Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Er war noch immer ein wirklich großartiger Mann, dieser Kemp (bis auf seine beiden Steckenpferde), im Übrigen hielt er sich völlig isoliert, und die anderen Kranken wagten ihn auch nie, zu belästigen oder in ihre Streitereien zu ziehen. Gegen die Verwaltung, besonders gegen den Medizinalrat, der ihn seiner Ansicht nach gegen jedes Recht hier festhielt, war er von einem glühenden Hass beseelt; Berichte, die er mir über die Durchstechereien, Rechtsbrüche und Misshandlungen dieser leitenden Herren machte, klangen oft fast überzeugend und waren doch nie richtig. Unseren Oberpfleger nannte er nur »den Strolch und Massenmörder«.
Es war schon richtig, dass reichlich viele von den Kranken starben; das aber lag, ganz abgesehen von dem mangelnden Lebenswillen dieser abgestumpften Geschöpfe, bestimmt nicht an dem Oberpfleger, sondern an dem ganzen System mit dem Geiz, der Unterernährung und Unsauberkeit. Jeder zweite Mann von uns war mit »Schweinsbeulen« bedeckt, hatte eine Furunkulose; auch ich wurde schon wenige Wochen nach meiner Ankunft davon befallen. Der Körper besaß eben nicht die geringste Widerstandskraft, jedem Krankheitskeim erlag er sofort, die Tuberkulose grassierte und holte immer wieder neue Opfer.
Übrigens wurden die Tuberkulösen nur »die Pieper« genannt, nach ihrem pfeifenden Atmen. Irgendwelche Gefühle wurden an einen Erkrankten oder Sterbenden nicht verschwendet, und soviel ist richtig, dass unser Oberpfleger ein harter Mann war, der Sentimentalitäten nicht kannte. Die meisten Kranken schienen ihm unnütze Geschöpfe, die doch zu nichts mehr gut waren. Es war schon besser, sie verschwanden von dieser Erde. Und leider hatte er damit nicht einmal so unrecht.
Mein dritter Weggenosse war ein kleiner, stämmiger Mann Anfang der Sechzig, mit Namen Zeise. Er war ein finsterer Mann, seinen eigenen Angaben nach hat er weit über die Hälfte seines Lebens in Gefängnissen, Zuchthäusern und Anstalten verbracht. Er war ein unverbesserlicher Dieb, aber ein kleiner Dieb, der immer nur ganz geringe Werte erbeutet hatte. Er war aber der Ansicht, dass seine Diebischkeit völlig berechtigt war, er war eben am Tisch des Lebens immer übervorteilt worden und glaubte so das Recht zu haben, sich seinen Anteil selbst zu nehmen.
Alle anderen Menschen waren ja noch viel schlimmere Diebe, und vor allem die Wachtmeister und Pfleger im Bau hatten alle »zu viel Klebstoff« an den Fingern. Er wusste genau, was der Wachtmeister von unserer Beköstigung unterschlagen, was jener Pfleger sich aus der Fabrik von den dort arbeitenden Kranken hatte stehlen lassen. Er wusste es aber nicht nur, sondern er schrieb darüber auch ständig Anzeigen an die Staatsanwaltschaft, die er auf einem streng geheim gehaltenen Weg aus dem Bau unter Umgehung der Zensur hinausschmuggelte. Früher hatte ihm das meistens eine zusätzliche Gefängnisstrafe wegen wissentlich falscher Anschuldigung und Beamtenbeleidigung eingetragen. Aber die Staatsanwaltschaft war es wohl müde geworden, und seit Jahren erfolgte auf all seine Anzeigen überhaupt nichts mehr: Es war, als hätte er sie nie geschrieben. Das aber erhöhte noch seine Wut, es bewies ihm, dass »die Brüder alle unter einer Decke steckten«.
Wenn wir nebeneinanderher gingen, er immer einen völlig schwarz geschmauchten Knösel[49] im Mund, in dem er stets einen deutschen ungebeizten Tabak rauchte, den er sich gegen den guten Tabak einhandelte, der von der Anstaltsverwaltung von seiner Arbeitsbelohnung (vier Pfennig pro Tag!) eingekauft wurde – wenn Zeise also gewaltig stinkend neben mir herging, redeten wir eigentlich nur wenig miteinander, es sei denn, dass er in eine seiner Hasstiraden geriet.
