Hans Fallada – Gesammelte Werke

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»Nun, was ist denn noch, Sommer?«, fragte er. »Gehe ich zu schnell? Wir können ruhig auch langsamer gehen, der Zug fährt erst in zwanzig Minuten.«
»Sehen Sie, Herr Schulze«, fing ich an. »Ich habe so furchtbare Zahnschmerzen, und da drüben sehe ich gerade einen Gasthof. Darf ich nicht schnell einmal hineingehen und einen Kognak oder Rum trinken? Das hilft mir sofort gegen die Zahnschmerzen. Sie können«, fuhr ich schnell fort, »ruhig neben mir an der Theke stehen, wenn Sie Angst haben, ich laufe Ihnen fort. Ich laufe Ihnen bestimmt nicht fort, es ist nur wegen meiner grässlichen Zahnschmerzen.«
»Das schlagen Sie sich nur ruhig aus dem Kopf!«, sagte der Wachtmeister bestimmt. »Da müsste ich ja wohl meinen Rock ausziehen, wenn bekannt würde, ich habe mit einem Gefangenen Schnaps an der Theke getrunken. Daraus wird nichts, Sommer.«
»Aber es kennt mich hier doch kein Mensch, Herr Schulze«, rief ich bittend. »Es kommt bestimmt nie heraus!«
»Da!«, rief der Wachtmeister und legte grüßend die Hand an den Tschako. Das Auto des Arztes, in dem neben Dr. Mansfeld der Staatsanwalt saß, war an uns vorübergefahren. »Wenn die beiden uns hätten in den Gasthof reingehen sehen, ich wäre schon ›drin‹ gewesen! Also, kommen Sie jetzt weiter, Sommer.«
»Herr Schulze«, sagte ich flehend und ging keinen Schritt von diesem Platz am Gasthof, meiner letzten Chance. »Nun ist aber wirklich kein Einziger mehr hier, der mich kennt. Tun Sie mir doch den Gefallen! Nur ein einziger Schnaps! Ich will meiner Frau auch sagen, sie soll Ihnen hundert Mark …«
»Nun wird es mir aber doch zu bunt!«, schrie der Wachtmeister und war rot vor Zorn. »Sind Sie denn ganz verrückt geworden, Sommer? Das ist ja eine Beamtenbestechung, die Sie da versucht haben! Das müsste ich ja eigentlich auf der Stelle anzeigen! Sofort kommen Sie jetzt mit, oder ich nehme Sie an die Kette!«
Völlig verschüchtert, gänzlich niedergeschmettert, der letzten Hoffnung beraubt, folgte ich dem aufgebrachten Herrn Schulze. Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinanderher, er ärgerlich vor sich hin murmelnd, ich mit gesenktem Kopf und schleppenden Gliedern.
Dann sagte der Wachtmeister ruhiger: »Ich verstehe Sie nicht, Sommer. Sie waren sonst doch ein ganz ordentlicher, solider Mann, und nun machen Sie solche Zicken! Haben Sie denn noch immer nicht genug von der ollen Sauferei? Hat Sie die nicht schon weit genug ins Unglück gestürzt? Jedenfalls will ich Ihre Lage nicht noch schlimmer machen, als sie schon ist. Ich habe nichts gehört. Aber nun seien Sie auch ein Kerl, Sommer, und reißen Sie sich zusammen. In ein paar Tagen sind Sie aus dem Keller raus und haben wieder einen klaren Kopf, und dass Sie den gewaltig brauchen werden, das müssten Sie nach den Worten des Herrn Staatsanwaltes doch eigentlich wissen!«
Ich hörte mir das alles schweigend und ohne zu antworten an. Es demütigte und kränkte mich tief, dass ein so einfacher Mann wie der Wachtmeister Schulze es sich herausnehmen durfte, so mit mir zu reden. Freilich wusste ich damals noch nicht, dass ich erst am Anfang eines langen Leidensweges stand und dass noch ganz andere und sehr viel tiefer stehende Menschen noch viel, viel deutlicher mit mir reden würden.
