Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Ich springe von meinem Lager auf, ich hebe die Flasche gegen das Licht: Wirklich, es ist kein Tropfen mehr drin! Ich stelle sie endgültig fort, hinter den Kübel, und während ich dies tue, kommt ein Stück der Erlebnisse dieser Nacht zurück, blitzartig erleuchtet …
Ich sehe die unordentliche, düster beleuchtete Gaststube, ich sehe mich, Erwin Sommer, Inhaber eines Landesproduktengeschäftes, angesehener Bürger von einundvierzig Jahren, ich sehe mich, wie ich mit dem Gendarmen handgemein bin, wie ich mich mit Händen und Krallen meiner Verhaftung widersetze – wir wälzen uns am Boden, und die behäbige Wirtin mit dem weißen Scheitel, die sich so vor meiner Schusswaffe geängstigt hat, die jetzt aber weiß, dass ich mit einer Schusswaffe nur geprahlt habe, sie versetzt mir während dieses Kampfes hinterlistige Tritte und Püffe, sie kneift mich und fährt plötzlich mit allen fünf Fingern in mein Gesicht, alles, während ich mit dem Gendarmen um meine Freiheit kämpfe.
Und im selben Augenblick während dieses Kampfes sehe ich Elinor, die mit einem unergründlichen Lächeln auf uns beide Kämpfende schaut, aber nicht einen Finger rührt, um dem einen oder anderen Kämpfenden zu helfen. Kein Wort auch spricht sie.
Und doch hätte ich mich vielleicht freigekämpft, denn in mir tobte ein Entsetzen, dass ich, ein gesitteter Bürger, wie irgendein beliebiger Betrüger in ein richtiges Gefängnis abgeführt werden sollte, ich, ein angesehener Mann, vor dem viele Leute zuerst den Hut zogen, ins Kittchen – ja, diese Verzweiflung gab mir solche Kräfte, dass ich mich wohl doch noch von dem Wachtmeister freigekämpft hätte – wenn nicht Elinor gewesen wäre.
In irgendeinem Moment unseres Kampfes, wohl gerade in dem Augenblick, da sich der Sieg mir zuneigte, stand sie plötzlich bei uns mit einer Flasche von meinem Schwarzwälder Zwetschgenwasser; sie sagte sanft lächelnd und strahlte mich dabei mit ihren hellen Augen freundlich an: »Seien Sie doch friedlich, altes Papachen! Der Wachtmeister erlaubt Ihnen auch, sich eine Flasche Schnaps mitzunehmen. Es ist ja nur für eine Nacht, altes Papachen, bis Sie Ihren Rausch ausgeschlafen haben …«
Damit war mein Kampfmut gelähmt, und sie wurden leicht Herr über mich. Wieder verführten mich der Alkohol und Elinor (das war wohl das gleiche Gift: Alkohol und Elinor); so oft schon hatten sie mich getäuscht und in die beschämendsten Niederlagen hineingeführt, aber ich war noch immer nicht klug geworden. Für eine Flasche Schnaps verkaufte ich meine Aussicht auf Freiheit. Und da stand sie nun, dort hinten, bei dem stinkenden Kübel: leer. Und hier stand ich, zwischen gekalkten Wänden, hier ein Eisengitter, dort oben, nahe der Decke, ein kleines Fensterloch. Ohne Freiheit. Ohne Elinor. Ohne Schnaps.
Und plötzlich fällt mir noch eine Schlussszene, eine allerletzte Szene von diesem Abend her ein, eine so beschämende Szene, dass ich die Fäuste balle und die Zähne zusammenbeiße … Wir sind handelseins geworden, der Gendarm und ich. Er hat viel von seinen Dienstvorschriften geredet, aber ich habe ihm wohl Scherereien genug gemacht, und er hat wohl auch Befürchtungen, dass ich ihm bei dem Weg durch die Nacht noch Schwierigkeiten mache … Er hat eingewilligt, dass ich die Flasche Schnaps noch mitnehmen darf; ich trage sie mit losem Korken griffbereit in der Hosentasche. Dafür habe ich ihm mein Ehrenwort gegeben, ihm nicht wieder zu widerstehen und keinen Fluchtversuch zu machen. Trotzdem hat er mir ein kleines stählernes Kettchen um das rechte Handgelenk gelegt, er misstraut vielleicht dem Ehrenwort eines Betrunkenen doch ein bisschen.
