Hans Fallada – Gesammelte Werke

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»Junge, Junge, die haben wohl ihren ganzen Wäscheladen mitgenommen!«, hat Enno ganz überwältigt gesagt.
»Red nicht, hilf lieber!«, ist des Barkhausen Antwort gewesen. »Bestimmt ist hier noch Schmuck versteckt und Geld – das sind doch reiche Leute gewesen, die Rosenthals, Millionäre sind die gewesen –, und du hast von faulen Fischen geredet, Ochse, der du bist!«
Eine Weile haben die beiden schweigend gearbeitet, das heißt, sie haben immer mehr auf die Erde gerissen, und die hat mit Kleidern und Wäsche und Gerät schon so voll gelegen, dass sie mit ihren Schuhen drauf rumgetreten sind. Dann hat Enno, der vom Schnaps ganz benommen war, gesagt: »Ich seh nichts mehr. Ich muss mir erst ’nen klaren Kopf trinken. Hol mal ein bisschen Kognak aus der Speisekammer, Emil!«
Der Barkhausen ist ohne Widerrede gegangen und mit zwei Flaschen Schnaps zurückgekommen, und da haben sie sich denn einträchtig zusammen auf die Wäsche gesetzt, haben einen Schluck um den anderen getrunken und den ganzen Fall ernsthaft und gründlich diskutiert.
»Das ist ja klar, Barkhausen, den ganzen Kram kriegen wir so schnell nicht weg, und zu lange wollen wir hier auch nicht sitzen. Ich denke, jeder von uns nimmt sich zwei Koffer, und damit hauen wir erst mal ab. Ich denke, morgen Abend kommt wieder ’ne andere Nacht!«
»Recht haste, Enno, zu lange will ich hier nicht sitzen, schon wegen der Persickes.«
»Wer ist denn das?«
»Ach, so Leute … Aber wenn ich denke, ich haue mit zwei Koffern voll Wäsche ab und lasse hier einen Koffer mit Geld und Schmuck stehen, dann möchte ich mir selbst den Kopf abbeißen. Ein bisschen musste mich noch suchen lassen. Prost, Enno!«
»Prost, Emil! Warum sollste nich noch ein bisschen suchen? Die Nacht ist lang, und wir bezahlen die Lichtrechnung doch nicht. Aber was ich dich fragen wollte: Wo willst du denn mit deinen Koffern hin?«
»Wieso? Was meinste denn damit, Enno?«
»Na, wo du die hinbringen willst? Wohl in deine Wohnung?«
»Na, denkste, ich schaff sie aufs Fundamt? Klar schaff ich die in meine Wohnung, bei meine Otti. Und morgen früh nischt wie ab damit in die Münzstraße und die ganze Sore verscheuert, damit der Vogel wieder zwitschert!«
Enno ließ den Korken am Flaschenhals zwitschern. »Hör mal lieber, wie der Vogel zwitschert! Prost, Emil! Ich, wenn ich du wäre, ich machte das nicht wie du, in die Wohnung und überhaupt bei die Frau – was braucht die Frau von deinen Nebeneinnahmen zu wissen? Nein, ich, wenn ich du wäre, ich machte es wie ich, nämlich, ich gäbe die Koffer auf dem Stettiner in die Gepäckaufbewahrung, und den Hinterlegungsschein, den schickte ich mir selbst, aber postlagernd. Dann könnte nie was bei mir gefunden werden, und keiner könnte mir was beweisen.«
»Das hast du dir nicht unflott ausgedacht, Enno«, sagte Barkhausen beifällig. »Und wann holste dir den Kram wieder?«
»Na, wenn die Luft wieder rein ist, Emil, denn doch!«
»Und wovon lebste so lange?«
»Na, ich hab dir doch gesagt, ich gehe bei die Tutti. Wenn ich der erzähle, was ich für ’n Ding gedreht habe, nimmt sie mich liebend mit beiden Backen auf!«
»Gut, sehr gut!«, stimmte Barkhausen zu. »Und wenn du auf den Stettiner gehst, mach ich auf den Anhalter. Weißte, das fällt weniger auf!«
»Auch nicht schlecht ausgedacht, Emil, hast auch ein helles Köpfchen!«
»Man kommt unter Leute«, sagte Barkhausen bescheiden. »Man hört dies und das. Der Mensch ist wie ’ne Kuh, er lernt immer noch zu.«