Wir waren auf dem Bahnhof angekommen, und Wachtmeister Schulze kaufte hier zwei Fahrkarten dritter Klasse für uns. »So«, sagte er dann und trat mit mir auf den Bahnsteig unter die dort wartenden Leute hinaus. »Und nun lassen Sie den Kopf nicht hängen, Sommer, sondern unterhalten Sie sich ruhig mit mir, dann merkt keiner was, sondern jeder denkt, wir sind gute Bekannte und haben uns ganz zufällig getroffen. Wir sind ja wohl auch schon daheim nach dem Skat miteinander die Breite Straße ein Stück lang gemeinsam gegangen, und Sie und keiner ist auf den Gedanken gekommen, dass wir etwas anderes als Bekannte wären …«
Damit hatte er recht. Und da ich nun den Schreck über den abgeschlagenen Schnaps einigermaßen überwunden hatte, kam wirklich eine ganz vernünftige Unterhaltung zustande, erst über die eben einsetzende Heuernte, dann über die allgemeinen Ernteaussichten. Schulze und ich, wir waren beide der Ansicht, dass es im Allgemeinen nicht schlecht aussähe, jetzt aber müsse Regen kommen, das Frühjahr sei zu trocken gewesen, und besonders die Sommerung,[40] aber auch die Hackfrüchte brauchten nötigst Feuchtigkeit.
Die kurze Bahnfahrt verging mir so schnell genug, und von den im Abteil Mitreisenden ist wohl keiner auf den Gedanken gekommen, dass hier ein des Mordversuches Verdächtiger abgeführt wurde. (Manchmal wollte ich mir als so schwerer Verbrecher wahrhaft glorios verrucht vorkommen.) Als wir dann aber auf dem heimatlichen Bahnhof ankamen und uns durch viele Wartende hindurchzwängten, in die Bahnhofshalle kamen, und auf den Platz vor dem Bahnhof, da wurde mir wieder ganz bänglich zumute. Denn jeden Augenblick konnte ich jetzt einem nächsten Bekannten, ja meinen eigenen Angestellten, ja meiner eigenen Frau begegnen.
Ich zog den Wachtmeister am Ärmel und bat ihn: »Herr Schulze, können wir nicht ein bisschen hintenrum und durch die Anlagen gehen? Ich kenne hier so viele Menschen, und es wäre mir wirklich peinlich …«
Herr Schulze nickte mit dem Kopf. »Mir soll es recht sein. Es ist ja schließlich egal, ob Sie eine Viertelstunde früher oder später im Amtsgericht ankommen. Aber jetzt möchte ich mich erst ein bisschen leichter machen …«
Und damit ging Herr Schulze mit mir schräg über den Bahnhofsplatz auf jenes Gebäude zu, das ich, von der anderen Richtung kommend, gute vierundzwanzig Stunden zuvor mit Polakowski aufgesucht hatte. Es war ein seltsames Gefühl, wieder in diesem Raum mit seinen sechs Becken zu stehen, das Wasser rauschen zu hören und den schmutzig-nassen Steinboden anzusehen. Hier hatte ich mich im Kampf mit Polakowski gewälzt – so kurze Zeit war es erst her, und doch schien es schon ganz unglaubhaft. Wie ein wilder Traum, der, solange man ihn träumte, völlig überzeugte, und der schon direkt nach dem Erwachen lächerlich grotesk anmutete. Aber ich hatte hier mit Polakowski gekämpft, es war kein Traum gewesen, und diesem abgefeimten Schurken gegenüber banden mich weder Rücksicht noch Wort.
Als wir darum wieder aus der Anstalt hinaustraten und schön sachte um die Stadt herum unter Vermeidung aller belebteren Straßen weitergingen, fasste ich mir ein Herz und erzählte dem Wachtmeister Schulze schön der Reihe nach alles, was ich mit Polakowski erlebt hatte, von meinem ersten Auftauchen nach meiner Flucht aus dem Arztauto in der von Wrasen[41] erfüllten Waschküche an bis zu meinem Kampf um Koffer und Geld in der Toilette. Der Wachtmeister Schulze hatte in seinem Beruf wohl manches von menschlichen Leidenschaften und Verirrungen erlebt, um noch viel über so etwas zu erstaunen, bei meiner Erzählung blieb er aber doch einige Male fast erregt stehen, sagte mehrfach lebhaft: »Donnerwetter, es ist nicht zu glauben.« – »Was Sie nicht sagen! Ist das wirklich wahr, Sommer?«, pfiff auch durch die Zähne.
