Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Eine Weile saß ich grübelnd auf dem Sofa. Mit unerbittlicher Klarheit stand vor mir, dass ich nach dem Geschehenen nie wieder nach Hause kommen konnte. Mein alter Plan, mich selbst des Alkohols zu entwöhnen und als ein Gesunder vor Magda und die Ärzte zu treten, war endgültig zusammengebrochen – übrigens hatte ich in meinen nüchternen Stunden selbst nie recht an ihn geglaubt. Es war aber auch unmöglich, es widerstand mir bis zum Ekel, hier noch länger bei Polakowski zu hausen; das Ende konnte nur Irrsinn heißen. Ich musste einen anderen Weg finden, und ich glaubte, auch eine Ahnung von der Art dieses Weges zu haben. Vieles musste ich wagen in den nächsten vierundzwanzig Stunden, nicht als berauschter Mann durfte ich an mein Werk gehen.
Es mag morgens zwischen drei und vier Uhr gewesen sein, als ich von meinem Sofa aufstand und anfing, den Koffer auszupacken. Ich wusch mich dann von Kopf bis zu Füßen, zog mich halb an und rasierte mich mit größter Sorgfalt. Alles ging unendlich langsam. Das Zittern meiner Hände war so stark, dass ich ein paarmal daran verzweifelte, mich rasieren zu können, aber schließlich gelang es doch. Aus unbekannten Urgründen meines Seins war eine neue Energie in mir aufgestiegen, sie ließ mich aushalten, sie gab es nicht zu, dass ich mehr als ganz kleine Schlucke in langen Zeitabständen zu mir nahm.
Als ich schließlich völlig frisch angezogen und gewaschen mich im Spiegel musterte, war ich selbst erstaunt, wie gut ich noch aussah. Gewiss, meine Augen waren gerötet, mit stecknadelkleinen Pupillen, und die Backen hingen etwas, aber niemand konnte mir einen Trinker ansehen. Ich konnte es morgen früh wagen, und ich würde es wagen.
Ich ging nicht mehr ins Bett. Ich schlug die Decke um mich und setzte mich auf das Sofa, den Morgen zu erwarten. Dabei lauschte ich in das Haus. Es war ganz still, aber ich hatte die feste Überzeugung, dass Polakowski nicht schlief, sondern mich belauerte. Nun, ich würde warten, und ich traute mir auch zu, ihn zu überlisten.
Ich hatte ein Wasserglas mit Korn gefüllt, ehe ich mich auf das Sofa gesetzt hatte, und die Flasche mit dem ganzen Rest in die fernste Ecke meiner Stube gestellt: Mit diesem Wasserglas Korn musste ich bis zum Morgen auskommen, hatte ich bestimmt. Aber ich nippte nur daran; nach der ungewohnten Beschäftigung dieser Nacht war ich todmüde, ich lehnte mich zurück, und schon war ich eingeschlafen.
Ich erwachte von einem leise klirrenden Geräusch. Ich öffnete halb die Augen und blinzelte in die Stube, in der das Licht der Morgensonne bereits die Überhand über den Schein der Glühlampe gewonnen hatte. Über meinen Koffer gebeugt stand Polakowski, er hatte aus einem Futteral ein Tafelmesser gezogen, musterte es kritisch und wog es in der Hand. Eine ganze Weile sah ich zwischen zusammengekniffenen Lidern dem Schurken zu, wie er zwischen dem Silber herumwühlte, dann rekelte ich mich, gähnte laut, wie jemand, der eben erwacht, und sah in mein Zimmer: Es war leer. Eben sah ich noch, wie sich die Klinke der Tür in die Ruhestellung hob. Ein Blick in den Koffer überzeugte mich davon, dass Polakowski sich vorläufig noch mit einer Musterung des Silbers begnügt hatte, das eigentliche Klauen war wohl für betrunkenere Stunden von mir vorbehalten.