»Recht haste! Na, denn prost, Emil!«
»Prost, Enno!«
Eine Weile lang betrachteten sie sich schweigend, mit wohlgefälligem Auge und nahmen ab und zu einen. Dann sagte Barkhausen: »Wenn du dich umdrehst, Enno, es braucht aber nicht gleich sein, hinter dir steht ein Radio, der hat mindestens seine zehn Röhren. Den möchte ich mir gerne einpacken.«
»Das mach, das tu, Emil! Radio ist immer gut, zum Behalten und zum Verkaufen! Immer ist Radio gut!«
»Na, denn wollen wir mal sehen, ob wir das Ding in einen Koffer verstauen können, und dann stopfen wir Wäsche rundherum.«
»Soll das gleich sein, oder trinken wir noch einen vorher?«
»Einen können wir vorher noch genehmigen, Enno. Aber nur einen!«
Also genehmigten sie einen und einen zweiten und einen dritten, und dann kamen sie langsam auf die Beine und mühten sich damit ab, einen großen Zehnröhren-Radioapparat in einen Handkoffer zu packen, der einen Volksempfänger gefasst hätte. Nach einer Weile angestrengten Arbeitens sagte Enno: »Es geht nich und es geht nich! Lass den ollen Scheißradio doch sein, Emil, nimm lieber ’nen Koffer mit Anzügen!«
»Meine Otti hört aber gerne Radio!«
»Ich denke, du willst deiner Ollen von dem ganzen Geschäft nichts erzählen? Du bist ja blau, Emil!«
»Und du und deine Tutti? Ihr seid ja alle beide blau! Wo haste denn deine Tutti?«
»Die zwitschert! Ich sage dir, und wie die zwitschert!« Und er lässt wieder den feuchten Korken am Flaschenhals zwitschern. »Nehmen wir noch einen!«
»Prost, Enno!«
Sie trinken, und Barkhausen fährt dann fort: »Aber den Radio, den möchte ich doch mitnehmen. Wenn das olle Dings durchaus nicht in den Koffer rein will, häng ich mir den Kasten mit einem Strick vor die Brust. Dann habe ich die Hände immer noch frei.«
»Das mach, Mensch. Na, denn wollen wir mal zusammenpacken!«
»Ja, das wollen wir. Wird Zeit!«
Aber sie bleiben beide stehen und starren einander blöde grinsend an.
»Wenn man denkt«, fängt Barkhausen dann wieder an, »es ist doch ein schönes Leben. All diese guten Sachen hier«, er nickt mit dem Kopf, »und wir können uns nehmen, was wir wollen, und tun noch direkt ein gutes Werk, wenn wir’s so ’ner Jüdschen fortnehmen, die doch alles gestohlen hat …«
»Da haste recht, Emil – ein gutes Werk tun wir, am deutschen Volk und unserm Führer. Das sind die guten Zeiten, wo er uns versprochen hat.«
»Und unser Führer hält Wort, der hält Wort, Enno!«
Sie betrachten sich gerührt, Tränen in den Augen.
»Was macht ihr denn hier, ihr beide?«, klingt eine scharfe Stimme von der Tür her.
Sie fahren zusammen und erblicken einen kleinen Burschen in brauner Uniform.
Dann nickt Barkhausen dem Enno langsam und traurig zu: »Das ist der Herr Baldur Persicke, von dem ich dir gesagt habe, Enno! Jetzt kommen die Schwierigkeiten!«
8. Kleine Überraschungen
Während die beiden Betrunkenen so miteinander sprechen, hat sich der ganze männliche Teil der Familie Persicke in der Stube versammelt. Zunächst dem Enno und Emil steht der kleine, drahtige Baldur, die Augen funkelnd hinter der scharf geschliffenen Brille, kurz hinter ihnen die beiden Brüder in ihren schwarzen SS-Uniformen, aber ohne Mützen, und nahe der Tür, als traue er dem Frieden nicht ganz, der alte Exkneipier Persicke. Auch die Familie Persicke ist alkoholisiert, aber bei ihr hat der Schnaps eine wesentlich andere Wirkung gehabt als bei den beiden Einbrechern. Sie sind nicht rührselig, dumm und vergesslich geworden, sondern die Persickes sind noch schärfer, noch gieriger, noch brutaler als in ihrem Normalzustand.