Dieser Mann hatte nichts zu erzählen, nichts von seinem früheren Leben, nichts von Menschen, die er einmal gerngehabt, nichts von seinen Einbrüchen, nichts von seinen oftmaligen, manchmal erfolgreichen Fluchtversuchen, die ihn jetzt für den Rest seines Lebens in eine Einzelzelle geführt hatten. Nein, meist gingen wir stumm nebeneinanderher, wechselten ein paar Worte über den unzureichenden Schweinefraß und schwiegen wieder. Und doch ging ich gern mit diesem finsteren, verbitterten Mann. Wohl, weil ich fühlte, dass er jenes winzige bisschen Gefühl, ohne das wohl kaum ein Mensch leben kann, an mich gehängt hatte, in seiner finsteren Art natürlich. Bot er mir doch sogar von seinem Tabak an – und der war doch für ihn, den leidenschaftlichen Raucher, immer knapp!
Am Sonntag spielten wir beide manchmal Schach miteinander. Auch dabei war er zanksüchtig und rechthaberisch, wollte einen falschen Zug immer wieder zurücknehmen, erlaubte mir aber nicht, einen anderen Stein zu ziehen, wenn ich erst einmal eine Figur berührt hatte. Oft warf er in jähem Zorn die Figuren auf dem Schachbrett durcheinander, mich finster anfunkelnd und beschimpfend. Dann stopfte er sich eine neue Pfeife, stellte die Figuren wieder auf und begann gleichmütig, als sei nichts geschehen, eine neue Partie.
Genossen schon diese drei Spazierkameraden den schlimmsten Ruf bei der Verwaltung, so brachte mich mein vierter Gesellschafter, der Schuster Buck, erst recht in ein böses Licht. Oben sagte man sich: Aus denen, mit denen du umgehst, werden wir sehen, wer du bist – und das schlimme Urteil, das bald alle, vom Wachtmeister bis zum Medizinalrat, über mich fällten, habe ich nur meiner Ungeschicklichkeit bei der Wahl meiner Gefährten zu danken.
Zu meiner Entschuldigung kann ich nur anführen, dass diese vier wirklich die einzigen waren, mit denen man sich auf meiner Station wirklich einmal etwas erzählen konnte. Hätte ich auf sie verzichtet, hätte ich tagaus, tagein ohne ein menschliches Wort herumtrotten müssen, und das war mehr, als man von mir verlangen konnte. Ich habe nie gut in meinem Leben allein sein können, schon in den behaglichen Umständen draußen war ich beunruhigt, wenn Magda auch nur zwei Tage verreist war – wie hätte ich unter diesen so veränderten, schweren Lebensverhältnissen mein schweres Dasein ertragen können – ewig ganz allein?
Ich bin gewarnt worden, ich gebe es zu, aber keine Warnungen konnten mich von etwas zurückhalten, was mir lebensnotwendig erschien. Heute gelte ich im ganzen Bau auch als ein »Feind der Verwaltung« und werde entsprechend behandelt, obgleich ich nie etwas gegen diese Verwaltung getan habe. Freilich, dass ich nicht gerade wohlwollend über sie denke, geht aus dem Geschriebenen und noch zu Schreibenden hervor.
Was mich eigentlich zu dem Schuster Buck zog, weiß ich selbst nicht. Er war ein ungebildeter, selbstgefälliger, abstoßender Mensch, ein feiger Intrigant, alle hassten ihn. Aber auch alle, selbst meine anderen drei Spaziergefährten, die doch in ihrem Hass gegen die Verwaltung mit ihm eines Sinnes waren. Sie sprachen aber nie auch nur ein Wort mit ihm.
Schuster Buck – er war draußen Schuster gewesen und war es nun auch drinnen – versicherte immer wieder, dass er sich vollständig neutral verhalte, sich mit keinem abgebe, sich in nichts einmische. Aber trotz all dieser Versicherungen war er ständig in Streitigkeiten mit den anderen Kranken verwickelt, in wütende Schimpfereien, die schließlich in Prügeleien ausarteten, bei denen er stets den Kürzeren zog, denn er war trotz seiner kräftigen Figur feige und wagte nicht, zurückzuschlagen.