Ich öffnete das Fenster, sah über die Stadt und nach dem Stand der Sonne. Sie hatte sich noch nicht viel über den Horizont erhoben, es mochte zwischen sechs und sieben Uhr sein. Ich rief aus der Tür nach Polakowski; der gute Listenreiche ließ sich eine ganze Weile Zeit, bis er sich meldete. Ich rief ihm nur hinunter, dass ich mein Frühstück haben wollte. Er brachte es sehr rasch, seine zage, sonst fast schafsmäßig sanfte Miene konnte dieses Mal doch ein Gefühl lebhafter Beunruhigung über mein völliges Verändertsein nicht verbergen. Ich tat, als sähe ich nichts, und machte mich zum ersten Mal mit einigem Appetit ans Essen. Der Kaffee war überraschend gut, die Semmeln knusprig und die Butter frisch und kühl – dieser Schurke von Polakowski verstand es entschieden, zu leben.
Während ich aß, brachte Polakowski den Waschtisch und mein Bett in Ordnung, wobei er es nicht lassen konnte, immer wieder heimliche Seitenblicke auf mich abzuschießen. Dazu hüstelte er immer häufiger. Die Kornflasche, die er im Stubenwinkel stehen fand, gab ihm endlich den ersehnten Anlass, ein Gespräch anzuknüpfen. »Sie haben ja fast gar nichts getrunken, Herr!«, sagte er und hielt die Flasche beweisend gegen das Licht.
»Ja, mein lieber Herr Polakowski«, sagte ich spöttisch, aber in bester Laune und bestrich dabei eine Semmel dick mit Butter, »wenn du mir weiter solchen Fusel bringst, werde ich mir das Trinken noch ganz abgewöhnen.«
Er nahm mein »du« ohne zu zucken an. »Es war ein Irrtum, Herr«, knurrte er, »ein Irrtum vom Kaufmann. So wahr ich hier stehe, ich selbst habe vier Mark fünfzig für die Flasche bezahlt, der Kaufmann hat sich vergriffen. Aber ich habe Ihnen natürlich nur den wirklichen Preis berechnet, ich selbst legte die zwei Mark drauf, obgleich ich nur ein armer Mann bin. Ich bin ehrlich, Herr …«
»Rede keinen Blödsinn, Polakowski«, antwortete ich grob. »Du bist so wenig ehrlich, wie du arm bist. Ein alter Gauner bist du, oder vielmehr ein junger, aber gerissen genug für einen alten. Vielleicht mag ich dich darum gerade gerne. – Nimm die Flasche mit«, schrie ich in plötzlich gespieltem Zorn, »und sauf sie selber aus. Und sorge dafür, dass in fünf Minuten eine anständige Sorte hier ist. Da hast du Geld!« Und ich warf ihm einen Schein auf den Tisch.
Er griff eilig nach ihm. »Sofort, wenn die Läden offen sind«, versicherte er.
»Nein, nicht, wenn die Läden offen sind!«, schrie ich noch lauter, »sondern jetzt, jetzt auf der Stelle! Denkst du Idiot, ich will den ganzen Tag hier wach sitzen, nach dieser Nacht? Ich will endlich schlafen können.«
Ich war aufgesprungen in gespielter Erregung, hatte schon das Jackett ausgezogen und knöpfte an meiner Weste. Ich musste ihn jetzt überzeugen, sonst ging die Sache doch noch schief. So griff ich nach dem Wasserglas mit Korn, das noch immer fast voll auf dem Tisch stand, goss es hinunter und schrie: »Da, gieß noch einmal voll! Mit deinem verdammten Fusel! Und nun mach, dass in fünf Minuten ein anderes Getränk hier ist; der Kaufmann wird dich schon hintenherum reinlassen, einen so guten Kunden wie dich!« Ich hatte mir die Weste vom Leibe gerissen und knöpfte schon an den Hosenträgern.
»In fünf Minuten!«, beteuerte Polakowski und eilte aus der Stube. Unschwer waren aus seinen Worten Erleichterung und Befriedigung herauszuhören. Er hatte Angst um seine Melkkuh gehabt, aber jetzt soff ich wieder. Gott sei’s getrommelt und gepfiffen!
Kaum hatte ich die Haustür klappen hören, war ich schon wieder in meinen Kleidern, schloss den Koffer, nahm ihn und lief die Treppe hinab. Es mochte eine Frau Polakowski geben, auch Kinder Polakowski, von der gleichen sanften, einschmeichelnden, flüsternden, verflucht schurkischen Art, wie es ihr Vater war: Ich hatte sie nie zu Gesicht bekommen. Ich sah sie auch an diesem Morgen nicht. Unangefochten kam ich auf die Gasse. Hier, schon fast frei von meinem Peiniger, hätte mir der Alkohol fast noch einen Streich gespielt.