Als ich dann geendet hatte und auf einen Empörungsausbruch über den Schurken Polakowski wartete, schwieg der Wachtmeister Schulze eine ganze Weile, und dann meinte er bedächtig, mich groß ansehend: »Ich kenne Sie ja eigentlich bloß vom Skat her, das heißt, ich kenne Sie gar nicht, aber ich habe Sie immer doch für einen vernünftigen und überlegten Geschäftsmann gehalten. Dass Sie – entschuldigen Sie, aber es ist die Wahrheit – ein so bodenloses Rindvieh sind, Sommer, das habe ich mir freilich nicht einmal im Traum eingebildet. Sie mögen es drehen und wenden, wie Sie wollen, es ist nicht nur der Suff gewesen, mit dem Suff allein können Sie so viel Doofheit nicht entschuldigen. Vom ersten Tage an haben Sie sehen müssen, was für ein Gauner der Kerl war, haben’s auch gesehen und sind doch nicht fortgegangen, wo man Sie in jedem kleinen Gasthof so viel hätte saufen lassen, wie Sie nur wollten. Nein, es ist Ihnen ganz recht geschehen, dass der Kerl Sie ausgenommen hat. Sie haben’s nicht besser verdient, und ich wollte nur, er hätte Ihnen auch noch die letzten tausend Mark abgenommen, da hätten Sie den Unfug in dem Gasthof nicht auch noch anstellen können …«
Der Wachtmeister holte Atem und sah mich strafend an, ich aber war über diese ganz unerwartete Wirkung meines Berichtes aufs Äußerste empört und sagte böse: »Darum habe ich Ihnen wirklich nicht die ganze Geschichte erzählt, damit Sie mir hier eine Moralpauke halten, Wachtmeister Schulze …«
»Herr Wachtmeister Schulze, bitte, Sommer!« verbesserte Schulze streng.
»Sondern ich dachte«, fuhr ich wütend fort, »dass Sie sich sofort Mühe geben würden, diesen Lumpen von Polakowski zu fangen …«
»So ist es richtig«, lachte der Wachtmeister spöttisch. »Erst stecken Sie in Ihrer Dummheit und Besoffenheit einem Verbrecher Ihr Hab und Gut direkt in die Hand, und dann schreien Sie nach der Polizei und verlangen, dass wir noch ach und weh schreien und Hals über Kopf hinter Ihren sieben Zwetschgen dreinlaufen sollen! Ich kann’s Ihnen nur noch einmal sagen: Sie haben es nicht besser verdient, und wenn Ihre arme Frau nicht wäre, die ja allein die Last Ihrer Dummheiten tragen muss, ich risse mir wirklich kein Bein um die Sache aus. Um Ihrer Frau willen, Sommer, wohlgemerkt, um Ihrer Frau willen werde ich aber, sobald ich Sie erst nach Nummer Sicher gebracht habe, dem Leutnant gleich Bericht machen, und es ist ja möglich, dass dieser Vogel noch nicht über alle Berge ist – so bald erwartet er uns vielleicht noch nicht.
Nun aber kommen Sie ein bisschen schnell, ich möchte Sie jetzt gerne bald abgeliefert haben, sonst machen Sie noch eine frische Dummheit. Von Ihnen kann man ja einfach alles erwarten. Du lieber Himmel! Nie in meinem Leben werde ich wieder auf eine solche Fassade reinfallen, wunder habe ich gedacht, was Sie für ein tüchtiger Kerl sind, aber wahrscheinlich hat alles die Frau gemacht. Wie soll die Ihnen je den Mist, den Sie da angerichtet haben, verzeihen!«
Damit gingen wir los und redeten auch kein einziges Wort mehr bis zum Amtsgericht; Schulze war wohl schon innerlich mit dem Bericht an den Leutnant beschäftigt, ich aber war wirklich tief gekränkt über all die Ungerechtigkeiten, die mir dieser subalterne Beamte ganz frech ins Gesicht gesagt hatte. Wenn der Mann nicht einsah, dass ich einfach krank gewesen war, als hilfloser Kranker einem Schurken ausgeliefert, so war ihm nicht zu helfen, dann war er der Dumme. Ich jedenfalls war es bestimmt nicht. Ich war nur krank gewesen, war es noch immer …
28
Ich hatte in meinem Geschäftsleben manches Mal mit dem Amtsgericht zu tun gehabt und kannte die Lokalitäten dort also ziemlich genau. Aber dort, wohin mich der Wachtmeister Schulze jetzt führte, war ich nie zuvor gewesen. Es ging durch das ganze Gerichtsgebäude durch (es ist mit dem Landgericht zusammengebaut) auf einen ziemlich engen inneren Hof, der auf einer Seite von einer hohen Steinmauer abgeschlossen war, auf den drei anderen aber von hohen Gebäuden; und das Gebäude, auf das wir gerade zugingen, hatte von oben bis unten nur kleine, fast quadratische Fensterlöcher, die alle mit starken Gittern geschützt waren.