Stets schwärzte er die anderen oben an. Sah er nur jemanden außer der Zeit ein Stück Brot essen, so war’s auch schon gestohlen, und fünf Minuten später wusste er auch schon, bei wem, und trug’s brühwarm zum Oberpfleger. Bei jeder Arztvisite stand er vor der Tür des Behandlungszimmers, aber nicht eines Leidens, sondern einer Beschwerde wegen. Er kam aber nur selten vor.
Manche Stunde bin ich mit diesem grundschlechten Menschen spazieren gegangen und habe seinen gifterfüllten Erzählungen gelauscht, mit denen er jeden seiner Mitgefangenen verlästerte. Mit einer tiefen Schadenfreude schilderte er die Gemeinheiten der anderen und ihre Reinfälle. Er schien jedes Detail ihres Vorlebens zu wissen, und mit besonderer Wollust beobachtete er die Veränderungen in der Gestalt und im Wesen eines Sittlichkeitsverbrechers, der sich freiwillig hatte entmannen lassen, in der Hoffnung, einer Anstaltsverwahrung zu entgehen (eine Hoffnung, die ihn täuschen sollte).
Von sich selbst wusste er dagegen nichts Ungünstiges zu berichten. Er hatte von seinem Vater ein blühendes Schuhwarengeschäft übernommen, und es war ruiniert, weil die Menschen so gemein waren. Er hatte geheiratet und war geschieden, weil seine Frau auch »so eine« gewesen war. Er hatte Freunde und Verwandte besessen, und niemand beantwortete mehr seine Briefe, denn niemand will noch etwas wissen von einem Mann, der in einer Anstalt sitzt. Und natürlich unschuldig – wenn er je seine Straftaten auch nur von ferne streifte, murmelte er etwas von »Arbeitslosigkeit« und »Not kennt kein Gebot«.
Am amüsantesten fand ich diesen durchaus üblen Menschen aber, wenn er von seinen eigenen Erlebnissen in den Anstalten und mit ihren Ärzten berichtete. Er hatte unter anderem auch zwei Jahre in einer Universitätsklinik zugebracht und war in dieser Zeit viermal, in jedem Semester einmal, den Studenten des leitenden Professors vorgeführt worden. Ich höre noch die eitle Selbstgefälligkeit in der Stimme dieses Dummkopfes, wenn er die angeblichen Worte des Professors wiederholte: »Wie beurteilen Sie diesen Mann, meine Herren? Jawohl, wir wissen, dieser Mann hat Kenntnisse und weiß sich zu benehmen. Er macht Eindruck auf die Frauen, kurz gesagt, er ist ein Salonmensch …«
Und das alles sollte der Professor von diesem Flickschuster gesagt haben, der nie von seinem Schusterschemel heruntergekommen war, der fast kein Hochdeutsch sprechen konnte, sondern sich fast ausschließlich des heimischen Platt bediente! Natürlich war jedes Wort gelogen, der Professor mochte schon so etwas gesagt haben, aber nicht von Schuster Buck, sondern von einem anderen, in der gleichen Vorlesung vorgestellten Kranken.
Oder aber Buck erzählte mir, wie »unser« Medizinalrat gegen alles Recht ein Gerichtsgutachten über ihn erstattet hatte (auch Buck nannte das, wie im Hause üblich: »Er hat mir ein Gutachten abgenommen«), ohne den Begutachteten überhaupt zu kennen.
»Also nach Ihren Vorakten«, warf ich ein.
»Gar nicht!« gab Buck empört zurück. »Ich sage Ihnen doch, er hat überhaupt nichts von mir gewusst, das ganze Gutachten hat er sich von A bis Z aus den Fingern gesogen!«
Und nun folgte eine unendlich umständliche, zwei Stunden lange Erzählung, wie der Medizinalrat mithilfe eines Gerichtssekretärs und eines feilen Anwaltes in die Zelle des Untersuchungsgefangenen Buck geschmuggelt worden war, und am Ende ging aus dieser Erzählung klipp und klar hervor, dass der Medizinalrat drei- oder viermal bei dem Schuster Buck auf der Zelle gewesen war und ihm sehr wohl »ein Gutachten abgenommen« hatte. Ich hütete mich aber sehr wohl, den Schuster Buck auf diesen kleinen Unterschied zwischen Anfang und Ende seines Berichtes aufmerksam zu machen, denn im Punkte Wahrheitsliebe war er wie alle Lügner sehr empfindlich, und ich wollte mir den gefährlichen Menschen keinesfalls zum Feinde machen.