Plötzlich erinnerte ich mich daran, dass ich seit Wochen zum ersten Mal ohne »Proviant« unterwegs war, und noch dazu auf einer so gefahrvollen, alles entscheidenden Reise, und dass oben in meiner Stube noch ein soeben vollgeschenktes Glas mit Korn stand. Beinahe wäre ich umgekehrt und damit wohl ziemlich sicher in die langfingrigen Erpresserhände Polakowskis zurückgelaufen, dann aber siegte die in dieser Nacht neu erwachte Energie. Ich schüttelte den Kopf und machte mich auf meinen Weg.
19
Ich hatte natürlich keine Ahnung davon, in welche Richtung Polakowski gegangen war, und zu Anfang sah ich ziemlich besorgt um mich. Als ich aber erst, aus »Klein-Russland« heraus, durch die sauberen Straßen meiner Heimatstadt ging, fühlte ich mich sicherer. Ich ging, ohne zu zögern, direkt zum Bahnhof und setzte mich dort in den Wartesaal zweiter Klasse. Ich wusste, ich wagte viel; war schon etwas von meiner Geschichte durchgesickert, so war ich verloren. Aber ich musste an diesem Morgen noch viel mehr wagen, dieses Sitzen im Wartesaal war eine Vorprobe für kommende andere wichtige Unternehmungen.
Natürlich hätte ich mich auch mit weniger Risiko ein paar Stunden in den Anlagen der Stadt verbergen können, aber in meiner verwandelten Stimmung liebte ich es nun einmal, der Gefahr zu trotzen, muss aber auch gestehen, dass der Alkohol mich ein wenig dazu verführte. So ganz ohne ihn wollte ich nun doch nicht sein, und so bestellte ich beim Kellner außer einem ergiebigen Frühstück mit Setzeiern, Wurst und Käse auch eine Karaffe Kognak, den ich, zum zweiten Mal behaglich und nicht ohne Appetit frühstückend, meinem Kaffee zusetzte.
Ich vertiefte mich bei diesem lange dauernden Essen in die Zeitungen meiner Vaterstadt, die ich lange nicht studiert, las sämtliche Heimatnachrichten einschließlich der Familienanzeigen und hatte nun die Gewissheit, dass über mich auch noch nicht der geringste Hinweis ins Blättel gelangt war. Es wäre doch immerhin möglich gewesen, dass Magda in ihrer »Besorgnis um mein Wohlergehen« eine Notiz ins Blatt hätte setzen lassen, etwa des Inhalts: Der Geschäftsmann E. S. sei so und so lange nicht gesehen worden und irre vermutlich in einem Zustand geistiger Verwirrung in der Gegend umher. Wer Nachricht von ihm geben könne usw. usw. Aber nichts von alledem.
Bei meinem Frühstück wurde ich wirklich zehn Minuten lang von dem Bäckermeister Stretz gestört, von dem ich eben in der Zeitung gelesen, dass er sein fünfundzwanzigjähriges Geschäftsjubiläum begangen habe. Er ist unser Semmel-, ich bin dann und wann sein Weizenmehllieferant, wir kennen uns seit vielen Jahren. So setzte er sich zu mir an den Tisch, und er verwunderte sich darüber, dass wir uns so lange nicht gesehen, auch, dass ich hier auf dem Bahnhof die Semmeln der Konkurrenz und nicht friedlich daheim seine eigenen frühstückte. Es war das alles aber ganz arglos gesagt, wie ich sofort merkte. Mit dem Hinweis auf eine Reise erklärte ich alles und war nun sicher, dass über den engsten Kreis der Beteiligten noch kein Gerücht von meiner veränderten Lebensweise gedrungen war.
Später kamen noch entferntere Bekannte durch den Wartesaal, ich grüßte sie, sicher geworden, mit kurzem freundlichem Kopfnicken und einer Bewegung der Hand. Der Kellner aber musste mir, je näher der Uhrzeiger der Neun rückte, noch eine und schließlich eine dritte Karaffe Kognak bringen – mochte er von mir denken, was er wollte. So bald würde ich wohl kaum wieder sein Gast.