›Dort oben werde ich also hausen, vielleicht Wochen und Wochen‹, dachte ich, und Angst überfiel mich. Jetzt hätte ich meinen Begleiter gerne vieles nach den Einrichtungen und Gewohnheiten eines solchen Gefängnisses gefragt, aber dafür war es nun zu spät: Schulze drückte auf einen Klingelknopf, eine große Eisentür tat sich auf, und ein blau Uniformierter begrüßte Schulze mit Handschlag und mich mit einem kühlen prüfenden Blick.
»Eine Einlieferung, Karl«, sagte Schulze. »Die Papiere kommen heute Nachmittag noch von der Staatsanwaltschaft.«
»Stellen Sie sich mal dahinten hin!«, sagte der Uniformierte zu mir, und ich stellte mich gehorsam an den mir befohlenen Fleck. Die beiden Uniformierten flüsterten miteinander und sahen dabei ein paarmal auf mich hin, einmal hörte ich auch das Wort »Mordversuch« – es schien aber keinen besonderen Eindruck zu machen.
Dann rief mir Schulze aus der Ferne zu: »Also halten Sie die Ohren steif, Sommer«, und die Tür schlug hinter ihm zu; er war in die Freiheit zurückgegangen, und mir war trotz allem, als hätte ich einen Freund verloren.
»Kommen Sie mal mit«, sagte der Uniformierte nachlässig und führte mich in eine Bürostube, in der aber niemand war. »Legen Sie mal alles hier auf den Tisch, was Sie in den Taschen haben!«
Ich tat es, es war wenig genug: ein Schlüsselbund, ein Taschenmesser, ein ziemlich schmutziges Taschentuch.
»Ist das alles, was Sie haben? Kein Geld? Na, dann halten Sie mal die Arme hoch.«
Ich tat es und wurde nun von oben bis unten abgefühlt, nach verborgenen Tascheninhalten vermutlich.
»Na gut«, sagte der blau Uniformierte dann. »Ich werde Sie erst einmal in die Elf legen, der Inspektor ist jetzt nicht hier, es ist Mittagspause.«
Ich fragte höflich, ob ich nicht auch ein Mittagessen haben könne. Ich habe noch keines bekommen.
»Essen ist vorbei«, antwortete er kühl. »Es ist nichts mehr da.«
»Aber ich habe auch kein Frühstück bekommen!«, rief ich erregt. Bisher war mein Hunger nach Essen nicht gerade sehr groß gewesen, jetzt aber merkte ich ihn gewaltig. Ich fühlte mich in meinen Rechten gekränkt: Auch ein Gefangener muss essen!
»Umso besser wird Ihnen das Abendessen schmecken«, antwortete er ungerührt. »Also kommen Sie!«
Er führte mich einen Gang entlang, durch ein Eisengitter hindurch, eine Treppe hinauf, durch eine eiserne Tür. Ich sah einen langen Gang, düster, mit vielen eisenbeschlagenen Türen, mit Riegeln und Schlössern, und wieder eine Treppe hinauf, wieder eine Eisentür – immer musste der Mann aufschließen und zuschließen und tat es so selbstverständlich … Mir aber legte es sich auf die Brust: Alle diese Türen, die jetzt zwischen mir und der Außenwelt lagen, sie brachten es mir so recht deutlich zu Bewusstsein, wie sehr ich gefangen war, wie schwer es wieder sein würde, in die Freiheit zu kommen. Vom ersten Augenblick an spürte ich die Wahrheit des Satzes, den ich später so oft im Gefängnis hörte: »Du kommst so leicht hinein und so schwer hinaus.«
Mein Führer war vor einer eisernen Tür stehen geblieben, die eine weiße »11« trug. Hier hinter also sollte ich hausen. Er schloss auf, und hinter der Tür zeigte sich eine zweite Tür. Auch sie wurde aufgeschlossen.
