Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Sie sagte nichts. Sie sah stumm auf mich, dann auf meine blutigen Füße. Sie war sehr bleich. Aus ihren Augen lösten sich zwei Tränen, sie rannen langsam über ihre blassen Wangen, sie wischte sie nicht fort, ich verfolgte gespannt ihren Weg mit den Augen, bis sie auf das Kleid tropften. Diese Tränen rührten mich nicht, im Gegenteil, es tat mir nur gut, dass sie weinte, es war ein süßes Gefühl in mir, dass sie noch Schmerz empfinden konnte meinetwegen. Ich trank wieder.
»Du bist so mitleidslos tüchtig, ja, ich habe die Lieferung für das Gefängnis nicht bekommen, aber du wirst das schon wieder ausgleichen. Ich habe immer in deinem Schatten gelebt, du hast mich deine Überlegenheit nie fühlen lassen, aber ich kam nie hoch, und nun bin ich unten angelangt. Auch unten lässt es sich leben, ich habe ein seltsames Mädchen kennengelernt, auch sie ist ganz unten, aber auch sie empfindet Schmerz und Freude. Auch unten empfindet man Lust und Leid, Magda, es ist genau wie oben, es ist gleich, ob man oben oder unten lebt. Es ist vielleicht das Schönste, sich fallen zu lassen, mit geschlossenen Augen ins Nichts zu stürzen, immer tiefer in das Nichts. Man kann unendlich fallen, Magda, ich bin noch nicht unten angelangt, ich bin noch nicht aufgeprallt, alle meine Glieder sind noch heil …«
»Erwin«, sagte sie bittend, »Erwin, rede nicht mehr. Höre auf zu trinken. Du bist krank, Erwin. Komm, lege dich ins Bett, ich will deine Füße verbinden. Deine Füße sehen schrecklich aus, ich will deine Füße verbinden …«
»Siehst du«, rief ich und trank noch einmal, »du gönnst mir nicht einmal die paar Schlucke. Gewiss, es sind deine Flaschen, aber ich bezahle sie dir. Ich bezahle sie dir bar oder gebe sie dir in natura wieder, das ist ein glattes Geschäft, dagegen kannst du nichts sagen. Du fragst mich nach meinen Füßen? Ich habe eine Landpartie gemacht, wenn die tüchtige Chefin arbeitet, kann der Chef sich wohl einmal eine Ausspannung gönnen! Ich bin barfuß gegangen, Barfußgehen soll gesund sein …«
Sie ließ mich weiterreden. Sie hatte schnell die Küche verlassen und kam mit dem großen Badeschwamm, einer Salbendose und Binden wieder. Sie kniete neben mir, und während ich immer abgerissener und lallender über ihr fortredete, wusch sie meine Füße, wusch den Straßenschmutz aus den Wunden, trocknete sie gelinde ab, salbte sie und wickelte sie ein.
»Gut, gut«, sagte ich und trank, »du bist wirklich gut, Magda; wenn du nur nicht so verdammt tüchtig wärst!«
8
Ich erwache. Ich liege in meinem Bett, die Fenster stehen offen, die Vorhänge bewegen sich leise im Wind, draußen scheint die Sonne. Es muss schon spät sein, das Bett neben mir ist bereits gemacht, das Schlafzimmer ist leer, ich bin allein darin. Mir ist sehr schlecht, mein Magen hat ein trockenes Brennen, nur langsam entschließt sich mein Kopf, zu denken. Nur langsam kommen mir die Erinnerungen an die vergangene Nacht zurück, dann fühle ich die Schmerzen in den Füßen.
Ich streife die Decke zurück und sehe die Verbände. Und mit einem Schlage steht alles wieder vor mir: das Lauern vor meinem eigenen Geschäft nach den Schatten auf der Glasscheibe, die gemeine Trinkerei in der Schankstube, die schamlose Szene in der Kammer des gemeinen Mädchens, mein schuhloser betrunkener Heimweg und, als Schlimmstes von allem, die Szene in der Küche mit Magda! Wie ich mich beschmutzt habe, ach, wie ich mich beschmutzt habe.