Und nun stehen wir unter der Tür, ich habe mich umgewendet und habe zu Elinor gesagt: »Gute Nacht, Elinor, ich danke dir auch für alles, Elinor.«
Und sie antwortet mit gleichmütiger Stimme: »Gute Nacht, altes Papachen, schlaf auch schön« – gerade als wäre ich irgendein beliebiger Stammgast, der nach seinem Abendschoppen zum friedlichen Ehebett heimgeht.
Also, hiernach wollen wir nun wirklich gehen, ich und der Wachtmeister, da ruft die Wirtin plötzlich mit schriller Stimme: »Und mein Wein? Und mein Schnaps?! Und die zerbrochenen Gläser?!! Der Lump hat ja noch nicht bezahlt, der besoffene, Herr Wachtmeister! Das geht doch nicht! Lassen Sie ihn erst zahlen.«
Der Wachtmeister sieht mich erst bedenklich an, seufzt und fragt dann leise: »Haben Sie Geld?«
Ich nicke.
»Also dann bezahlen Sie, dass ich endlich nach Haus komme!« Und laut: »Wie viel macht’s denn?«
Die Wirtin rechnet, dann sagt sie: »Siebenundsechzig Mark einschließlich Bedienung. Und richtig, dann noch das Telefongespräch, durch das ich Sie gerufen habe, Herr Wachtmeister. Macht, alles zusammen, siebenundsechzig Mark zwanzig.«
Ich greife in meine Tasche. Ich bringe ein bisschen Geld hervor. Ich greife in die Brusttasche meines Jacketts: Sie ist leer. Plötzlich erinnere ich mich … Ich sehe auf Elinor hin, erst mit einer stummen Frage, dann bittend, auffordernd, drängend … Ich kann doch hier nicht auch noch als Zechpreller dastehen! Elinor sieht nicht auf mich, mit einem unergründlichen schwachen Lächeln blickt sie auf das Geldhäufchen, das ich auf einen Tisch gelegt habe. Dann gleitet ihr Blick von dort fort und zur Wirtin hin … Elinors Lippen öffnen sich ein wenig, das Lächeln um ihren Mund verstärkt sich … Die Wirtin ist auf das Geld losgeschossen und hat es im Nu durchgezählt.
»Dreiundzwanzig Mark«, schreit sie kreischend. »Sie Lump, Sie verdammter Zechpreller, Sie! Erst stehlen Sie mir meine Nachtruhe und bedrohen mich mit einem Revolver und dann …«
Sie schilt immer weiter, der Wachtmeister hört gelangweilt und gähnend zu. Schließlich, als die Wirtin mir gar wieder mit ihren Krallen ins Gesicht fahren will, wehrt er sie ab und sagt: »Jetzt ist’s genug, Frau Schulze.« Und zu mir: »Haben Sie wirklich nicht mehr Geld?«
»Nein!«, sage ich und sehe Elinor fest dabei an. Diesmal sieht sie mich wieder an, ebenso fest, ohne eine Spur von Lächeln. Und nun tut dieses Mädchen blitzschnell wieder etwas Erstaunliches: Sie greift in den Ausschnitt ihrer Bluse und zieht für einen Augenblick den mir abgenommenen Packen Geldscheine hervor. Ich sehe den blauen Schimmer der Hundertmärker. Im Mundwinkel erscheint Elinors Zungenspitze, spöttisch lächelt das Mädchen jetzt. Der Packen Geld verschwindet wieder im Busen. Sie legt die Hand auf die Brust, hebt sie ein wenig an, dass ich den schönen, vollen Ansatz sehe, und dann wendet sie sich endgültig von mir ab, geht hinter die Theke.
Oh, wie klug und raffiniert sie ist: Gerade im richtigen Moment erinnerte sie mich an mein Wort, aber meinem Wort nicht ganz trauend, erinnerte sie mich auch an die Verbundenheit unseres Fleisches. Bittersüß, von einem kalten Feuer, eine Geliebte, die sich mir nie ganz hingeben, die ich nie ganz besitzen würde – die wahre Königin des Alkohols!