Fünf Minuten vor neun hatte ich bezahlt, stand auf, nahm meinen Koffer und ging in die Stadt. Ich ging die Bahnhofstraße entlang, dann ohne Scheu durch unsere Hauptpromenade, die Ulmenallee, bis zum Marktplatz, an dem die Bank liegt. Hier war ich mitten in Feindesgelände: Gerade gegenüber der Bank liegt das Rathaus, in dessen Erdgeschoss sich die Polizeiwache befindet, die heute Nacht meinetwegen wohl alarmiert wurde, und eine Minute vom Marktplatz entfernt mein eigenes Geschäft, dem vielleicht dieser mit Kornsäcken beladene Bauernwagen zurollte. Ich war doch recht aufgeregt und trocknete mir, ehe ich die Bank betrat, meine schweißnassen Hände mit dem Taschentuch ab. Dann trat ich ein.
Im Schalterraum waren, wie mich ein Blick belehrte, zu dieser Zeit direkt nach Öffnung erst ein paar belanglose Bürojünglinge und -mädchen, mit Papieren in den Händen. Ich setzte den Koffer ab, hängte meinen Hut an den Haken und ging zu dem noch freien Schalter, an dem der Buchhalter saß, der mein Konto führte. Ich sagte ihm lächelnd »Guten Morgen«, teilte mit, dass ich eben von einer längeren Reise zurückgekehrt sei (wobei ich auf meinen Koffer an der Tür deutete) und dass ich mich gerne über den Stand meines Kontokorrent-Guthabens unterrichtet hätte. Und während ich das alles leichthin, ohne jedes Stocken sagte, prüfte ich, innerlich zitternd, sein Gesicht, suchte nach irgendeinem Anzeichen von Misstrauen, Argwohn, Zweifel.
Aber nichts von alledem war dem jungen Menschen anzusehen, willig schlug er das Buch auf, rechnete einen Augenblick mit dem Bleistift einige Zahlen zusammen und sagte dann ganz gleichgültig, dass der Stand meines Guthabens sich augenblicklich auf Siebentausendachthundert und einige Mark und Pfennige belaufe.
Kaum konnte ich eine Gebärde freudiger Überraschung verbergen. So viel hatte ich in meinen kühnsten Träumen nicht erwartet. Wie Magda das fertiggebracht hatte, war mir einigermaßen rätselhaft; wahrscheinlich war bereits die Zahlung der Gefängnisverwaltung für geliefertes Tauwerk eingegangen, aber auch sie konnte nicht annähernd so viel ausmachen. Nun, jedenfalls war, sagte ich mir, meine freudige Erregung unterdrückend, Geld genug da, genug für das Geschäft und genug vor allem für mich und meine Pläne. Einen Augenblick kämpfte ich mit der Versuchung, den ganzen Betrag abzuheben. Aber ich bezwang mich. Ich wollte doch nicht gemein gegen Magda und das Geschäft handeln, so gemein sie sich auch gegen mich benommen hatte. Außerdem wäre eine so vollständige Entnahme, die einer Auflösung meines Kontos gleichsah, doch wohl auffällig gewesen.
All das war blitzschnell durch meinen Kopf gegangen, nun sagte ich fast beiläufig, dass ich heute eine größere Zahlung zu leisten habe, und bat um Tinte und Feder. Am Schalter stehenbleibend, schrieb ich in dem Scheckbuch, das ich aus meiner Tasche gezogen, einen Überbringerscheck auf fünftausend Mark aus und reichte ihn dem Buchhalter. Mit einem letzten Rest von Furcht prüfte ich wieder sein Gesicht, aber ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, machte er die nötigen Buchungen, stempelte den Scheck und brachte ihn persönlich zum Kassenschalter. Auch ich ging dorthin.
Ein Gefühl unendlicher Freude, ein stolzer Triumph beseligte mich. Da hatte ich Magda bildschön hereingelegt! Dass sie so dumm gewesen war, dass sie der Bank nicht einen kleinen Wink gegeben hatte, das ließ erst meine grenzenlose Überlegenheit im rechten Lichte erscheinen. Ich hätte tanzen und schreien mögen vor Freude, nur mit Mühe bezwang ich eine Art Lachkrampf, der mich ankam.
»Wie möchten Sie das Geld, Herr Sommer?«, fragte der Kassierer mich.