Baldur Persicke fragt scharf: »Nun, wird’s bald? Was macht ihr beide hier? Oder ist das etwa eure Wohnung?«
»Aber, Herr Persicke!«, sagt Barkhausen mit klagender Stimme.
Baldur tut, als erkenne er den Mann erst jetzt. »Aber das ist ja der Barkhausen aus der Kellerwohnung im Hinterhaus!«, ruft er ganz erstaunt seinen Brüdern zu. »Aber, Herr Barkhausen, was machen Sie denn hier?« Sein Erstaunen wandelt sich in Spott. »Wär’s nicht besser, Sie kümmerten sich – zumal mitten in der Nacht – ein bisschen um ihre Frau, das gute Ottichen? Ich habe so was gehört, es werden da Feste mit besseren Herren gefeiert, und Ihre Kinder sollen noch am späten Abend betrunken auf dem Hof herumgetorkelt sein. Bringen Sie die Kinder zu Bett, Herr Barkhausen!«
»Schwierigkeiten!«, murmelt der. »Ich hab’s gleich gewusst, wie ich die Brillenschlange sah: Schwierigkeiten.« Er nickt Enno noch einmal traurig zu.
Enno Kluge steht ganz blöde da. Er schwankt leise auf seinen Füßen hin und her, hält die Kognakbuddel in der schlaff niederhängenden Hand und versteht kein Wort von dem, was gesprochen wird.
Barkhausen wendet sich wieder an Baldur Persicke. Sein Ton ist nicht mehr so klagend wie anklagend, er ist plötzlich tief gekränkt. »Wenn meine Frau was tut, was nicht recht ist«, sagt er, »so verantworte ich das, Herr Persicke. Ich bin der Gatte und Vater – nach dem Gesetz. Und wenn meine Kinder besoffen sind, Sie sind auch besoffen, und Sie sind auch noch ein Kind, jawohl, das sind Sie, Mensch!«
Er sieht Baldur zornig an, und Baldur starrt funkelnd zurück. Dann macht er seinen Brüdern ein unmerkliches Zeichen, sich bereitzuhalten.
»Und was machen Sie hier in der Wohnung von der Rosenthal?«, fragt der jüngste Persicke dann scharf.
»Aber ganz nach Verabredung!«, versichert Barkhausen jetzt eifrig. »Alles wie verabredet. Ich und mein Freund, wir gehen jetzt gleich. Wir wollten eigentlich schon gehen. Er auf den Stettiner; ich auf den Anhalter. Jeder zwei Koffer, für Sie bleibt genug.«
Er murmelt die letzten Worte nur, er ist halb im Eindösen.
Baldur betrachtet ihn aufmerksam. Es geht vielleicht ohne alle Gewalttätigkeit, die beiden Kerls sind ja so blöde besoffen. Aber seine Vorsicht warnt ihn. Er fasst den Barkhausen bei der Schulter und fragt scharf: »Und was ist das für ein Mann? Wie heißt der?«
»Enno!«, antwortet Barkhausen mit schwerer Zunge. »Mein Freund Enno …«
»Und wo wohnt dein Freund Enno?«
»Weiß ich nicht, Herr Persicke. Nur aus der Kneipe. Stehbierfreund. Lokal: ›Ferner liefen‹ …«
Baldur hat sich entschieden. Er stößt plötzlich dem Barkhausen die Faust gegen die Brust, dass der mit einem leisen Schrei hinterrücks auf die Möbel und die Wäsche fällt. »Schwein verfluchtes!«, brüllt er. »Wie kannst du zu mir Brillenschlange sagen? Ich werde dir zeigen, was ich für ein Kind bin!«
Aber sein Schimpfen ist schon nutzlos geworden, die beiden hören ihn nicht mehr. Die beiden SS-Brüder sind schon zugesprungen und haben jeden mit einem brutal geführten Schlag erledigt.