Eine brennende Reue überfällt mich. Scham, peinigende, schmerzende Scham, ich verberge mein Gesicht mit den Händen, ich presse die Augen fest zu … Ich will nichts mehr sehen, ich will nichts mehr hören, nichts mehr denken! Ich stöhne, ich beiße die Kiefer zusammen, ich knirsche mit den Zähnen. Ich stöhne: »Es kann nicht wahr sein! Es ist nicht wahr! Das bin ich nicht gewesen! Ich habe alles nur geträumt! Ich muss alles vergessen, auf der Stelle muss ich alles vergessen! Es darf nichts wahr sein!«
Das schüttelt mich wie ein Krampf, und dann kommen die Tränen, Tränen über all das, was ich so mutwillig verlor. Endlose, bittere, bange, schließlich doch lösende Tränen.
Und als ich mich ausgeweint habe, ist immer noch die Sonne vor meinen Fenstern, wehen die frischen duftigen Vorhänge im leichten Winde. Immer noch ist das Leben da, jung und lächelnd, du kannst es in jeder Stunde noch einmal beginnen, es kommt nur auf dich an.
Neben meinem Bett steht ein Tischchen mit einem Frühstückstablett, der Kaffee ist sorgsam mit einer Haube verdeckt, und nun beginne ich, zu frühstücken. Die ersten Bissen der Semmel kaue ich noch zäh und träge im Munde, aber der Kaffee ist extra stark zubereitet; allmählich kommt der Appetit wieder, und ich genieße mit dankbarer Freude all das, was mir Magdas Sorgsamkeit an Extrabissen auf das Tablett gestellt hat: scharfe Anchovis, eine schöne fette Leberwurst und wunderbaren Chesterkäse.
Selten habe ich mit solchem Genuss gegessen, ich fühle mich wie ein Genesender. Dankbar begrüße ich die säuberlichen Dinge der bekannten Umwelt, grüße sie wie alte vertraute Freunde, die man lange entbehrt hatte.
Nun finde ich auch auf dem Nachttisch einen Zettel von Magda. Sie teilt mir mit, dass sie nur auf wenige Stunden ins Geschäft gegangen sei, sie bittet mich, bis zu ihrer Rückkunft im Bett oder doch im Hause zu bleiben; das Bad sei für mich geheizt.
Eine halbe Stunde später verlasse ich das Haus. Zwar macht mir das Gehen mit meinen wunden Füßen arge Schmerzen, aber ich bin nicht gesonnen, weiter tatenlos zu verharren. Ich habe mich gesäubert von oben bis unten, ich zog frische Wäsche an, meinen besten Anzug – und nun will ich meinen alten Platz in der Welt wieder einnehmen. Wenn ich auch nicht so tatkräftig wie Magda bin, möchte ich doch wieder die Bremse am eilig vorgetriebenen Wagen sein: die Fahrt regelnd und sichernd!
Ich zögere nicht, ich schiele nicht von Torwegen her nach Schatten; ich trete ohne Weiteres ein. Ich grüße die Angestellten in meinen beiden vorderen Büros freundlich und trete in mein Chefbüro ein. Magda springt von meinem Schreibtischsessel auf; früher hat sie dort nie gesessen, auch wenn ich nicht anwesend war; sie hatte einen Platz an einem Nebentisch. Ein wenig schmerzt es mich, dass sie mich so ganz schon von der Liste der Mittätigen ausgestrichen hat; sie wird auch sehr rot.
»Erwin, du?«, ruft sie. »Ich dachte …« Und sie schaut erst mich, dann Herrn Hinzpeter an.
»Guten Morgen, guten Morgen, Herr Hinzpeter«, sage ich freundlich und lasse mir nichts anmerken. »Ja, du dachtest … Aber ich fand, dass es mir heute früh doch schon recht erträglich ging, bis auf die Füße … die Füße natürlich … Aber lassen wir das. Nun erzähle mir, was ihr festgestellt und was ihr vielleicht sogar schon beschlossen habt. Werden wir den Verlust der Gefängnislieferungen verschmerzen können?«
Ich hatte mich in den Sessel an meinen Schreibtisch gesetzt. Ich sah sie freundlich an, ganz der Chef, der bereit war, die Vorschläge seiner Angestellten wohlwollend anzuhören, ehe er seine Entscheidung traf. Ich hatte – kaum eine Stunde war es her – in einem Krampf geschrien, dass ich vergessen wollte, dass ich vergessen musste … Und nun saß ich hier, ich, ich konnte nicht vergessen, schon Magdas Blässe, schon meine in den engen Schuhen schmerzenden Füße erinnerten mich stets, aber sie machte ich vergessen. Keine fünf Minuten, und es musste Magda wie ein böser Traum vorkommen, dass sie mich vor noch nicht zwölf Stunden am Küchentisch hatte sitzen sehen, drei Flaschen vor mir, die verschmutzten Füße in einer Schüssel, der Fliesenboden überschwemmt – nichts wie ein böser Traum! Vergessen! Vergessen!! (Auch dies, es war mir klar, war Schamlosigkeit; wortlos ging ich über das Geschehene fort, wischte es aus, duldete keine Anspielung, keinen nachdenklich forschenden Blick … Schamlos auch das!)