»Gehen Sie rein«, sagte mein Begleiter ungeduldig, und ich trat ein. Von einem schmalen Bett erhob sich eine gewaltige Gestalt, ein großer Mann erheblichen Umfangs, mit einer blonden Glatze und einer Brille.
»Ein bisschen Gesellschaft?«, fragte er. »Na, das ist schön. Woher kommst du denn?«
Ich war so verblüfft, dass ich in der Zelle einen Gefährten haben sollte, dass ich es erst viel später merkte: Der Schließer war gegangen und ich endgültig und unwiderruflich eingeschlossen.
»Setz dich man, da auf den Schemel«, sagte der Dicke. »Ich hau mich noch ein bisschen aufs Bett. Es ist zwar verboten, aber der Fermi sagt nichts. Fermi ist der, der dich eben raufgebracht hat.«
Ich setzte mich auf den Schemel und starrte den auf dem Bett liegenden Mann an. Er trug Zivil wie ich, einen einstmals wohl sehr eleganten Anzug von einem guten Schneider, der jetzt aber recht zerdrückt und auch fleckig war.
»Sind Sie auch ein Gefangener?«, fragte ich schließlich.
»Das will ich meinen!« lachte der Dicke. »Denkst du, ich sitze hier zur Erholung in diesem Bunker? Übrigens kannst du ruhig ›du‹ zu mir sagen, wir nennen uns hier alle ›du‹. – Ja«, fuhr er fort und reckte sich stöhnend, »ich sitze hier schon elf Wochen im Bau, aber denkst du, ich habe schon eine Anklage? Nicht die Bohne! Die Brüder lassen sich Zeit, ihretwegen kannst du hier verfaulen und verschimmeln, deswegen gehen die nicht einen Schritt schneller. Was hast du denn ausgefressen?«
»Der Staatsanwalt hat mich wegen Mordversuch an meiner Frau verhaftet«, antwortete ich mit bescheidenem Stolz. Und setzte schnell hinzu: »Aber das stimmt nicht. Davon ist kein Wort wahr.«
Wieder lachte der Dicke. »Natürlich ist es nicht wahr«, lachte er. »Hier drin sitzen überhaupt nur Unschuldige – wenn du die Leute fragst.«
»Bei mir ist es aber wirklich wahr«, versicherte ich. »Ich habe meine Frau nie ermorden wollen, wir haben uns nur ein bisschen gestritten.«
»Na ja«, sagte der Dicke. »Mit der Zeit wirst du dir schon die Brust freiquasseln; jeder, der das Sitzen nicht gewohnt ist, fängt mit der Zeit an zu quasseln. Pass dann nur auf, mit wem du redest, die meisten wollen sich lieb Kind beim Inspektor machen, hinterbringen ihm alles – und schon bist du drin.« Er sah mich aus seinen kleinen Augen zwischen Fettwülsten hindurch treuherzig an und meinte: »Bei mir aber kannst du offen reden, ich bin eine Seele von einem Menschen, ich bin stiekum.«
»Was sind Sie?«
»Stiekum, das sagt man hier für Dichthalten. Ich quatsche nicht, verstehst du?«
»Ich habe aber wirklich nichts zu gestehen«, versicherte ich wieder.
»Na, das werden wir ja noch erleben«, sagte der Dicke gemütlich. »Vielleicht hast du Schwein, und der Untersuchungsrichter ist deiner Meinung und erlässt keinen Haftbefehl gegen dich.«
»Ich bin doch schon vom Staatsanwalt selbst verhaftet.«
»Das hat gar nichts zu sagen«, belehrte mich der Dicke. »Erst kommst du morgen oder übermorgen vor den Untersuchungsrichter. Der vernimmt dich, und wenn er deiner Ansicht ist, bist du wieder frei …«
»Und das stimmt wirklich?«, fragte ich aufgeregt. »Ich kann noch freikommen?«
»Natürlich kannst du das, aber oft ereignet sich das nicht gerade. Na, wir werden es ja erleben.« Und er dehnte sich wieder behaglich.