Lieber hörte ich denn zu, wenn er mir von seinem Krach mit dem verräterischen Rechtsbeistand erzählte, dem er sein Vertrauen entzogen und der darauf zu jammern angefangen habe: »Wer bezahlt mir aber nun meine fünfundsiebzig Mark? Ich habe diesen wichtigen Brief für Sie geschrieben …«
»›Für diesen Brief wollen Sie fünfundsiebzig Mark?!‹ habe ich ihm geantwortet. ›Wissen Sie, wie ich diesen Brief nenne? Idiotischen Quatsch nenne ich ihn. Dafür zahle ich nie fünfundsiebzig Mark!‹« Und so ging, Schuster Bucks Bericht nach, der Streit immer weiter, bis der Anwalt, völlig zerschmettert, nicht etwa auf seine fünfundsiebzig Mark verzichtete, sondern – zu meiner Überraschung – den Schuster bei seinem Termin verteidigte, natürlich wiederum wie ein Idiot. »Aber«, wie Buck bemerkte, »von den Anwälten taugt doch keiner mehr als der andere, und von uns wollen die Brüder nur mühelos Geld ziehen!«
Solche Inkonsequenzen sind aber typisch für lange Gefangene, eben prügeln sie sich, schon sind sie die besten Freunde. Eben sehe ich den Schuster vor der Tür des doch so verhassten Oberpflegers, entschlossen, einen Kalfaktor anzuzeigen, weil er ihm bei der Kaffeeausgabe zu viel Satz in den Becher gemogelt hat, und schon hat derselbe Buck mit dem gleichen Kalfaktor ein Tauschgeschäft abgeschlossen: eine kleine Tabakpfeife gegen eine Scheibe Brot und einen Kamm. Hat schon im menschlichen Leben draußen nichts dauernden Bestand, so kann man hier im Bau nicht fünf Minuten mit etwas Bleibendem rechnen. Ständig wechseln die Konstellationen, und nur das ist bleibend: der Neid und der Hass jedes gegen jeden, die tierische Feindschaft aller gegen alle. Im Bunker gibt’s keine Treue, keine Freundschaft, nicht den primitivsten Anstand.
»Friss, oder du wirst gefressen, Sommer!« Ich lernte ihn schwer, diesen Satz. Ich habe ihn bis heute noch nicht richtig gelernt. Ich werde ihn nie lernen – nicht aus Anständigkeit, sondern weil ich nur ein schwacher Mensch bin.
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Ehe ich endgültig zu meinen eigenen Erlebnissen zurückkehre, muss ich noch eines Mannes gedenken, einer schillernden Gestalt, der während der ersten Zeit meines Aufenthaltes für kurze Tage bei uns auftauchte, um dann für immer zu entschwinden, ein Gruß aus der großen, mir so fremden Welt.
Ich hatte schon am ersten Tage von einem Gefangenen gehört, der wegen einer Schlägerei schon die achte Woche im strengen Arrest saß, bei Wasser und spärlichem Brot und bei hartem Lager. Wenn ich überhaupt – mit einem Schauder über die mir unerträglich scheinende Dauer des Isolierarrestes – an diesen Mann dachte, so stellte ich mir einen Kerl wie den etwa dreißigjährigen Liesmann vor, einen Kerl mit brutalem, scharfem Gesicht, der über dem einen Auge einen schwarzen Lappen trug, und der wortlos und finster auf der Station lebte. Jeder ging ihm aus dem Wege, auch die Streitsüchtigsten wagten nicht, Händel mit Liesmann anzuknüpfen, der bekannt dafür war, auch nur bei einer Andeutung eines kränkenden Wortes sofort zuzuschlagen und nicht eher mit Schlagen aufzuhören, bis der andere völlig erledigt war.