Im Übrigen zeigte es sich, dass ich nicht umsonst auf Magdas Tatkraft gerechnet hatte. Schon am frühen Morgen hatte sie bereits einen Besuch bei ihrem Freund, dem Oberinspektor, gemacht, um festzustellen, ob nicht vielleicht doch noch etwas zu retten war. Und siehe, dieser brave Mann hatte ihr wirklich einen Tipp gegeben, einen sehr wertvollen Tipp.
Ein Teil der Gefangenen wurde im Anfang der Strafzeit in Einzelzellen mit Wergzupfen beschäftigt. Altes, verbrauchtes oder zerrissenes Tauwerk wurde wieder in seine Grundbestandteile zerlegt, zerrupft. Aus dem gewonnenen Werg konnten wieder neue Seile gemacht werden. Der Bedarf an solchem Tauwerk war immer recht groß, und gerade im Augenblick waren die Vorräte der Gefängnisverwaltung darin ziemlich am Ende. Der Oberinspektor hatte Magda vorgeschlagen, nach Hamburg zu fahren und dort altes Seilwerk aufzukaufen, zwei oder auch drei Waggons. Seinen Angaben nach war dabei ein recht gutes Geschäft zu machen, wenn man nur die rechten Quellen kannte, und er hatte es sogar nicht an Hinweisen auf diese guten Quellen fehlen lassen.
Wie gesagt, ich hörte mir das alles wohlwollend an. Es war natürlich nur ein kleines Gelegenheitsgeschäft, das auch bei günstigstem Einkauf nicht annähernd eine dreijährige Lebensmittellieferung für annähernd fünfzehnhundert Menschen ersetzen konnte, aber es war mitzunehmen, wenn es eigentlich auch nicht in den Rahmen meines Geschäftes passte.
»Und wer, dachtest du, soll fahren, Magda?«, fragte ich. »Du selbst etwa …?«
»Nein, so gern ich möchte«, antwortete sie zögernd. »Ich glaube, ich kann im Augenblick schlecht fort. Gerade jetzt …« Sie brach ab und sah mich etwas hilflos und doch mit Bedeutung an.
Dies war einer jener Blicke, die ich unter keinen Umständen dulden wollte.
»Du hast ganz recht, Magda«, antwortete ich darum, »du bist hier im Augenblick wirklich schlecht abkömmlich. Und dann ist da dein Haushalt. Else ist doch noch sehr jung …« (Gute, tröstende Else …!) »Es ist schon das Beste, ich fahre selbst. Ich fühle mich wieder ganz frisch, und mit meinen Füßen, das werde ich mir schon so einrichten … Ich kann ja Taxen nehmen …«
Hastig unterbrach mich Magda: »Du kannst keinesfalls fahren, Erwin. Du weißt, du bist noch nicht ganz in Ordnung.« Sie sah mich fest an, nicht böse, sondern eher traurig-liebevoll, aber unausweichlich und fest. Diesmal senkte ich den Blick. »Nein«, fuhr sie fort, »das Beste ist, wir schicken Herrn Hinzpeter. Er könnte heute Abend noch fahren und wäre dann vielleicht schon übermorgen früh …«
»Einen Augenblick bitte, Magda«, unterbrach ich sie. »Besten Dank, Herr Hinzpeter, ich rufe Sie dann gleich wieder …« Ich wartete, bis sich die Tür hinter dem Buchhalter geschlossen hatte. Dann sah ich Magda fest an. »Magda«, sagte ich, »wir wollen das Vergangene ruhen lassen, wir wollen nie mehr davon sprechen. Es soll für immer vergessen sein.«
Sie machte eine Bewegung, als wollte sie reden, dieser vielleicht etwas zu einfachen Lösung widersprechen.
