hat Barkhausen gefragt, aber eigentlich ist es ihm recht gewesen, und er hat willig noch einen Zahn zugelegt. Auch er würde froh sein, wenn die Sache erst abgemacht war, auch in seine Branche schlug sie eigentlich nicht. Er hat nicht etwa wegen der Polizei oder wegen der ollen Jüdin Angst – was könnte ihm groß passieren, wenn er deren Besitz arisierte? –, sondern wegen der Persickes. Das ist so eine verfluchte, verräterische Aasbande, denen ist sogar die Gemeinheit zuzutrauen, dass sie auch einem Kumpel einen Streich spielen. Nur wegen der Persickes hat er diesen blöden Hannes, den Enno, mitgenommen, das ist ein Zeuge, den sie nicht kennen, der wird sie schon bremsen.
In der Jablonskistraße ist dann alles schön glattgegangen. Es wird ungefähr halb elf gewesen sein, als sie die Haustür aufgeschlossen haben mit einem richtigen, legalen Hausschlüssel. Dann haben sie ins Treppenhaus gelauscht, und als sich dort nichts rührte, das Treppenlicht angeknipst und sich bei seinem Schein die Schuhe ausgezogen, denn: »Wir müssen doch auf die Nachtruhe der anderen Mieter Rücksicht nehmen«, hat Barkhausen gegrinst.
Als das Licht wieder aus war, sind sie leise und rasch die Treppe hochgepinschert, und es ist alles glatt und ruhig gegangen. Sie haben keinen von den Anfängerfehlern gemacht, dass sie mit Krach gegen was angerannt sind oder dass ihnen ein Schuh hingepoltert ist, nein, in aller Stille sind sie die vier Stockwerke hochgepinschert. Also, sie haben ein feines Stück Treppenarbeit geleistet, obwohl sie doch beide keine richtigen Ganoven sind und obwohl sie sich beide in ziemlicher Aufregung befinden, der eine besonders wegen des gefüllten Gänsehalses, der andere wegen der Beute und der Persickes.
Das mit der Tür von der Rosenthal hat sich der Barkhausen hundertmal schwieriger vorgestellt, nur ins Schloss gezogen ist sie, ganz einfach aufzumachen, nicht mal abgeschlossen. Was das für ’ne leichtsinnige Frau ist, wo sie doch als Jüdin besonders vorsichtig sein müsste! So sind die beiden in die Wohnung gekommen, sie wissen eigentlich nicht mal, wie, so schnell ging das.
Dann hat der Barkhausen ganz ungeniert auf dem Flur Licht gemacht; er ist jetzt ganz ungeniert gewesen, und: »Wenn die olle Judensau quiekt, hau ich ihr einfach eines vor den Deez!«, hat er verkündet, genau wie er’s am Vormittag dem Baldur Persicke angekündigt hat. Sie hat aber nicht gequiekt. So haben sie sich zuerst mal in aller Ruhe auf dem kleinen Flur umgesehen, der ziemlich vollgestanden hat mit Möbeln und Koffern und Kisten. Nun ja, die Rosenthals haben ja eine große Wohnung bei ihrem Laden gehabt, und wenn man da so plötzlich raus muss und kriegt nur zwei Stuben mit Kammer und Küche, so quillt das ziemlich über, nicht wahr? Das muss man verstehen.
Es hat ihnen in den Fingern gezuckt, schon jetzt mit Stöbern und Nachsuchen und Packen anzufangen, aber der Barkhausen fand es dann doch richtiger, sich erst einmal nach der Rosenthal umzusehen und der ein Tuch vor den Mund zu binden, damit es keine Schwierigkeiten gibt. In der Stube hat’s so vollgestanden, dass man sich kaum hat rühren können, und sie haben schon begriffen, was hier steht, schaffen sie beide auch in zehn Nächten nicht weg, sie können sich nur das Beste aussuchen. In der anderen Stube hat’s nicht anders ausgesehen und in der Kammer auch so. Nur keine Rosenthal haben sie gefunden, das Bett ist unberührt gewesen. Der Ordnung halber hat der Barkhausen noch in der Küche und auf der Toilette nachgesehen, aber die Frau ist nicht da gewesen, und das ist das, was man Massel nennt, denn es spart Scherereien und erleichtert die Arbeit gewaltig.
Der Barkhausen ist in die erste Stube zurückgegangen und hat mit Kramen angefangen. Er hat gar nicht gemerkt, dass ihm sein Kumpel, der Enno, verlorengegangen ist. Der hat in der Speisekammer gestanden und ist bitterlich enttäuscht gewesen, dass es da keinen gefüllten Gänsehals gegeben hat, sondern nur ein paar Bollen und ein halbes Brot. Aber er hat doch mit Essen angefangen, hat sich die Bollen in Scheiben geschnitten und hat sie aufs Brot gepackt, und auch das hat ihm nach seiner Hungerei gut geschmeckt.
Wie Enno Kluge da aber so rumgekaut hat, ist sein Blick aufs untere Abteil des Regals gefallen, und er hat plötzlich gesehen, die Rosenthals, wenn sie auch nichts mehr zu beißen haben, zu trinken haben sie doch noch. Denn da unten im Regal haben Flaschen über Flaschen gestanden, Wein und auch Schnaps. Der Enno, der in allem immer ein mäßiger Mensch war, wenn’s nicht grade um Pferdewetten ging, hat sich eine Flasche Süßwein geschnappt und zuerst dann und wann seine Zwiebelstullen mit Süßwein angefeuchtet. Aber weiß der Himmel, wie das gekommen ist, plötzlich ist ihm das labbrige Gesöff zuwider gewesen, ihm, dem Enno, der sonst drei Stunden hinter demselben Glas Bier hocken konnte. Jetzt hat er sich eine Flasche Kognak aufgemacht und rasch hintereinander ein paar Schlucke genommen, die halbe Flasche hat er in fünf Minuten leer gemacht. Vielleicht ist’s der Hunger gewesen oder die Aufregung, was ihn so verändert hat. Das Essen hat er ganz aufgegeben.
Dann hat ihn auch der Schnaps nicht mehr interessiert, und er ist den Barkhausen suchen gegangen. Der hat noch immer in der großen Stube gestöbert, hat die Schränke und die Koffer aufgemacht, und was drin verpackt war, auf die Erde geschmissen, immer auf der Suche nach etwas noch Besserem.