»Nein«, sage ich mit trockener Stimme, »mehr Geld habe ich nicht bei mir. Aber senden Sie die Rechnung an mein Kontor, meine Frau wird sie sofort bezahlen.«
Die Wirtin keift: »Ihre Frau wird Besseres zu tun haben, als die Rechnungen eines Säufers zu bezahlen! Wachtmeister, kehren Sie seine Taschen um, vielleicht hat er doch noch was bei sich …«
»Nichts«, sage ich. »Aber ich habe eine Tasche draußen stehen, Herr Wachtmeister, wenn ich die holen darf …?«
Wir holen die Aktentasche, meinen Einkauf in jenem kleinen Luftkurort, herein. Ich breite meine Einkäufe aus: meine beiden papageienbunten Pyjamas, das raffinierte Toilettenzeug, das französische Parfüm … Wie lange ist es her, dass ich dies alles, weltmännisch scherzend, von jungen Mädchen einkaufte? Ich werde es nie benutzen! Wie lange ist es her, dass ich auf der Seeterrasse dort grünen Aal zu Burgunderwein aß und Betrachtungen darüber anstellte, ein wie behagliches Leben ich als zur Ruhe gesetzter Kaufmann führen würde? Wie lange? Erst gute zwölf Stunden! Und nie werde ich dieses behagliche Leben führen! Jetzt trage ich eine Kette um das Handgelenk und werde als Verbrecher von der Polizei eskortiert! O ade, gutes Leben!
»Was soll ich mit dem feinen Krimskrams?!«, zetert die Wirtin. »Sieben Haut- und Nagelscheren allein! Das kann ich nicht brauchen. Ich will mein Geld haben! Und diese gemeinen Schlafanzüge!« Aber ihrer Stimme ist anzuhören, dass dies nur ein Rückzugsgefecht ist, ihre Gier ist erwacht.
»Ich habe um hundert Mark herum dafür bezahlt«, sage ich. »Und draußen stehen auch noch zwei Flaschen Schwarzwälder und eine Flasche Korn – die sollen Sie auch noch haben. Sind Sie nun zufrieden?«
Sie zetert noch ein wenig, aber dann gibt sie sich zufrieden.
»Aber die Flasche Parfüm möchte ich Ihrem Mädchen als Trinkgeld schenken«, sage ich und nehme sie.
»Meinethalben«, sagt die Wirtin. »Mit solchem Nuttenzeug mag ich mich nicht einstinken.« Und sie probiert, ob die Hose des bunten Pyjamas auch lang genug für sie ist.
»Elinor!«, rufe ich durch das Lokal, denn ich kann wegen der Kette nicht fort von dem Wachtmeister. »Hier habe ich noch eine Flasche echt französisches Parfüm für dich … Komm, Mädchen!«
»Ach, lassen Sie mich zufrieden!«, ruft sie mürrisch zurück. »Ich habe jetzt wirklich genug von Ihnen. Bringen Sie den Kerl doch weg, Wachtmeister, ich möchte ins Bett!«
Die brutale Rücksichtslosigkeit, mit der sie mich im Stich ließ, sobald sie ihren Zweck erreicht hatte, raubte mir fast den Atem. Dann rief ich: »Verlässt du dich nicht ein bisschen sehr auf meine Anständigkeit, Elinor?« scharf durchs ganze Lokal.
»Bringen Sie den besoffenen Trottel weg, Wachtmeister!«, schrie sie jetzt. »Ich will nicht mehr von ihm angequatscht werden. Er war mir immer eklig, hoffentlich behaltet ihr ihn ewig im Kittchen!«
Ich begriff, in einem Augenblick begriff ich. Jetzt war ihr mein Geld sicher, ich hatte selbst seinen Besitz geleugnet. Und sie trug es bestimmt nicht mehr bei sich, sie hatte es schon irgendwo hinter der Theke versteckt. Nun ließ sie die Maske fallen – ich war ein ekelhafter Trottel. Wahrhaftig, ich war es wirklich. Wie gut, dass ich noch eine Flasche Schnaps zum Trost in der Tasche hatte! Aber wie, wenn mich nun auch der Schnaps verließ?
»Also kommen Sie endlich!«, sagte der Wachtmeister und zog am Kettchen.
Ich folgte ihm wortlos. Der Gendarm setzte sich auf sein Rad und radelte, für einen Radler langsam, für einen Fußgänger reichlich schnell, los. Ich trabte nebenher. Im Gefängnis des großen Nachbardorfes, in demselben Ort, an dem ich mit der Bahn am Abend vorher eingetroffen war, lieferte er mich ein.