»Nein, nein, Magda«, sagte ich darum eilig, »lass mich erst ausreden. – Ich bitte dich herzlich, lass du mich nach Hamburg fahren, es liegt mir sehr viel daran, und mit den Füßen, das richte ich schon …«
Wieder machte sie eine heftige Bewegung, als seien meine Füße im Moment ganz belanglos.
Diese Interesselosigkeit an meinem Wohlergehen kränkte mich sehr, aber ohne mir etwas anmerken zu lassen, fuhr ich fort: »Es wird für meine Stimmung sehr gut sein, wenn ich für ein oder zwei Tage hier herauskomme.« Leiser setzte ich hinzu: »Dieser Misserfolg mit den Lebensmittellieferungen hat mich doch recht mitgenommen, ich komme mir doch sehr blamiert vor.«
Sie sah mich sehr fest an. »Erwin«, sagte sie, »du hast selbst gesagt, wir wollen das Vergangene ruhen lassen, und ich will damit einverstanden sein, obwohl …« Sie brach ab. »Aber nun fange nicht du selbst wieder davon an. – Was aber deine Reise nach Hamburg angeht, so bin ich fest davon überzeugt, dass sie dir jetzt nicht gut ist. Nicht Ablenkung brauchst du, sondern Ruhe und Konzentration. Ich habe uns übrigens beide für heute Nachmittag bei Dr. Mansfeld angemeldet …«
»Das ist wieder so eine von deinen Eigenmächtigkeiten, Magda!«, rief ich ärgerlich. »Was soll ich bei Dr. Mansfeld? Ich bin völlig gesund. Das bisschen Füße …«
»Ach, deine Füße!«, rief sie, nun auch ärgerlich. »Das bisschen zerschundene Haut wird schon heilen. Nein, du bist wirklich krank, Erwin; ich habe es schon seit Monaten gemerkt, wie du dich veränderst, der Doktor muss dich einmal ganz gründlich untersuchen.«
»Und unter deiner Aufsicht!«, sagte ich spöttisch. »Nein, dafür muss ich wirklich danken …«
»Erwin«, sagte sie wieder bittend, »lass uns dies eine Mal nicht streiten. Tu mir den Gefallen, geh mit mir zum Arzt. Er kann ja dann entscheiden, ob diese Hamburger Reise für dich gut ist.«
»Oh«, sagte ich bitter, »wenn er unter deiner Beratung entscheiden soll, dann brauchen wir erst gar nicht hinzugehen, dann kannst du Hinzpeter gleich sagen, dass er nach Hamburg zu fahren hat.«
Wir standen jetzt jeder an einem Fenster des Kontors und starrten auf die Straße, was mich anging, so starrte ich nicht nur, sondern trommelte auch mit den Fingern gegen die Scheiben. Draußen schien noch immer die Frühlingssonne, und was an Weiblichem vorüberging, war frühlingsmäßig gekleidet … Noch immer war es nicht lange her, dass ich mich wie ein Genesender gefühlt hatte und alte Dinge um mich mit frischem Interesse begrüßt hatte, überzeugt davon, heute ein neues Leben zu beginnen … Und nun drehte sich wieder die alte knarrende Mühle der Streitereien und zermahlte meine besten Vorsätze. Und warum? Weil Magda rechthaberisch war und über alles allein bestimmen wollte. Nein, diesmal war ich nicht gesonnen, nachzugeben. Wir hatten ausgemacht, dass das Vergangene vergangen sein sollte, wegen der Vorgänge in der letzten Nacht brauchte ich nicht nachgiebig zu sein.
Magda drehte sich mit einem Ruck vom Fenster fort und mir zu. »Erwin …«, sagte sie leise.
»Ja?«, fragte ich mürrisch und trommelte weiter, ohne sie anzusehen.