Und dann tauchte Hans Hagen auf unserer Station auf, ein schöner, blühend aussehender, noch junger Mann von dreißig Jahren, mit der trainierten Gestalt des Sportsmannes, tiefschwarzem, leicht gewelltem, zurückgekämmtem Haar und einem elfenbeinfarbenen Gesicht von so klassisch reinen Linien und so überraschender Schönheit, dass man unwillkürlich – besonders in diesem Haus der Missgestalten – vor Bewunderung verging. Er hatte vom Oberpfleger ganz neue Tracht bekommen statt der Lumpen, die die anderen tragen mussten, und er trug diese braune Manchesterhose und schilffarbene Jacke mit einer solchen Eleganz, als hätte ihm der erste Schneider einen Anzug angemessen. Jede Bewegung von ihm war rasch, zielsicher, schön. Wie er redete, und seine dunklen Augen leuchteten dabei, wie er auch dem belanglosesten Wort Reiz und Liebenswürdigkeit zu geben vermochte, das war in diesem Elendsmilieu einfach hinreißend.
›Wie kommt dieser junge Gott in solche Hölle?‹, fragte ich mich. Und laut: »Ein Zugang?«
»Nein«, wurde mir geantwortet. »Das ist der Gefangene, der acht Wochen wegen einer Schlägerei im Arrest gesessen hat!« Ich konnte es nicht glauben, ich wollte es nicht. Ich bin später manchmal für kurze Minuten auf dem Gang der Station oder im Grasgarten mit Hans Hagen spazieren gegangen und habe mit immer neuem Entzücken seinem Geplauder gelauscht, sei es nun, dass er von seinen Jugendstreichen in Rochester berichtete – er war jahrelang in England erzogen – oder dass er von seinen kühnen Segelfahrten bis zum Nordkap hinauf berichtete. Seiner Erzählung mir gegenüber nach hat ihm diese Leidenschaft fürs Segeln den Hals gebrochen, er kaufte sich immer größere und schönere Jachten und scheint bei der letzten Jacht einen Versicherungsbetrug begangen zu haben, der ihn mit dem Gesetz in Konflikt, zuerst ins Gefängnis und dann in dieses traurige Haus brachte. Wie gesagt, dies war die Version, die er ganz beiläufig und leichthin mir erzählte.
Wie ich später erfuhr, war er anderen Gefangenen gegenüber offenherziger und ehrlicher gewesen. Er war einer von drei Söhnen eines Rostocker Kaufmanns, der ein sehr gutes Sportartikelgeschäft besaß, eines vermögenden Mannes, der seinen Söhnen eine gute Erziehung geben konnte. Aber mit dem Jüngsten, eben dem Hans, wollte und wollte es nicht gut gehen. Schon in seiner Gymnasialzeit machten Vorkommnisse in der Stadt seine eilige Entfernung aus Deutschland und seine Reise nach England notwendig. Auch dort scheint er nicht gerade ein solides, der Arbeit geweihtes Leben geführt zu haben; mir erzählte er von nächtlichen Ausbrüchen aus Rochester in die Vorstädte Londons und war er gut gelaunt, sang mir Hans Hagen leise, mit hübscher Tenorstimme, kleine Negerlieder vor, die er dort in den Bars und auf den Tanzdielen aufgeschnappt hatte. Auf Englisch natürlich – aber ich fand es doch hübsch, welche Mühe er sich gab, mich zu unterhalten und aufzuheitern.
Endlich nach Rostock wieder heimgekehrt, widmete er sich offiziell dem Studium der Medizin, in Wirklichkeit aber entdeckte er seine Leidenschaft für die See und das Segeln. Er kaufte sich seine erste Jacht, und ich glaube kaum, dass es sein Vater war, der diesen Kauf finanzierte. Auch ein gut gehendes Sportartikelgeschäft kann nicht für einen Sohn von Dreien Zehntausende aufwenden, denn die Jacht war ja nur ein Mittel zum Zweck: Hans Hagen wollte auf ihr auch gut leben, mit seinen Freundinnen weite, kostspielige Reisen machen, im Heimathafen jede Nacht ausgehen und nie nach dem Gelde sehen.
