Hans Fallada – Gesammelte Werke

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So redete der Medizinalrat noch lange auf mich ein. Es war mir nicht ganz leicht, ihm ohne allen Widerspruch zuzuhören. Denn ganz so, wie er es schilderte, war es ja doch nicht. Gewiss war Magda tüchtig, aber ich hatte doch, seit wir das Haus besaßen, das Geschäft ganz gut alleine, ohne sie führen können. Gewiss war es in der letzten Zeit nicht mehr so gut wie früher gegangen, aber das hatte an anderem gelegen, an ein paar unglücklichen Zufällen, nicht an meiner Leitung. Aber immerhin, wenn ich dadurch aus diesem verfluchten Hause kam, wollte ich mich auch dareinfinden. Mochte Magda also die Führende sein, ich wollte ihr schon keine Schwierigkeiten machen. So schwieg ich, und es söhnte mich mit meiner neuen Stellung zu Magda ja auch der Gedanke aus, dass sie so gut zum Arzt von mir geredet hatte. Sie liebte mich eben doch!
»Also«, schloss schließlich der Arzt, »ich habe Ihnen noch nichts Festes versprochen, das kann ich ja auch gar nicht. Ich werde in – sagen wir – drei oder vier Wochen mein Gutachten erstatten, dann wird das Gericht den Termin ansetzen, Sie werden eine kleine Strafe erhalten, vielleicht vier Wochen, vielleicht nur vierzehn Tage …«
»So wenig?«, rief ich erstaunt aus.
»Nun, darüber fragen Sie lieber einen Juristen, ich möchte Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, ich bin nur Arzt. Und wenn Sie dann in der Freiheit sind …«
»Werde ich immer an dieses Haus denken, Herr Medizinalrat, das verspreche ich Ihnen!«, schloss ich.
58
Dieser Besuch veränderte auf einen Schlag mein Fühlen, mein Denken, mein ganzes Leben. Plötzlich sah ich diese jüngst vergangene Zeit mit ganz anderen Augen an: Nicht in einer fast behaglichen Wunschlosigkeit und Selbstgenügsamkeit hatte ich gelebt, sondern in einer Lähmung meines Willens, in einer fast völligen Hoffnungslosigkeit, in Apathie. Jetzt erst begriff ich, wie gering meine Hoffnung gewesen war, diesem grauenhaften Hause zu entrinnen, wie ich fast schon mit dem Leben abgeschlossen hatte. Holzens Freude an den kleinen Dingen dieser Erde schien mir nun billig und dumm, und ich elendete abends den Geduldigen mit langen Tiraden über all das, was ich nach meiner Entlassung tun würde. Denn ich hatte die Absicht, sehr tätig zu sein.
Wohl hatte mich der Arzt wegen seiner Offenheit um Entschuldigung gebeten, aber die Bemerkung von der überlegenen Tüchtigkeit Magdas konnte ich ihm nicht verzeihen. Je länger ich darüber nachdachte, um so falscher schien sie mir. Wenn ich erst wieder draußen war, würde ich ihm und Magda und aller Welt beweisen, wie tüchtig ich erst sein konnte. Und ich plagte den guten Holz mit langen Schilderungen über die Möglichkeiten des Landesproduktenhandels, Möglichkeiten, die ich natürlich alle blitzschnell erfassen und ausnutzen würde.
Umsonst warnte mich der durch langes Dulden Erfahrene. »Sommer, du bist noch nicht draußen! Mach nicht zu viel Pläne! Wer weiß, was nicht noch alles passieren kann!?«
Ich rief: »Was soll denn noch passieren? Von mir hängt jetzt alles ab, und meiner selbst bin ich sicher.«
Auch in meinem Arbeiten an den Bürsten hatte ich mich sehr geändert. Nicht, dass ich schlechter gearbeitet hätte, das konnten meine Hände schon nicht mehr, sie konnten schon den leitenden Verstand entbehren, und meine Ablieferung wurde auch kaum geringer. Aber ich arbeitete ganz stoßweise.