»Erwin«, wiederholte sie. »Ich möchte mich heute nicht mit dir streiten. Ich habe das Gefühl, als schwebten wir in einer schrecklichen Gefahr und müssten um jeden Preis zusammenhalten. Also, ich will dir den Willen tun, fahre nach Hamburg, aber, wenn du zurückkommst, tu auch du mir den Gefallen und geh mit mir zu Dr. Mansfeld.«
Ich wandte mich ihr zu, ich lachte vergnügt. »Wenn ich wiederkomme, wirst du selber sehen, wie gesund ich bin, und von allein auf den Arztbesuch verzichten. Aber immerhin, ich verspreche es dir. Im Übrigen danke ich dir schön, Magda, ich werde dir auch etwas Schönes mitbringen …« Und wieder lachte ich. Ich war ganz glücklich über diese Reiseaussicht.
»Ich habe es nicht um Dank getan«, sagte Magda ziemlich steif. »Ich habe es sogar ganz und gar gegen meine Überzeugung getan. Ich bin überzeugt, diese Reise wird dir nicht guttun …«
»Aber ich werde sie mit deinem Einverständnis machen«, unterbrach ich sie wieder. »Und hinterher wollen wir darüber sprechen, wer von uns beiden recht hat. Jetzt aber sage mir, welche Firmen für diese Lieferung etwa infrage kommen. Natürlich werde ich mich auch auf eigene Faust umtun …«
9
Meine Reise nach Hamburg wurde geschäftlich zu einem großen Erfolg. Ich konnte drei Waggons altes Reepwerk zu einem unglaublich niedrigen Preis ankaufen; wir verdienten sehr hübsch an diesem Gelegenheitsgeschäft. Ich erzählte Magda hinterher mancherlei von meiner Jagd nach diesen Tauen, in Wahrheit aber war mir das Geschäft ganz durch Zufall, wie es eben manchmal geht, in den Schoß gefallen; ich hatte nichts dazu tun müssen. Aber ich musste doch etwas erzählen, um meine fast fünftägige Abwesenheit zu begründen.
Ich hatte mich aber in Hamburg nicht einmal betrunken, das muss ich hier ausdrücklich feststellen. Doch hatte ich dort die Gewohnheit der kleinen Gläschen zu jeder Tagesstunde, auch schon am frühen Vormittag, angenommen, eine Angewohnheit, die vielleicht noch verhängnisvoller ist als ein gelegentlicher schwerer Rausch.
Ich hatte mich – das ganze Geschäft war schon am zweiten Tag in einer halben Stunde erledigt – viel in der schönen Stadt, an der Alster und am Hafen herumgetrieben, war zu den Werften hinübergefahren, war durch die endlosen Hallen des Altonaer Fischmarktes gewandert und hatte eine Auktion dort mitgemacht, war nach Ohlsdorf hinausgefahren und hatte den weltberühmten Friedhof stundenlang durchwandert – und zwischen alledem war ich alle naselang in eine Kneipe gehuscht und hatte ein oder zwei Gläschen irgendeiner klaren oder braunen brennenden Flüssigkeit getrunken. Das machte mir Laune, das tat meinem Magen gut, erfreute mein Herz, ließ mich die bunt dahinstürmende Stadt mit fröhlichen Augen ansehen, kurz: Hob mich über mich hinaus.
Nie ganz trunken, ja, eigentlich sehr weitab von jeder Trunkenheit, und doch nie ganz nüchtern, verlebte ich dort meine Tage, und wenn ich zu Anfang noch bis zehn oder gar bis elf mit meinen ersten Schnäpschen gewartet hatte, so klingelte ich an den beiden letzten Tagen schon gegen acht Uhr dem Zimmermädchen und ließ mir meinen ersten doppelstöckigen Kognak ganz fromm und frei ans Bett bringen. Das Frühstück schmeckte mir dann um so besser.
Die Rückreise, die ich mit einer guten Taschenflasche ausgerüstet antrat, ließ in mir die besten Vorsätze reifen. Es war klar, dass ich diese Gewohnheit daheim unter Magdas scharfen Augen nicht fortsetzen konnte, und nachdem ich eben einen kräftigen Schluck auf der Toilette des Zuges genommen hatte, schien es mir auch ganz leicht, darauf zu verzichten. Es waren doch immer nur ein, zwei Gläschen gewesen, alle ein, zwei Stunden nur, auf so etwas musste doch leicht zu verzichten sein!