In dieser Zeit entdeckte er, wie leicht ein gut aussehender junger Mann der guten Gesellschaft Geschäfte machen kann, auch wenn er keinen Pfennig Geschäftskapital besitzt. Er makelte Häuser, besorgte Effekten, vermittelte Autos, schloss Lebensversicherungen ab, ließ sich Provisionen von rechts und von links geben. Sein glänzender, findiger, blitzschneller Kopf ließ ihn jede Gelegenheit zu guten Geschäften ausspähen, rasch handeln. Bedenkenlos benutzte er seine Gewalt über Frauen, es gab auch nicht viele Männer, die seinem Charme widerstehen konnten.
Aber mit den reichlich fließenden Einnahmen stiegen auch seine Bedürfnisse; immer lagen sie einen Schritt vor den Einnahmen, und seine Kasse war immer leer. Er aber wusste nur eines: Dass er dieses ihm allein zusagende Leben des Genusses um jeden Preis fortsetzen wollte, immer unbedenklicher wurde er in der Wahl der Mittel, die ihm Geld verschaffen mussten: Er stahl Autos von der Straße, vergriff sich sogar an den Handtaschen mit ihm tanzender Damen – kurz, er wurde ein Hochstapler und ein Dieb. Lange konnte das nicht gut gehen.
Ein erster Fall wurde vertuscht, da er doch der Sohn eines angesehenen Vaters war, ein zweiter brachte ihn ins Gefängnis und aus dem Gefängnis in dieses traurige Haus, in dem er schon sechs Jahre lebte.
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Sechs Jahre – ich wollte meinen Ohren nicht trauen! Dieser junge Mann lebte schon sechs lange Jahre in dieser trostlosen Umwelt, und er hatte sich alle Spannkraft und allen Zauber der Jugend bewahrt! Nichts von der hoffnungslosen Trauer, nichts von dem hässlichen Neid hier hatte auf ihn abgefärbt, wie ein flüchtiger Gast wirkte er, eben erst gekommen, schon wieder im Begriff zu gehen, allen Zauber blühender Welt um sich! Welche Kräfte mussten in diesem Hans Hagen wirken, welche unzerstörbaren Energien, dass ein Mann nach diesen sechs Jahren, nach acht Wochen scharfen Arrestes noch immer nichts von seiner Kraft verloren, noch immer den Schimmer der großen Welt mit sich trug! Es war mir ein Rätsel, ich war schon von ein paar Tagen Aufenthalt hier völlig zermürbt und niedergedrückt. Ich habe später lange über Hans Hagen nachgedacht, und ich glaube, ich habe die Gründe gefunden, die ihn so unverändert stark sein ließen.
Zum Ersten drang nichts tief in ihn ein, so konnte ihn auch nichts tief verletzen. Er lebte so auf der Oberfläche, seine glänzende Begabung lockte ihn hierhin und dorthin, immer betätigte er sich, aber nichts tat er. Er konnte alles, auch hier im Bau, den Wachtmeistern machte er »Fassonschnitt«, er schnitt ihnen die Haare auf eine ungewohnt kühne, elegante Art, er mauerte besser als ein Maurer, er gab Unterricht in Stenografie, Englisch, Französisch, Russisch, er arbeitete schwer in der Fabrik, er tischlerte und hatte auch schon die Schweine versorgt – er konnte alles, aber er konnte alles auf eine unverbindliche, schillernde Art, er war die Unzuverlässigkeit in Person, nichts haftete.
Aber der Hauptgrund seiner Unveränderlichkeit, seiner unbesiegbaren Jugend war der, dass er hier im Totenhaus eigentlich kaum anders lebte als draußen. Gewiss, die Umwelt hatte sich verändert, aber Hans Hagen nicht mit ihr. Wenn er draußen die Frauen bezaubert hatte, so hier die kranken Männer. Auch den Stumpfesten ließ er nicht außer Acht, er ruhte nicht, bis ein Schimmer seines Charmes ihn berührt hatte. Es war einfach lächerlich, wie sie alle aufblühten, wenn er mit ihnen sprach.