»So!«, sagt Baldur befriedigt. »In einer kleinen Stunde liefern wir die beiden als ertappte Einbrecher bei der Polizei ab. Unterdes räumen wir runter, was wir gebrauchen können. Aber leise auf den Treppen! Ich habe so gelauscht, aber ich habe nicht gehört, dass der alte Quangel von seiner Spätschicht nach Haus gekommen ist.«
Die beiden Brüder nicken. Baldur sieht erst auf die betäubten, blutigen Opfer, dann auf all die Koffer, die Wäsche, den Radioapparat. Plötzlich lächelt er. Er wendet sich zum Vater: »Na, Vater, wie habe ich das Dings gedreht? Du mit deiner ewigen Angst! Siehst du …«
Aber er spricht nicht weiter. In der Tür steht nicht, wie erwartet, der Vater, sondern der Vater ist verschwunden, spurlos weg. Statt seiner steht dort der Werkmeister Quangel, dieser Mann mit dem scharfen, kalten Vogelgesicht, und sieht ihn mit seinen dunklen Augen schweigend an.
Als Otto Quangel von seiner Spätschicht nach Haus ging – er hatte, obwohl es wegen des Rückstandes sehr spät geworden war, keine Elektrische genommen, den Groschen konnte er sparen –, da hatte er, vor dem Hause angekommen, gesehen, dass trotz des Verdunklungsbefehls in der Wohnung der Frau Rosenthal Licht brannte. Und bei näherem Zusehen hatte er festgestellt, dass auch bei den Persickes und darunter bei Fromm Licht war, es schimmerte an den Rändern der Rouleaus. Beim Kammergerichtsrat Fromm, von dem man nicht genau wusste, ob er 33 seines Alters oder der Nazis wegen in Pension gegangen war, brannte eigentlich stets die halbe Nacht Licht, bei dem war es nicht verwunderlich. Und Persickes feierten wohl noch immer den Sieg über Frankreich. Aber dass die alte Rosenthal Licht brannte und das offen in allen Fenstern, da stimmte etwas nicht. Die alte Frau war so ängstlich und verschüchtert, die würde nie ihre Wohnung so illuminieren.
Da stimmt was nicht!, dachte Otto Quangel, während er die Haustür aufschloss und langsam anfing, die Treppen hinaufzusteigen. Er hatte es wie immer unterlassen, das Licht einzuschalten, er war nicht nur für sich sparsam, das heißt genau. Er war es für alle, auch für den Hauswirt. Da stimmt was nicht! Aber was geht es mich an? Die Leute gehen mich gar nichts an! Ich lebe für mich allein. Mit der Anna. Nur wir beide. Außerdem macht vielleicht die Gestapo da oben grade Haussuchung. Hübsch, wenn ich da reinplatze! Nein, ich gehe schlafen …
Aber der durch den Vorwurf ›Du und dein Hitler‹ so verstärkte Sinn für Genauigkeit, den man fast schon Gerechtigkeitssinn nennen konnte, fand dies Ergebnis seiner Überlegungen doch recht dürftig. Er stand jetzt wartend, die Schlüssel in der Hand, vor seiner Wohnungstür, den Kopf nach oben gedreht. Die Tür musste dort offenstehen, es war eine dämmrige Helle da oben, auch hörte er eine scharfe Stimme sprechen. Eine alte Frau ganz für sich allein, dachte er plötzlich zu seiner eigenen Überraschung. Ohne jeden Schutz. Ohne Gnade …
In diesem Augenblick war es, dass eine kleine, doch kräftige Männerhand ihn aus dem Dunkel heraus an der Brust fasste und gegen die Treppe hindrehte. Eine sehr höfliche, gepflegte Stimme sagte dazu: »Gehen Sie bitte voraus, Herr Quangel. Ich folge und tauche im passenden Augenblick auf.«
Ohne zu zögern, ging Quangel nun die Treppe hinauf, eine solche überredende Gewalt hatte in dieser Hand und in dieser Stimme gelegen. Das kann nur der alte Rat Fromm gewesen sein, dachte er. So ein Heimlicher. Ich glaube, ich habe ihn in all den Jahren, die ich hier wohne, keine zwanzigmal bei Tage gesehen, und nun kriecht er hier zur Nachtzeit auf den Treppen herum!
Während er so dachte, war er, ohne zu zögern, die Treppen hinaufgestiegen und in der Rosenthal’schen Wohnung angelangt. Er hatte noch gesehen, wie sich bei seinem Erscheinen eine dickliche Gestalt – wohl der alte Persicke – überstürzt in die Küche zurückzog, er hatte auch noch die letzten Worte Baldurs gehört von dem Ding, das gedreht worden war, und dass man nicht ewig Angst haben sollte … Nun standen sich die beiden, Quangel und Baldur, schweigend Auge in Auge gegenüber.