»Groß, groß«, sagte ich eilig. »Das heißt in Fünfzig- und Hundertmarkscheinen. Etwa zweihundert Mark dann in kleineren Scheinen.«
In zwei Minuten hatte ich mein Geld, verwahrte es sorgfältig in meiner Brusttasche, nahm den Koffer und trat als stolzer Sieger wieder auf den Marktplatz. Gerade während ich durch die Drehtür ging, kam mir der Einfall, dass dieser Triumph unbedingt gefeiert werden müsste. Ich wollte trotz der frühen Morgenstunde in eine kleine Weinstube am Marktplatz gehen und dort zu einer oder zwei Flaschen Burgunder einen Hummer essen oder Austern oder was Rohloff eben der Jahreszeit entsprechend dahatte. Ich trete aus der Tür, und vor mir steht der unvermeidliche, der widerliche Polakowski, diese Pest meines Lebens, und sieht mich schleimig lächelnd an.
20
Wenn es nicht der offene Marktplatz gewesen wäre, ich hätte diesen Kerl erwürgt! So sah ich ihn nur einen Augenblick finster drohend an, fasste dann meinen Koffer fester und schlug, ohne ihn zu beachten, den Weg zum Bahnhof ein. Aber ich hörte wohl, dass er hinter mir herging, und nun vernahm ich auch schon seine verhasste schmeichelnde und flüsternde Stimme: »Lassen Sie mich doch den Koffer tragen, Herr! – Bitte, lassen Sie mich doch den Koffer tragen, Herr!«
Ich tat, als habe ich ihn nicht gehört, und schritt schneller aus. Aber plötzlich fühlte ich eine Hand neben der meinen am Koffergriff, und nun hatte schon am hellen Tage auf offener Straße Polakowski mir den Koffer aus der Hand genommen! Wütend drehte ich mich um und schrie: »Wollen Sie mir auf der Stelle den Koffer wiedergeben, Polakowski!!«
Er lächelte demütig. »Nicht so laut, Herr«, bat er flüsternd. »Die Leute gucken ja schon, das ist für Sie peinlich, Herr. Nicht für einen armen Arbeiter, wie ich es bin, aber für Sie, Herr …«
»Sie werden mir sofort den Koffer zurückgeben, Polakowski«, wiederholte ich, aber leiser, denn die Leute guckten wirklich schon.
»Nachher, nachher«, sagte er beruhigend. »Ich trage ihn gerne, Herr. Zur Bahn, nicht wahr?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, ging er an mir vorbei und jetzt mir voraus, dem Bahnhof zu.
Mit einem Gefühl hilfloser Ohnmacht folgte ich ihm. Mit einem Hass sah ich auf die leicht vornübergebeugte Gestalt in einem dunkelblauen Jackett und auf das schlicht zurückgekämmte, leicht goldige Haar, das einen rötlich goldenen Schimmer hatte. Wie einem Mörder direkt vor seiner Tat zumute ist, das weiß ich seit jenen Minuten, die ich hinter Polakowski zum Bahnhof gegangen bin. Und ich konnte ihm nichts tun, gar nichts, er war stärker als ich, sowohl physisch wie moralisch. Er brauchte nur den nächsten Polizisten anzurufen, und ich war verloren, das ahnte er gut, der Schurke.
Wäre ich in jenen Minuten ein wenig kaltblütiger und überlegter gewesen, ich hätte Polakowski ruhig im Besitz meines Koffers gelassen und hätte mich leise in eine Seitenstraße verdrückt. Im Besitz einer so großen Geldsumme, wie ich sie in der Tasche hatte, war der Verlust des Koffers schon zu verschmerzen, er war das Lösegeld, durch das ich mich von diesem elenden Kerl freikaufte. Aber ich kam gar nicht auf diesen Gedanken, mein Blut kochte, es war nicht kalt, ich konnte nicht überlegen.