25
Ich habe mein Bett unter das kleine Fenster gerückt und mich dann an den eisernen Gitterstäben hochgezogen. Ich sehe in ein friedlich besonntes Land mit Wiesen, Äckern, weidendem Vieh und Waldstreifen am Horizont. Direkt unter mir liegt ein mit Latten eingefriedeter Gemüsegarten, ein alter Mann geht einen Weg entlang und pflückt Grünes für Ziegen und Karnickel in einen Sack. Er kann gehen, wohin er will – und ich, ich bin jetzt gefangen! Gestern gehörte mir das noch alles, ich konnte aus meinem Leben machen, was ich wollte, heute halten andere mein Leben in ihrer Hand, und ich muss warten, wie sie über mich beschließen.
Ich lasse mich auf mein Bett fallen. Mir ist sehr schlecht, mein Kopf schmerzt – die Wirkung der paar Schlucke eben ist schon wieder vergangen. Ich habe Durst – aber wann werde ich diesen Durst wieder stillen können? ›Heute schon‹, sage ich mir beruhigend, ›bestimmt heute schon! Heute noch lassen sie dich wieder frei. Sie haben dir bloß einen Schreck einjagen wollen, sowas macht man, man steckt Betrunkene für eine Nacht in eine Zelle, damit sie ihren Rausch ausschlafen und sich ernüchtern, dann lässt man sie wieder frei. So machen sie’s nun auch mit dir.‹
Ich will nicht mit ihnen grollen, schließlich handeln sie ganz richtig. Ich habe mich wirklich zu sehr gehenlassen in dem Landgasthof, dieser Denkzettel, dieser Schreckschuss ist mir ganz gut. Aber gleich wird der Schlüssel im Schloss klirren, der nette Wachtmeister aus der Nacht kommt herein und fragt lachend: »Na, gut geschlafen, Herr Sommer? Dann machen Sie, dass Sie hier wegkommen – und sündigen Sie hinfort nicht mehr!«
Und ich gehe in die Freiheit, in jenen frischen, grünen, sonnigen Morgen hinaus, an dem ein alter Mann an allen Straßenrändern, wo er nur mag, Grünfutter in einen Sack sammelt. Ich bin wieder frei. Wäre es wirklich ein ernster Fall gewesen, hätte mir dann der Wachtmeister den Schnaps mit in die Zelle gegeben?
So beruhige ich mich, und wenn sich ein Gedanke an jene nächtliche Szene mit Magda bei mir einschleichen will, so weise ich ihn energisch zurück. Magda ist meine Frau, trotz aller Differenzen in letzter Zeit, wir haben so lange zusammengehalten, sie wird mir verzeihen, sie hat mir schon verziehen. Sie versteht, dass ich krank war. Aber dieser Schreckschuss hier hat mich ernüchtert, nie wieder werde ich trinken, keinen Tropfen mehr.
Ich springe auf und gehe in der Zelle hin und her. Nein, ich will jetzt ehrlich sein, ich will mir nicht wieder etwas vorlügen: Ich kann, wenn ich nachher entlassen werde, nicht gleich auf einen Schlag mit Trinken aufhören; schon jetzt quält mich der Durst schändlich. Es ist wie ein reißendes Verlangen in meinem Körper, eine Gier, die einen töten zu wollen scheint, wenn sie nicht befriedigt wird. Meine Glieder zittern, ein Schweißausbruch folgt auf den anderen, der Magen ist in Aufruhr.
Plötzlich fällt mir ein, dass ich bei meinem Aufbruch aus dem Landgasthof wohl eine ganze Flasche Kirsch bezahlt habe, dass sie aber, nur zur Hälfte leer getrunken, auf dem Tisch stehen blieb. Ich hätte den Wachtmeister bitten sollen, sie noch leer trinken zu dürfen. Er hätte es mir erlaubt, dann hätte ich mehr Alkohol im Leibe gehabt, dann hätte ich jetzt nicht diese schrecklichen Beschwerden!
Also, ich will von jetzt an ehrlich sein: Ich kann dem Alkohol nicht sofort ganz abschwören, aber ich werde von nun an sehr mäßig trinken, vielleicht nur eine halbe Flasche pro Tag oder gar nur ein Drittel. Mit einem Drittel würde ich schon auskommen. Jetzt würde mich schon ein einziger kleiner Schnaps glücklich machen, ein winziges Stängchen, kaum ein Mundvoll Schnaps, in diesem Zustand, in dem ich jetzt bin.