Einen Augenblick glaubte selbst Baldur Persicke alles verloren. Aber dann besann er sich auf einen seiner Lebensgrundsätze: Frechheit siegt, und sagte etwas herausfordernd: »Ja, da staunen Sie! Aber Sie sind ein bisschen zu spät gekommen, Herr Quangel, wir haben die Einbrecher erwischt und unschädlich gemacht.« Er machte eine Pause, aber Quangel schwieg. Etwas matter setzte Baldur hinzu: »Einer von den beiden Raben scheint übrigens der Barkhausen zu sein, der hier bei uns auf dem Hofe eine Nuttenwirtschaft duldet.«
Quangels Blick folgte Baldurs weisendem Finger. »Ja«, sagte er trocken, »einer von den Raben ist der Barkhausen.«
»Und überhaupt«, ließ sich plötzlich ganz unerwartet der SS-Bruder Adolf Persicke vernehmen, »was stehen Sie hier und starren bloß? Sie könnten ganz ruhig auf das Revier gehen, Quangel, und den Einbruch melden, damit die hier die Brüder abholen! Wir passen unterdes auf!«
»Stille biste, Adolf!«, zischte Baldur ärgerlich. »Du hast dem Herrn Quangel gar keine Befehle zu geben! Herr Quangel weiß schon, was er zu tun hat.«
Aber gerade das wusste Quangel in diesem Augenblick nicht. Wäre er für sich allein gewesen, er hätte sofort einen Entschluss gefasst. Aber da war diese Hand an seiner Brust, diese höfliche Männerstimme gewesen; er ahnte nicht, was der alte Kammergerichtsrat vorhatte, was er von ihm erwartete. Er wollte ihm sein Spiel nicht verderben. Wenn er nur wüsste …
Aber gerade in diesem Augenblick tauchte der alte Herr auf der Bildfläche auf, nicht, wie Quangel erwartet hatte, neben ihm, sondern aus dem Innern der Wohnung kommend. Plötzlich stand er wie eine Geistererscheinung zwischen ihnen und jagte den Persickes einen neuen, noch größeren Schrecken ein.
Er sah übrigens höchst seltsam aus, der alte Herr. Die zierliche, kaum mittelgroße Gestalt war ganz in einen seidenen schwarzblauen Schlafrock gehüllt, dessen Kanten mit roter Seide eingefasst waren und der mit großen roten Holzknöpfen geschlossen war. Der alte Herr trug einen eisgrauen Kinnbart und einen stark gestutzten weißen Bart auf der Oberlippe. Das sehr dünne, noch bräunliche Kopfhaar war sorgfältig über den bleichen Schädel frisiert, konnte aber die Blöße nicht ganz verdecken. Hinter der schmalen goldgefassten Brille funkelten vergnügte, spöttische Augen zwischen tausend Fältchen.
»Nein, meine Herren«, sagte er zwanglos und schien dadurch eine längst begonnene und alle höchst befriedigende Unterhaltung fortzusetzen. »Nein, meine Herren, Frau Rosenthal ist nicht in der Wohnung. Aber vielleicht bemüht sich einer der jungen Herren Persicke einmal auf die Toilette. Ihr Herr Vater scheint nicht ganz wohl zu sein. Jedenfalls versucht er ständig, sich mit einem Handtuch dort aufzuhängen. Ich konnte ihn nicht davon abbringen …«
Der Kammergerichtsrat lächelt, aber die beiden älteren Persickes verlassen so überstürzt das Zimmer, dass es schon fast komisch anmutet. Der junge Persicke ist jetzt sehr blass und ganz nüchtern geworden. Der alte Herr, der da eben das Zimmer betreten hat und der mit solcher Ironie spricht, das ist ein Mann, dessen Überlegenheit sogar Baldur ohne weiteres anerkennt. Der tut nicht nur überlegen, der ist es wirklich. Baldur Persicke sagt fast bittend: »Verstehen Sie, Herr Kammergerichtsrat, Vater ist, gradeheraus gesagt, völlig besoffen. Die Kapitulation von Frankreich …«
»Ich verstehe, ich verstehe vollkommen«, sagt der alte Rat und macht eine beschwichtigende Handbewegung. »Wir sind alle Menschen, nur, dass wir uns nicht gleich alle aufhängen, wenn wir betrunken sind.« Er schweigt einen Augenblick und lächelt. Er sagt: »Er hat natürlich auch alles Mögliche geredet, aber wer achtet schon auf das Geschwätz eines Betrunkenen?« Wieder lächelt er.