Die Rückreise erwies sich wider Erwarten länger als der Inhalt meiner als so ausgiebig eingeschätzten Taschenflasche; in dem Wartesaal unseres Bahnhofs (wo ich nicht bekannt bin) nahm ich noch ein paar Gläschen und machte mich dann auf den Heimweg. Dabei vergaß ich nicht, in einer Drogerie eine Schachtel mit wohlriechenden Mundpillen zu kaufen, die den Alkoholgeruch verdecken sollten. Denn dass nach so langer Abwesenheit ein Begrüßungskuss mit Magda nicht zu umgehen war, ahnte ich.
Sie empfing mich freundlich, aber kühl, sah mich mehrmals prüfend an und fand mich stärker geworden, aber so ein wenig gedunsen im Gesicht, wie sie sich ausdrückte. Das ärgerte mich, aber ich ließ mir nichts davon merken, sondern erzählte mit Eifer zuerst von meinem Seilkauf, dann von der schönen Stadt Hamburg, dem Friedhof in Ohlsdorf und der Reiherstiegwerft, auch von einem Orgelkonzert, das ich (ganz zufällig) in der Nicolaikirche mit angehört hatte. Dadurch bewies ich, dass ich nicht etwa nur in Schenken herumgesessen, sondern ein interessantes, lebendiges Dasein geführt hatte, und ich munterte die viel zu ernste Magda damit auch wirklich ein wenig auf.
Sie hingegen berichtete mir viel von dem Gang der Geschäfte; sie hatte wieder etwas Neues angefangen. Sie war mit unserem kleinen Wagen fast alle Tage über Land gefahren und hatte bei allen Imkern Honig aufgekauft, noch vorhandenen, aber auch schon im Voraus den der künftigen Raps- und Lindenblüte; sie hatte Gläser gekauft und wollte unserer Firma ein großes Honigversandgeschäft direkt an die Kundschaft angliedern. Sie fing an, mit mir von den Inseratentexten zu sprechen und von den Zeitungen, in denen unser Honigversand angezeigt werden sollte.
Ich aber konnte kaum noch zuhören. Ich war nicht eigentlich müde, aber ich war all dieser Dinge so müde, dieser unermüdlichen Geschäftigkeit – um gar nichts. Denn was war das, Honig versenden? Es war nichts, die Leute aßen ihn, und dann war es wieder vorbei, es war wie Seifenblasen, ein schillerndes Nichts mit wenig Luft gefüllt in sehr viel Licht. Es zerplatzte, nichts blieb, alles Täuschung und Schwarze Magie!
›Ach, geh doch weg, du! Rede nicht ewig, schwätze nicht so viel! Lass mich in Frieden! Was rennst du dich ab? Es gibt hunderttausend und Millionen Firmen auf der Welt; glaubst du, deine ist wichtig? Sie ist ganz schnurz, nicht einmal eine Fliege kümmert sich darum! Ja, wenn ich jetzt einen Schnaps hätte, dann könnte ich dir wieder mit Aufmerksamkeit zuhören. Ich könnte wohl einen haben, ich könnte mir eine ganze Buddel Schnaps durch Else aus der nächsten Kneipe holen lassen, aber ich kann’s nicht tun, weil du hier rumsitzt und ewig schwätzt. Weil du in meinem Leben rumsitzt, darum kann ich nicht tun, was meinem Leben gefällt. Nein, nein, es ist natürlich nicht so schlimm gemeint, ich habe sie schon ganz gerne, die Magda, aber es wäre furchtbar nett von ihr, wenn sie sich mal für eine Weile gänzlich aus meinem Leben verdünnte – Kuh, diese langweilige, ewig schwätzende!‹
Ich hatte mich während dieses Selbstgespräches immer mehr in einen heftigen Zorn hineingeredet; nun stand ich plötzlich auf und sagte brüsk zu der völlig überraschten Magda, dass ich wegen starker Kopfschmerzen noch eine Viertelstunde spazieren gehen wollte … »Nein, danke, keine Begleitung …« Und damit war ich schon draußen, und es war mir wirklich ganz egal, was sie von mir dachte oder ob ich schon wieder Gefühle bei ihr verletzt hatte.