Wenn ich jetzt gleich entlassen werde, werde ich mir hier im Ort so ein Stängchen leisten, ein einziges nur, und dann werde ich zu Fuß nach Hause gehen und nichts mehr trinken. Ich habe kein Geld mehr bei mir, aber ich habe meinen bläulichen Frühjahrsmantel an, den werde ich dem Wirt zum Pfand dalassen. Er wird mir darauf eine Flasche Korn geben, vielleicht sogar zwei, dann bin ich wieder für drei, vier Tage ausgerüstet. Für drei Tage jedenfalls bestimmt! Und in drei Tagen habe ich Magda rum, ich werde sehr liebevoll und freundlich mit ihr sein, dann bekomme ich wieder Geld von ihr …
Einen Augenblick schließe ich die Augen: Ich habe eben an die fünftausend Mark gedacht, die ich gestern um diese Zeit von der Bank abhob. Es muss ein schwerer Schlag für das Geschäft gewesen sein, es wird vielleicht doch nicht ganz einfach sein, Magda zu versöhnen … Aber, beruhige ich mich rasch, ich werde eine Hypothek auf unsere Villa eintragen lassen, sie ist bisher schuldenfrei; fünftausend Mark bekomme ich auf die Villa bestimmt. Dann ist Magda versöhnt. Und natürlich werde ich Polakowski nicht ungestraft seinen Raub genießen lassen. Ich werde heute noch zu ihm hingehen, meine Sachen und das Silber und meine Goldsachen muss er mindestens wieder herausrücken, dann will ich ihm zweitausend Mark von dem Geld lassen. Und geht er darauf nicht ein, werde ich ihn anzeigen, dann wandert der gute, sanfte, heuchlerische Polakowski statt meiner ins Gefängnis.
So gehen meine Gedanken, im Ganzen sind sie – trotz gelegentlicher beklommener Erwägungen – optimistisch. Ich werde schon durchkommen, schließlich bin ich ein angesehener Bürger; man wird sich hüten, mich hart anzufassen!
Dazwischen starre ich halb gedankenlos die Inschriften in der Zelle an. Manche sind mit Bleistift an die Wände geschrieben, andere mit einem Nagel in den Kalk gekratzt. Meist steht obenan ein Name, und darunter dann zwei Daten, das der Einlieferung und das der Entlassung. Es beruhigt mich sehr, dass all diese Daten so dicht beieinanderliegen, der Mann, der nach den Inschriften am längsten hier in der Zelle gesessen hat, war zehn Tage hier. Auch ein Beweis wieder, dass man nichts Schlimmes mit mir vorhat. Zehn Tage – nun, für mich kommen auch zehn Tage nicht infrage, ich hielte sie nie aus bei meinem wilden Alkoholhunger! Aber ich, ich werde ja auch in ein paar Minuten entlassen!
Und dann, wie ist es mit dem Frühstück? Auch Gefangene müssen ein Frühstück bekommen, vermutlich Wasser und trocken Brot, aber immerhin ein Frühstück. Es ist jetzt mindestens halb zehn Uhr, nach dem Sonnenstand zu urteilen, und mir hat man noch kein Frühstück gebracht! Das ist natürlich wieder ein Zeichen, dass man es nicht schlimm mit mir meint. Man will mich so schnell entlassen, dass man nicht einmal ein Frühstück an mich wendet. Der Wachtmeister spart es, ich kann mir ja draußen eins kaufen! Das ist so klar wie der Tag.