»Herr Kammergerichtsrat!«, sagt Baldur Persicke flehend. »Ich bitte Sie, nehmen Sie diese Sache in die Hand! Sie sind Richter gewesen, Sie wissen, was zu geschehen hat …«
»Nein, nein«, sagt der Rat entschieden ablehnend. »Ich bin alt und krank.« Er sieht aber gar nicht so aus. Im Gegenteil: blühend sieht er aus. »Und dann lebe ich ganz zurückgezogen, ich habe kaum noch Verbindung mit der Welt. Aber Sie, Herr Persicke, Sie und Ihre Familie, Sie sind es doch, die die beiden Einbrecher überrascht haben. Sie übergeben sie der Polizei, Sie stellen das Gut hier in der Wohnung sicher. Ich habe mir bei meinem raschen Rundgang eben einen kleinen Überblick verschafft. Ich habe zum Beispiel siebzehn Koffer und einundzwanzig Kisten gezählt. Und anderes mehr. Und anderes mehr …«
Er hat immer langsamer geredet. Immer langsamer. Nun sagt er leicht: »Ich könnte mir denken, dass die Ergreifung der beiden Einbrecher Ihnen und Ihrer Familie noch Ruhm und Ehre eintragen wird.«
Der Kammergerichtsrat schweigt. Baldur steht sehr nachdenklich da. So kann man es auch machen – was für ein alter Fuchs der Fromm da ist! Er durchschaut bestimmt alles, sicher hat der Vater gequatscht, aber er will seine Ruhe haben, er will nichts von dieser Sache wissen. Von ihm droht keine Gefahr. Und Quangel, der alte Werkmeister? Der hat sich nie um jemanden im Haus gekümmert, der hat nie jemanden gegrüßt, nie mit einem ein Wort gesprochen. Der Quangel ist so ein richtiger alter Arbeiter, ausgemergelt, ausgepumpt, der hat keinen eigenen Gedanken mehr im Kopf. Der macht sich bestimmt nicht unnötig Scherereien. Der ist erst recht gefahrlos.
Bleiben die beiden blöden Besoffenen, die da liegen. Natürlich kann man sie der Polizei übergeben und alles ableugnen, was der Barkhausen etwa über Anstiftung erzählt. Dem werden sie bestimmt keinen Glauben schenken, wenn er gegen Angehörige der Partei, der SS und der HJ aussagt. Und dann den ganzen Fall der Gestapo melden. Da bekommt man vielleicht ganz legal einen Teil dieser Sachen, die man sonst nur illegal und unter Gefahr an sich bringen könnte. Und hätte außerdem Anerkennung dazu.
Ein verlockender Weg. Aber vielleicht ist der andere doch noch besser, erst einmal alles auf sich beruhen zu lassen. Den Barkhausen und diesen Enno verpflastern und mit ein paar Mark losschicken. Die reden bestimmt nicht. Die Wohnung abschließen, wie sie ist, ob die Rosenthal nun zurückkommt oder nicht. Vielleicht ist später was zu machen – er hat das ziemlich sichere Gefühl, der Kurs gegen die Juden wird noch schärfer. Abwarten und Tee trinken. In einem halben Jahr kann man vielleicht schon Sachen machen, die heute noch nicht gehen. Jetzt haben sie, die Persickes, sich ein bisschen viel Blößen gegeben. Man wird nicht grade gegen sie vorgehen, aber man wird in der Partei über sie klatschen. Sie werden nicht mehr als ganz zuverlässig gelten.
Baldur Persicke sagt: »Ich möchte beinahe die beiden Kerle laufenlassen. Sie tun mir leid, Herr Kammergerichtsrat, es sind doch bloß kleine Kläffer.«
Er sieht sich um, er ist allein. Sowohl der Kammergerichtsrat wie der Werkmeister sind gegangen. Wie er es sich gedacht hat: sie wollen nichts mit der Sache zu tun haben. Das Schlaueste, was man tun kann. Er, Baldur, wird es nicht anders machen, und wenn die Brüder noch so sehr schimpfen.
Mit einem tiefen Seufzer, der all den schönen Sachen gilt, die er aufgeben muss, schickt sich Baldur an, in die Küche zu gehen, den Vater zur Besinnung und die Brüder zum Verzicht auf schon Erreichtes zu bringen.