Auf dem Platz vor dem Bahnhof angekommen, ging Polakowski nicht in ihn hinein, sondern, ohne sich nach mir umzusehen, sicher, dass ich ihm wie ein Hündlein folgen würde, in die Bedürfnisanstalt, die linker Hand, etwas von Büschen versteckt, daliegt. In ihr angekommen, setzte er den Koffer nieder, zog an den Fingern, dass die Knöchel knackten, und sagte: »So, Herr, hier können wir in aller Ruhe reden.«
Ich sah mich um: Das Wasser rauschte schon in dem halben Dutzend Becken, aber die Kundschaft fehlte noch zu dieser frühen Stunde. Polakowski hatte recht: Hier konnten wir in aller Ruhe sprechen. »Und das wollen wir auch!«, rief ich zornig. »Was bilden Sie sich eigentlich ein, Polakowski, dass Sie mir ständig nachlaufen und nachspionieren. Heute Nacht schon und nun wieder …«
»Nachspionieren?« wiederholte er widerlich vorwurfsvoll. »Aber Herr, ich habe Ihnen Ihren Korn nachgebracht.« Und er zog wirklich die Flasche aus der Hosentasche. »Sie haben ihn heute Morgen vergessen. Ich aber bin ein ehrlicher Mann. Ich habe zu meiner Frau gesagt: ›Der Herr hat den Korn bezahlt, er soll ihn auch bekommen.‹ So bin ich.« Er hielt mir die Flasche hin. »Trinken Sie doch, Herr. Ich habe schon aufgekorkt, der Pfropfen sitzt ganz lose.«
Ich machte eine wütende Gebärde.
Er ließ sich nicht entmutigen, er hielt mir die Flasche wieder hin. »Trinken Sie doch«, schmeichelte er wieder, »Sie sind ein so netter Herr, wenn Sie ein bisschen getrunken haben; es bekommt Ihnen gar nicht, wenn Sie nüchtern sind, dann sind Sie immer so gereizt …« Er zog den Pfropfen selbst aus der Flasche und rieb mit seinem feuchten Ende am Flaschenhals hin und her. »Hören Sie, Herr«, sagte er lachend, »der Schnaps ruft nach Ihnen …«
Und wahrhaftig, es ist mir heute unbegreiflich, aber mit seinem albernen Getue hatte mich doch der Kerl wirklich wieder herumgekriegt. Selber jetzt lachend, griff ich zur Flasche, rief: »Sie elender Schurke, Sie!«, und trank, trank viel und lange. Dann setzte ich die Flasche ab, korkte sie zu, verwahrte sie nun in der eigenen Hosentasche und fragte: »Also, was willst du eigentlich von mir, Polakowski? Hast du nicht alles bekommen, was du zu kriegen hast?«
»Davon reden wir nicht, Herr«, rief Polakowski eifrig. »Von solchen Kleinigkeiten reden wir nicht. Ich weiß, Sie sind ein Ehrenmann, Sie sind ein wirklich nobler Mann. Sie können’s nicht übers Herz bringen, einen armen Arbeiter im Elend verkommen zu lassen …«
»Was heißt das, Polakowski?«, fragte ich sehr aufmerksam. »Ich glaube doch, du hast schon genug und übergenug an mir verdient. Wenn ich an meine Goldsachen denke …«
Er achtete nicht darauf. »Sehen Sie, Herr«, fing er mit seiner einschmeichelndsten Stimme an und ließ die Finger knacken, dass es ein Ekel war, »so ein Mensch wie ich ist bloß wie ein Stück Vieh, im Mist geboren und kommt nie aus dem Mist heraus; so ein feiner Mann wie Sie kann sich das gar nicht recht vorstellen.«
»Ich kann mir eine ganze Menge von dir vorstellen, Polakowski«, sagte ich grimmig. »Und mit Mist hat das tatsächlich zu tun.«
Wieder achtete er nicht auf mich. Wirklich eindringlich und überzeugt sagte er: »Und wenn so ein Stück Vieh, Herr, ein Geschäft sieht, das ihn aus dem Mist herausholt für sein ganzes Leben, ja, Herr, da kann’s kein Besinnen geben, da wird das Geschäft gemacht, Herr!« Er sah mich an und wiederholte – diesmal aber war nichts Sanftes und Einschmeichelndes in seiner Stimme: »Das Geschäft wird gemacht, Herr, und gehe es auf Leben und Tod!«
Innerlich erzitterte ich vor der wilden Drohung in seiner Stimme, äußerlich aber fragte ich ganz ruhig: »Und wie soll denn dieses Geschäft aussehen, Polakowski?«
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, als wische er dort ein böses Bild fort. Er fing an zu lächeln, schmeichelnd und sanft, er hatte sich wieder in der Gewalt. »Wie das Geschäft aussehen soll, Herr?« Er lächelte noch stärker, seine Finger knackten. »Der Herr weiß am besten, wie viel Geld er von der Bank abgeholt hat und was er mir davon geben will.«
Ich war starr über diese Frechheit, ich hatte erwartet, dass er das Silber für sich beanspruchen würde, und war schon halb und halb bereit gewesen, es ihm zuzugestehen, aber dass er einen Anteil von meinem kostbaren Geld verlangen würde, das hatte ich nicht erwartet. »Sie sind ein Narr, Polakowski«, lachte ich. »Außerdem haben Sie schlecht aufgepasst, ich habe auf der Bank nicht einen Pfennig Geld bekommen, meine Frau hat das Konto für mich sperren lassen, ich darf dort kein Geld mehr abheben, verstehen Sie?«
Er hörte mir mit düsterem Schweigen zu.