Mich berauschte die Aussicht auf die vielleicht nahe Freiheit, ich stand auf und lief gedankenvoll in der Zelle hin und her. Wenn Magda günstig für mich aussagte, würde ich freikommen. Und sie würde günstig für mich aussagen, ich fühlte das. Und selbst wenn sie noch zornig auf mich war, nie konnte sie sagen, dass ich sie hätte ermorden wollen. Das hatte ich nie gewollt. Dunkel kam mir in Erinnerung, dass ich etwas gesagt hatte wie: »Heute Nacht komme ich und ermorde dich«, aber das war doch nur betrunkenes Gerede gewesen, das galt nicht.
»Höre mal«, sagte der Dicke, »renne mal nicht so in der Zelle hin und her, damit machst du mich nervös! Setz dich mal ruhig dort auf den Schemel, nimm aber erst das Kissen runter, es ist nämlich mein Privatkissen. Auf deine Falle kannst du dich noch nicht legen, deinen Strohsack bringt dir der Olle erst heute Abend. Gott, wie mich dieser Stall ankotzt!« Damit gähnte der Dicke herzhaft, ließ einen Fürchterlichen fahren – ich fuhr erschrocken zusammen –, stöhnte: »Das hat aber gutgetan!«, und war auch gleich eingeschlafen.
Ich aber will nicht länger in solcher Breite die ersten Tage meiner Untersuchungshaft erzählen. Sie waren so qualvoll, dass ich eines Nachts leise aufstand, an den Schrank des Dicken ging und aus seinem Rasierapparat die Klinge nahm: Ich wollte mir den Hals durchschneiden. Nur brachte ich nachher doch den Mut dazu nicht auf. Ich hatte probeweise erst einen Schnitt am Handgelenk getan, der nur wenig blutete, mich aber beruhigte. Der Wille zum Leben siegte, und ich tat die Klinge noch in der gleichen Nacht in den Apparat zurück.
Im Ganzen aber ging meine Entwöhnung vom Alkohol leichter, als ich erwartet hatte. Ich war eben doch noch kein richtiger Trinker gewesen, hatte erst kurze Zeit mich dem Schnaps ausgeliefert und nie weiße Mäuse laufen sehen. Viel half mir bei dieser Entwöhnung, dass ich mich schon den dritten oder vierten Tag freiwillig zur Arbeit meldete. Ich hielt das tatenlose, grübelnde Herumsitzen in der Zelle und vor allem die Gesellschaft des Dicken, der übrigens Düstermann hieß, nicht aus. Ich glaube, ich hätte ihn umgebracht, wäre ich gezwungen gewesen, alle Tage vierundzwanzig Stunden in seiner Gesellschaft zuzubringen.
Er war nichts wie ein Vieh; ein unverhüllt egoistischerer Mensch ist mir nie vorgekommen. Er hatte sich alle Erleichterungen, die das Gesetz dem Untersuchungshäftling zugesteht, verschafft: hatte auf dem harten Strohsack Decken und Kissen, bekam regelmäßig zu rauchen und Fresspakete, gab aber nie auch nur das geringste ab. In den ersten Tagen, da ich noch kein eigenes Waschzeug auf der Zelle hatte, verbot er mir sogar die Benutzung seines Kammes. Nicht einmal seinen Spiegel durfte ich in die Hand nehmen, und nur widerwillig erlaubte er mir, von seinen alten Zeitungen ein Blatt als Klosettpapier zu benutzen.
»Nee, nee, Sommer«, sagte er dann wohl, »hier heißt’s: ›Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!‹ Wie komme ich dazu, für dich zu sorgen? In was sorgst du denn für mich? Bloß nervös machst du mich.«
Das war auch so ein Punkt, der mich rasend machen konnte: Alles, was ich tat, machte Düstermann nervös. Ich durfte nicht in der Zelle auf und ab gehen; drehte ich mich nachts auf dem Strohsack rum, so schimpfte er über Ruhestörung; wollte ich einmal das kleine Fensterloch öffnen, so schrie er, er verkühle sich die Glatze, und wir mussten weiter in Hitze und Gestank hocken. Er aber erlaubte sich alles. Er fraß sinnlos die Fresspakete auf, die seine Frau zweimal wöchentlich für ihn ablieferte, saß den Tag sechsmal auf dem Kübel, furzte ständig mit einer wahren Wollust und schnarchte nachts so laut und andauernd, dass ich viele Stunden lang wach liegen musste, den trübsten Gedanken ausgeliefert. Wenn ich je einen Menschen aus meines Herzens tiefstem Grunde gehasst habe, so war es Düstermann.