Auf der Treppe sagt unterdes der Kammergerichtsrat zu dem Werkmeister Quangel, der ihm wortlos aus der Stube gefolgt ist: »Und wenn Sie Schwierigkeiten wegen der Rosenthal bekommen, Herr Quangel, wenden Sie sich an mich. Gute Nacht.«
»Was geht mich die Rosenthal an? Ich kenn sie gar nicht!«, protestiert Quangel.
»Also gute Nacht, Herr Quangel!«, und der Kammergerichtsrat Fromm verschwindet schon treppabwärts.
Otto Quangel schließt die Tür zu seiner dunklen Wohnung auf.
9. Nachtgespräch bei Quangels
Quangel hat kaum die Tür zum Schlafzimmer aufgemacht, da ruft seine Frau Anna erschrocken: »Mach kein Licht, Vater! Die Trudel schläft hier in deinem Bett. Ich habe dir dein Bett auf dem Sofa in der Stube zurechtgemacht.«
»Ist gut, Anna«, antwortet Quangel und wundert sich über diese Neuerung, dass die Trudel durchaus in seinem Bett schlafen muss. Sonst hat sie auf dem Sofa gelegen.
Aber er sagt erst wieder was, als er sich ausgezogen hat und unter der Decke auf dem Sofa liegt. Er fragt: »Willst du schon schlafen, Anna, oder magst du noch ein Wort reden?«
Sie zögert einen Augenblick, dann antwortet sie durch die offene Tür von der Schlafstube her. »Ich bin so müde und kaputt, Otto!«
Also ist sie noch böse mit mir – warum eigentlich?, denkt Otto Quangel, sagt aber unverändert: »Also dann schlaf, Anna. Gute Nacht!«
Und von ihrem Bett hallt es zurück: »Gute Nacht, Otto!« Und auch die Trudel flüstert leise: »Gute Nacht, Vater!«
»Gute Nacht, Trudel!«, antwortet er und legt sich auf die Seite, nur von dem Wunsche erfüllt, möglichst bald einzuschlafen, denn er ist sehr müde. Aber er ist wohl übermüdet, wie man auch überhungert sein kann. Der Schlaf will nicht zu ihm kommen. Ein langer Tag mit endlos viel Ereignissen, ein Tag, wie es ihn eigentlich noch nie in Ottos Leben gegeben hat, liegt hinter ihm.
Aber kein Tag, wie er ihn sich wünscht. Ganz abgesehen davon, dass eigentlich alle Geschehnisse unangenehm waren, bis auf die Ablösung von seinem Posten in der Arbeitsfront, er hasst diese Unruhe, dieses Redenmüssen mit allen möglichen Menschen, die er allesamt nicht ausstehen kann. Und er denkt an den Feldpostbrief mit der Nachricht vom Tode Ottochens, den ihm die Frau Kluge gegeben, er denkt an den Spitzel Barkhausen, der ihn so täppisch hat reinlegen wollen, an den Gang in der Uniformfabrik mit den im Zuge flatternden Plakaten, gegen die Trudel ihren Kopf lehnte. Er denkt an den verkappten Tischler Dollfuß, diesen ewigen Zigarettenraucher, die Medaillen und Orden klingeln wieder auf der Brust des braunen Redners, nun fasst ihn aus dem Dunkel die feste, kleine Hand des Kammergerichtsrats a.D. Fromm an und schiebt ihn der Treppe zu. Da steht der junge Persicke mit seinen spiegelnden Stiefeln auf der Wäsche und wird immer käsiger, und in der Ecke röcheln und stöhnen die beiden blutigen Besoffenen.
Er fährt wieder hoch, beinahe wäre er eben wirklich eingeschlafen. Aber da ist noch etwas, das ihn an diesem Tage stört, etwas, das er genau gehört und wieder vergessen hat. Er setzt sich auf seinem Sofa hoch und lauscht lange und sorgfältig. Es ist richtig, er hat sich nicht verhört. Befehlend ruft er: »Anna!«
Sie antwortet klagend, wie es gar nicht ihre Art ist: »Was störst du mich schon wieder, Otto? Soll ich denn gar nicht zur Ruhe kommen? Ich habe dir doch gesagt, ich will nicht mehr reden!«