Für den Augenblick völlig beruhigt, werfe ich mich wieder auf den Strohsack und versuche zu schlafen. Ich denke an Elinor, ich versuche an die Süße des Augenblicks zu denken, als sie mir den Schnaps aus ihrem Munde zu trinken gab, aber seltsam, jetzt scheint mir das nicht mehr süß. Nein, ich will nicht mehr an den Landgasthof denken, es war zu widerlich dort, und wie fein sie mich ausgebeutelt hat, diese kleine Hure, wie den allerletzten dummen Jungen! Aber zu ihr werde ich nicht gehen wie zu Polakowski, soll sie mit ihrem Raub glücklich werden oder verrecken, ich will nie wieder etwas von ihr sehen! Ich lebe von nun an nur für Magda. Es ist nur gut, dass ich mit diesen Leuten im Gasthof so völlig durch bin; ich habe alles bezahlt, sie können mir gar nichts mehr wollen, ich werde sie nie wiedersehen. Ich wollte nur, ich wüsste über Magdas Stellung zu mir schon so gut Bescheid …
So gehen meine Gedanken. Dazwischen schlafe ich ein bisschen, drusele so halb ein und bin auch plötzlich ganz fort, wie in einer tiefen Ohnmacht. Und da bin ich wieder wach, fühle von Neuem die Qual in meinem Leib, stöhne: »Mein Gott! Mein Gott! Das halte ich nicht aus – komme ich denn noch nicht fort?« Ich renne hin und her, rüttele auch einmal an den Eisenstangen, lehne mich gegen die Tür, in der wahnsinnigen Hoffnung, dass sie vielleicht offengeblieben ist, und denke an Magda … Ehrlich gesagt: Ich habe Angst vor Magda … Sie kann so verflucht energisch sein … Aber ich bin ihr Mann, wir haben uns geliebt, sie wird mir verzeihen, sie muss es … So dreht sich die ewig gleiche Gedankenmühle …
26
Ich habe wieder einmal geschlafen. Das Klirren des Schlüssels hat mich geweckt. Ich springe von meinem Lager und sehe erwartungsvoll den vier Herren entgegen, die in meine Zelle eintreten. Zweien gönne ich nur einen kurzen Blick: Sie tragen die Uniform der Polizei. Der eine ist der Wachtmeister aus der Nacht, der mich hierher gebracht hat, der andere ist ein Polizeibeamter, den ich aus meiner Vaterstadt gut kenne. Manches Mal habe ich bei einem Glase Bier einen Skat mit ihm gespielt, ein guter, ordentlicher Mensch, natürlich nicht aus meiner Gesellschaftsklasse, aber ich war nie stolz. Von den beiden anderen Herren in Zivil kenne ich den einen nicht, es ist ein junger Herr mit scharf geschnittenem Gesicht und etwas starrenden, strengen Augen. Seine Unterlippe wölbt sich stark vor. Der andere Zivilist ist mir aber umso besser bekannt, es ist unser guter alter Hausarzt, der Dr. Mansfeld.
Im Augenblick, da ich ihn erkenne, schießt es mir blitzschnell durch den Kopf, dass ich also doch nicht entlassen werde. Er wird mich in eine Trinkerheilstätte bringen. Aber auch das ist nicht schlimm, im Gegenteil, das ist vielleicht noch viel besser. In einem solchen Haus werden mir meine jetzigen Qualen abgenommen, sicher haben sie dort Mittel dagegen, und dann ersparen sie mir die sofortige Auseinandersetzung mit Magda. Über einen in solchem Haus untergebrachten Kranken wird Magda viel milder denken …
All das habe ich in Sekundenschnelle überlegt und bin dabei auf den Arzt zugeeilt. Ich schüttele ihm die Hand, ich sage erregt: »Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind, Herr Dr. Mansfeld. Sehen Sie«, ich lache ein wenig verlegen, »wie man mich hier untergebracht hat!« Und ich werfe einen Blick auf die schmutzige Zelle.
Dr. Mansfeld drückt meine Hand kräftig. Ich merke, auch er ist erregt, sein Gesicht zittert. »Ja, mein lieber Herr Sommer«, sagt er, und seine Stimme zittert. »Ich habe es nicht gewollt, dass es so mit Ihnen enden muss …«
»Enden?«, sage ich und versuche, meiner Stimme einen leichten Klang zu geben. »Enden, Herr Dr. Mansfeld? Ich denke, dies ist ein neuer Anfang! Sie bringen mich in eine Heilstätte und machen mich wieder gesund!«
»Das wollte ich vor vierzehn Tagen, mein lieber Herr Sommer«, sagt Dr. Mansfeld kopfschüttelnd. »Aber Sie haben es ja leider unmöglich gemacht. Jetzt hat der Herr Staatsanwalt das Wort.«
Und damit sieht er zu dem jüngeren Herrn mit den starrenden Augen hinüber, der jetzt seine vorstehende Unterlippe noch weiter vorschiebt, mich streng anschaut und erst zögernd sagt: »Ja, ja, natürlich.« Dann rasch: »Ich muss Sie wegen Mordversuchs an Ihrer Frau verhaften, Herr Sommer. Sie sind verhaftet!«
Ich stehe wie vom Donner gerührt, ich kann im ersten Augenblick kein Wort über die Lippen bringen. ›Dies kann kein Ernst sein‹, denke ich fieberhaft. ›Sie wollen dich nur schrecken. Mordversuch an Magda …?‹ Endlich kann ich sprechen, ich sage mit zitternder Stimme: »Mordversuch an meiner Frau, das ist doch lächerlich! Ich habe Magda doch nie ermorden wollen!«
Der Herr Staatsanwalt sieht mich vernichtend an und stößt scharf hervor: »Wir werden Ihnen schon beibringen, wie lächerlich das ist, Sommer!« Und: »Kommen Sie, Herr Doktor!« Noch einmal zu dem städtischen Wachtmeister: »Sie wissen also Bescheid, Wachtmeister. Führen Sie den Mann ab!«
»Herr Dr. Mansfeld!«, rufe ich aufgeregt, maßlos verzweifelt hinter den Fortgehenden drein. »Herr Dr. Mansfeld, Sie wissen doch, wie sehr ich Magda geliebt …«
Die Tür schlägt hinter den beiden Zivilisten zu, ich bin mit den beiden Uniformierten allein. Fassungslos hocke ich mich auf meinen Strohsack und verberge das Gesicht in den Händen.