Ich sehe sie noch zusammenstehen: den fetten Mecklenburger Bauern Reddemin, den sie wegen Querulantentums in diesem Haus untergebracht hatten, Bezieher unwahrscheinlicher Fettpakete, und Hans Hagen, der sich einmal selbst in einem unbedachten Augenblick als »Tangojüngling« bezeichnet hatte. Gegensätzlicheres war schlechthin nicht denkbar. Es schien keine Brücke zwischen den beiden zu geben: dem flachen Genussmenschen und dem zähen, alten, fast siebzigjährigen Bauern mit dem Bullenkopf, den das unermüdliche Beharren auf einem vermeintlichen Recht in diese Mauern gebracht hatte. Und doch strahlte der alte, sonst so finstere Mann, da der Genießer mit ihm sprach; seine Augen funkelten, er lachte dröhnend, er klopfte dem anderen freundlich-hingerissen auf die Schultern.
Er war der wahre König dieses Hauses, der Hans Hagen, und die Verwaltung wusste das auch. Blindlings taten die Kranken, was er ihnen riet. Er schrieb ihnen nicht nur ihre Anträge und Gesuche, machte ihnen Hoffnungen auf Entlassung oder vertröstete sie, er begutachtete nicht nur als »ehemaliger Mediziner« ihre Schweinsbeulen und Arbeitsverletzungen und erzählte ihnen, welche Verbandmittel und Medikamente sie beim Arzt fordern sollten, er spendete nicht nur juristischen Rat wie der findigste Anwalt, nein, er zettelte auch kleine vorsichtige Verschwörungen an gegen die Habsucht der Kalfaktoren, die Tyrannei der Vorgesetzten, den schmutzigen Geiz der Verwaltung. Er hatte seine Hände in allem, und diese klugen sehnigen Hände konnten sehr erfolgreich sein; viel machte Hans Hagen der Verwaltung zu schaffen, dieser Totenkönig im Totenhaus.
Und wie ein König zog er seine Tribute ein – genau wie draußen. Genau, wie er draußen die Mädchen und Frauen bezaubert und unbedenklich jedes Geschenk von ihnen angenommen hatte, so machte er es auch hier. Ich habe nie gesehen, dass Hans Hagen etwas verlangte, um etwas bat. Das hatte er auch gar nicht nötig, seine Anhänger sorgten auch so für ihn. Ein Wachtmeister erzählte mir, dass, solange Hans Hagen in der Arrestzelle saß, ein ständiges Kommen und Gehen dort war, jeden unbewachten Augenblick lauerten sie ab, um ihm etwas zuzustecken. Ständig wurde an dem Spion geflüstert, dessen Scheibe man zerbrochen hatte, um ihm das kostbarste Gut in der Anstalt, Streichhölzer, hineinzureichen.
Lag ein anderer Kamerad im Arrest, so war er vergessen, niemand dachte mehr an ihn. Sein Wiederauftauchen wurde ebenso gleichgültig hingenommen wie sein Verschwinden. Nicht so bei Hans Hagen. Ich habe es selbst gesehen, oft und oft, wie sie zu ihm kamen, diese Ärmsten der Armen, die der Hunger in den Eingeweiden kniff. Ein Außenarbeiter brachte ihm eine Gurke, ein anderer eine Tasche voll Pellkartoffeln, hier ein Stückchen Brot, eine Zwiebel, ein paar Stängel Petersilie, Mohrrüben, Falläpfel, Salz, eine Handvoll aufgesammelter Zigarettenstummel. Und all das sind große, schwer errungene Kostbarkeiten in diesem Bau, keiner ist da, der von seinem Überfluss abgeben kann, alle opfern sie aus dem Notwendigsten. Und Hans Hagen nahm alles, alles. Er lächelte, er dankte, er machte einen Scherz. Er konnte so reizend danken. Und dann drehte er den Rücken, und der Geber war vergessen.
Mir hat Hans Hagen manchmal von seinem Überfluss abgegeben, genau in der raschen, spontanen Art, die ihm eigen war. Ich saß trübselig vor meiner Wassersuppe, und Hans Hagen rief: »Da, Sommer, fangen Sie auf!« Und vom Nebentisch flog ein Stück Brot zu mir herüber, und er lachte herzlich, wenn ich es mir ungeschickt auffing; über dem Lachen schon hatte er ganz vergessen, dass er mir eben etwas sehr Kostbares geschenkt hatte, für das ich ihm dankbar zu sein hatte. So war er; ohne Erinnerung. So steht er vor mir: ohne Vergangenheit und Zukunft, nur dem Tage lebend, dem Tag hingegeben, in der Minute weilend.