Ich griff in die Seitentasche des Jacketts und zog den Rest des Geldes hervor, das ich aus Magdas Kassette genommen hatte. »Da, sehen Sie selbst, das ist alles Geld, das ich noch besitze.« Ich hielt ihm das Geld hin.
Sein dunkler argwöhnischer Blick wanderte von meinem Gesicht zu dem Geld in meiner Hand. »Wie viel Geld ist das?«, fragte er mit stockender Stimme. »Zeigen Sie mal!« Er stand ganz nahe vor mir, die Augen nahe über dem Geld.
Dann, mit einer mich völlig überraschenden, plötzlichen Bewegung, griff er in meine Brusttasche und riss die Geldpakete heraus. Ein oder zwei fielen zur Erde, auf den nassen, schmierigen Steinboden des Pissoirs – wir bückten uns gleichzeitig nach ihnen. Seine Hände waren schneller, aber ich griff, das Vergebliche meiner Nachsuche einsehend, nach seinem Hals, ich krallte mich an ihm fest, ich war entschlossen, nicht eher loszulassen, bis er nachgegeben, bis ich das Geld zurückhatte … Er versuchte, sich zu wehren, aber an der Abwehr hinderte ihn seine Gier, in beiden Händen hielt er Geld, das er nicht wieder loslassen wollte … Er schnellte das Knie hoch, gegen meinen Bauch … Einen Augenblick später wälzten wir uns beide am Boden, ich immer noch an seinem Hals hängend, er wild mit den Gliedern zuckend, wie ein Fisch, den der Angler an Land gezogen … Dann wurden seine Glieder schlaff, aus seiner Kehle kam ein schreckliches Röcheln … Ich ließ ihn los und mühte mich, seine Hand aufzubrechen …
Ich möchte wohl wissen, was der biedere Postvorsteher Winder sich gedacht hat, als er da zwei Männer auf dem Boden des Pissoirs vorfand, in wildem Kampf begriffen, während er doch nur ein friedliches Morgengeschäft verrichten wollte! »Aber meine Herren! Ich bitte Sie!« rief er mit hoher erschrockener Stimme aus. »Hier auf der Toilette! Meine Herren!«
Polakowski, der wieder Luft bekommen hatte, sah seine Chance – mit einem Satz war er hoch, griff sich den Koffer und war, den Postvorsteher zur Seite stoßend, aus der Toilette, keiner hatte bis drei zählen können, so schnell ging das.
Ich stand taumelig und benommen auf, zu irgendeinem raschen Entschluss unfähig. Ich trat an eines der Becken, dem verstörten und empörten Vorsteher den Rücken kehrend. Der sagte: »Herr Sommer, wenn ich nicht irre? Ich wundere mich, Herr Sommer, ich muss mich sehr über Sie wundern!« Einen Augenblick fühlte ich noch seinen stechenden Blick in meinem Rücken, dann klappte eine Lokustür, ein Riegel klirrte, Kleider raschelten – ich war allein, meinen Abgang zu bewerkstelligen.
Und gerade in diesem Moment, da ich, völlig verzweifelt, ohne Geld, die Anstalt verlassen wollte, fiel mein Blick seitlich auf ein blaues Bündel, und – siehe da – hier lag, verdrückt und beschmutzt, ein Paket Hundertmarkscheine, ein runder Tausender in zehn Hundertmarkscheinen!