Ich ging nur um sieben oder zehn Ecken, bis ich in eine Gegend kam, wo ich mich unbekannt glaubte, und trat dort in eine kleine Kneipe und bat den dicken bärtigen Wirt um einen doppelstöckigen Kognak … Als ich den dritten kippte, denn ich wollte mich für die Nacht ausgiebig verproviantieren, sagte der Wirt langsam: »Das kennt man ja gar nich bei Sie, Herr Sommer. Sie haben wohl eine kleine Erkältung …?«
Ärgerlich, ein so bekannter Mann zu sein, verzichtete ich auf den vierten und machte mich wieder auf den Heimweg. Ich lutschte meine süßen Atembonbons, und auch dabei ärgerte ich mich wieder über Magda, die mich zwang, den schönen Kognakgeschmack durch solch süßliche Mundparfüms zu vertreiben.
Sie erwartete mich noch, wahrscheinlich wollte sie mich wieder auf ihren langweiligen Honig locken, aber ich ging direkt ins Schlafzimmer und redete auch nur noch ein paar mürrische Worte, Fortbestand starker Kopfschmerzen vorgebend. Dann schlief ich rasch ein.
Aber mitten in der Nacht, kurz nach ein Uhr, stand ich schon wieder barfüßig im Pyjama in der Speisekammer und leerte rasch nacheinander, was noch in den drei Flaschen drin war. Und während ich noch die letzte Flasche am Munde hatte, wurde mir mit schrecklicher Gewissheit klar, dass ich verloren war, dass es keine Rettung mehr für mich gab, dass ich dem Alkohol gehörte mit Leib und Seele. Nun war es gleichgültig geworden, ob ich noch einige Tage oder Wochen irgendwelchen Schein von Anstand und Sitte aufrechterhielt – es war doch vorbei. Sie sollte nur kommen, die Magda, und mich hier trinken sehen. Ich würde es ihr ins Gesicht sagen, dass ich ein Trinker geworden war, und sie hatte mich dazu gemacht, sie mit ihrer infernalischen Tüchtigkeit!
Aber sie kam nicht. So ließ ich die drei leeren Flaschen offen dastehen und legte die Korken daneben; mochten sie wissen, alle wissen, Magda, Else, wer noch wollte – es war doch alles egal!
Dann aber, gegen Morgen, mein Herz ging so schwer, stand ich noch einmal auf, leckte gewissermaßen die allerletzten Tropfen aus den Flaschenhälsen, füllte Wasser ein, halb oder ein Drittel, je nachdem, verkorkte sie und stellte sie wieder an ihre alten Plätze. So gewann ich wieder eine Anstandsfrist von ein oder zwei Tagen …
10
In der nun folgenden Zeit besuchte ich mein Kontor ziemlich regelmäßig und leistete auch einige Arbeit, nicht aus Lust daran, sondern einer alten Gewohnheit folgend, mit der nicht sofort zu brechen war, und aus Scham vor Magda.
Magda war sehr still geworden, wir sprachen beide nur noch das Allernotwendigste miteinander. Am lebhaftesten ging es noch zwischen uns zu, wenn Dritte zugegen waren, Hinzpeter oder Else oder Kunden. Dann konnten wir sogar Späßchen miteinander machen, der vergnügte Ton früherer Ehejahre schien wiedergekommen, kaum aber hatte sich die Tür hinter jenen Dritten geschlossen, so verstummten wir auf einen Schlag, meine Miene wurde eisig, und Magda fing an, emsig mit Papier zu rascheln.
Sie hielt sich in dieser Zeit ständig in meiner Nähe. Nicht, dass sie mit mir zum oder vom Kontor gegangen wäre, aber drei oder zehn Minuten nach mir tauchte sie bestimmt auf, der Haushalt lag ganz in Elses Händen. Natürlich hatte solche Beaufsichtigung nicht den geringsten Einfluss auf mich, ich tat doch, was ich wollte, das heißt: Ich trank nach Bedürfnis.
Von der Gewohnheit der kleinen Gläschen war ich zu der der großen Schlucke aus der Flasche übergegangen. Ich hielt mir immer eine solche Flasche in meinem Schreibtisch auf dem Kontor und eine zweite in einer Ecke des Badezimmerschrankes daheim. Es machte mir Vergnügen, diese Flaschen gewissermaßen unter Magdas Augen einzuschmuggeln, in der Aktenmappe oder gar in der Hosentasche, vom Jackett verdeckt. Wenn ich meine Vorratsdepots frisch versorgt hatte, erfüllte mich ein wirkliches Glücksgefühl, als sei ich reicher geworden.