27
Nachdem ich eine Weile bewegungslos so dagesessen hatte und immer wieder die gegen mich erhobene Anklage »Mordversuch an der eigenen Frau« qualvoll hin und her gewälzt hatte, legte der Wachtmeister aus meiner Vaterstadt, Herr Schulze, seine Hand auf meine Schulter und sagte, milde mahnend: »Wir müssen jetzt gehen, Sommer!«
»Sommer«, wie mich das anrührte, dieses einfache »Sommer« ohne »Herr«; so von einem ganz einfachen Mann mit einem Jahreseinkommen von kaum mehr als zweitausendvierhundert Mark angeredet zu werden, das machte mir die Veränderung meiner Lebensumstände aufs Deutlichste begreiflich. Seit ich aus der Lehre entlassen worden war, hatte mich noch kein Mensch ohne »Herr« angeredet, und nun … Ich nahm die Hände vom Gesicht und fragte, mit Tränen in den Augen: »Wohin bringen Sie mich, Herr Schulze?«
Ich betonte das »Herr«, aber er achtete nicht darauf, solch einfacher Mann hatte für so feine Schattierungen wohl kein Gefühl. »Nur zum Amtsgericht, Sommer«, sagte er. »Nur zum Amtsgericht.« Und er fuhr fort: »Sehen Sie, Sommer, Sie sind doch ein gebildeter Mann, Sie werden mir doch keine Schwierigkeiten machen? Ich müsste Sie wohl eigentlich an die Kette nehmen, aber wenn Sie mir versprechen, keine Schwierigkeiten zu machen …«
»Ich verspreche es Ihnen, Herr Schulze«, sagte ich eifrig und jetzt fast fröhlich. »Ich verspreche es Ihnen auf Ehre und Gewissen.«
»Schön«, antwortete er. »Ich will mich auf Sie verlassen. Ziehen Sie Ihren Mantel an, da liegt noch Ihr Hut, sonst haben Sie nichts? Also kommen Sie!«
Er ging mit mir aus der Zelle, wir stiegen eine Treppe hinunter und standen auf der Dorfstraße. Ich war erst ein paar Stunden in dem halbdunklen Gefängnis gewesen, und doch überwältigten mich schon Weite und Helle ringsum. Mein Herz klopfte schneller bei diesem Gruß der Freiheit.
›Wenn du jetzt‹, dachte ich schnell, ›über den Zaun dort springen und durch den buschigen Garten laufen würdest, über die Wiesen in den Wald hinein – ob Schulze sich wohl sehr viel Mühe geben würde, dich wieder einzufangen? Ob er gar hinter dir herschießen würde wie hinter einem richtigen Verbrecher? Ach nein‹, dachte ich mit einem schwachen Lächeln, ›das würde er nie tun. Wir haben doch öfter Skat miteinander gespielt, und er weiß, wer ich bin und was ich vorstelle. Aber ich will ihm ja gar nicht weglaufen‹, dachte ich schnell. ›Ich habe ihm versprochen, keine Schwierigkeiten zu machen, und ich bin ein Mann von Wort. Aber etwas anderes will ich von ihm …‹ Als Schulze vorhin davon gesprochen hatte, dass er mich zum Amtsgericht bringen müsste, war diese Möglichkeit hoffnungsvoll vor mir aufgetaucht. »Herr Schulze«, sagte ich sehr höflich, »ich habe eine Bitte an Sie …«