Ich habe mir oft überlegt, wie ein solches Vieh unbeanstandet draußen in der Freiheit hat leben und sogar eine Ehe hat führen können, in der die Frau auch jetzt noch zu ihm hielt. Ich sagte mir dann nach einigem Nachdenken, dass Düstermann draußen wohl einen jener vitalen, genussfreudigen, anscheinend zutraulichen dicken Geschäftsleute gespielt hat, die von den Leuten mit lächelndem Wohlwollen betrachtet werden. Sicher hat er sich nicht so gehen lassen wie bei mir in der Zelle, aber ich war eben auch nur ein Kittchenbruder, und bei mir kam es nicht mehr darauf an. Ich habe in späterer langer Leidenszeit mit sehr viel einfacheren Leuten, als es Düstermann war, zusammengelegen, mit Arbeitern, ja mit Stromern, aber keiner hat sich so gemein gehen, so unverhüllt allen seinen Trieben ihren Lauf gelassen wie dieser Düstermann.
Von Beruf war er nichts als Häuserbesitzer, er war der Sohn eines reichen, längst verstorbenen Vaters, der ihm eine Reihe stattlicher Zinshäuser und andere Liegenschaften hinterlassen hatte. Mit der Verwaltung dieses Grundbesitzes hatte Düstermann bisher sein Leben verbracht. Und bei der Verwaltung dieses Besitzes war ihm dann auch jenes Missgeschick passiert, das ihn in das Gefängnis führte und mir zum Zellengenossen gab. Da er auch draußen sich alles, anderen aber nichts gönnte, und jede Freiheit für sich in Anspruch nahm, hatte er eines seiner Zinshäuser, dessen baufälliger Zustand ihn schon lange geärgert hatte, höchstpersönlich angesteckt, um mit der hohen Versicherungssumme die Neubaukosten zu decken. Bei dem Brande war eine Frau mit ihrem Kinde ums Leben gekommen.
»Das dumme Luder!«, konnte Düstermann wohl schimpfen. »Konnte sie nicht rechtzeitig rauslaufen wie alle anderen?! Aber nein, das dämliche Aas musste ja erst irgendwelchen Dreck in einen Koffer stecken, und dann machte ihr der Rauch die Flucht unmöglich. Was kann ich für die Dummheit von der Ollen?
Der Staatsanwalt will mir natürlich einen Strick daraus drehen! Aber da kennt er Düstermann schlecht. Die besten Anwälte habe ich mir genommen, und geht alles schief, lasse ich mir den § 51 geben, bin geisteskrank und lebe als Rentier in irgendeiner hübschen Klapsmühle.« Seine Schuld an dieser Brandstiftung gab Düstermann ganz offen zu. »Ja, Mensch, wozu soll ich denn lügen? Sie haben mich doch mit der Petroleumkanne in der Hand geschnappt! Da hat Leugnen doch keinen Zweck! Ja, wenn ich in der Lage wie du wäre, würde ich auch leugnen bis zum Verrecken – aber so – bin ich eben geisteskrank!« Er lachte dröhnend.
»Im Grunde«, fuhr er wohl fort und bemitleidete sich dabei selbst, »hat mich bloß meine Gutmütigkeit dazu gebracht. Ich bin eben einfach ein gutmütiger Dussel. Ich konnte es nicht sehen, dass die Leute weiter in einer so baufälligen, verwanzten Baracke hausten. Anständige Wohnungen wollte ich ihnen schaffen – und das habe ich nun von meiner Gutmütigkeit!«
Dieser Düstermann also machte es, dass ich mich freiwillig zur Arbeit meldete, und seines beißenden Hohnes war ich dabei sicher. Wenn ich abends von der Arbeit in die Zelle zurückkam, mit müden Knochen, aber doch friedlicher im Herzen, so begrüßte er mich etwa so: »Da kommt ja der Musterknabe! Na, hast du fleißig gearbeitet? Hast dich bei dem Schwein von Inspektor beliebt gemacht? Du wirst dich schön geschnitten haben! Der Staatsanwalt schickt dich deshalb doch genauso lange ins Kittchen, wie wenn du hier ruhig in der Zelle sitzen bliebest! Solche Arschkriecher wie du verderben das ganze Kittchen. Solche wie du erreichen es noch, dass für uns alle die Arbeit als Pflicht eingeführt wird! Aber warte, ich besorge es dir schon noch!«