Einen halben Tag stand ich am Zellenfenster, sah stundenlang die rasch ziehenden Wolken am Himmel an, freute mich an Wiese, Vieh und Wald und sah lächelnd den auf ihren Rädern vorüberflitzenden Mädels nach. Bald würde ich wieder zu alledem gehören, ein Teil der Welt sein, nicht mehr herausgelöst aus ihr und bei lebendigem Leibe schon tot!
Dann wieder dachte ich an die Worte des Medizinalrates und stürzte mich mit Feuereifer in die Bürstenmacherei. Die Arbeit flog mir nur so durch die Hände. Jeder Griff saß, in zwei Stunden war die feinste Nagelbürste fertig. Manchmal dachte ich dabei mit Sehnsucht an Magda und empfand den lebhaften Wunsch, sie möchte mir bei meiner Arbeit einmal zusehen. Auch ich konnte tüchtig sein, ungewöhnlich tüchtig!
Selbst das Verhältnis zu meinen Arbeitskameraden war seit dieser Unterredung wesentlich verändert. War ich ihnen bisher still aus dem Wege gegangen, hatte mich nie in ihre Streitereien gemischt und jedem seine Art gelassen, sie mochte noch so abstoßend sein, so befähigte mich meine jetzige gute Laune, lebhaft in die Unterhaltung einzugreifen und auch einmal einem unangenehmen Menschen zuzurufen: »Thiede, leck doch nicht den Tisch mit der Zunge ab! Ist Sauce verkleckert, so nimm deinen Löffel!«
Ich kann nicht behaupten, dass meine Leidensgenossen diese Veränderung meines Wesens ins Lebhafte günstig aufnahmen. Meine witzigen Bemerkungen wurden meist mit tiefem, ablehnendem Stillschweigen aufgenommen, und meine Ermahnungen zu guter Sitte lenkten wüste Beschimpfungen auf mein Haupt. Das focht mich aber in meiner guten Stimmung fast gar nicht an. Ich dachte nur bei mir: ›Ihr armen Irren! In ein paar Wochen werde ich draußen sein, während ihr euer ganzes Leben in diesen Mauern hinbringen werdet. Was geht mich da euer Schimpfen an?! Ihr existiert einfach nicht für mich!‹
Die Veränderung meiner Denkart zeigte sich aber nicht nur in meinem Benehmen innerhalb der Heilanstalt, sie sollte auch nach außen wirken. Nachdem ich ein paar Nächte mit mir gerungen, auch den Fall gründlich mit Holz besprochen hatte, der mir entschieden abriet, ließ ich den alten Justizrat Holsten kommen, einen schon etwas altmodisch gewordenen Herrn, der aber bei den angesehenen Bürgern der Stadt größtes Ansehen genoss und der auch meiner Firma bei gelegentlich auftauchenden Rechtsfragen mit Rat und Tat zur Seite gestanden hatte.
Ich setzte mit ihm eine Generalvollmacht für Magda auf und verfasste ein Testament, in dem ich Magda zu meiner Alleinerbin einsetzte. Ich beauftragte den alten Herrn, die Vollmacht schon am nächsten Tage in die Hände meiner Frau, das Testament aber an Gerichtsstelle zu hinterlegen. Dies war mein Dank an Magda für die schöne Art, in der sie über mich mit dem Medizinalrat geredet hatte, ich freute mich, dass ich ihr so wirkungsvoll danken konnte.
Holz freilich, der in dieser Zeit gar nicht mit mir gehen wollte, stöhnte: »Wenn du das nur nicht eines Tages bereust, Sommer! Man soll sich nie einem Menschen ganz in die Hände geben, das verbietet doch die einfachste Vorsicht. Und wozu auch? Es hat keiner von dir verlangt, warum tust du es also.«
»Ich bin immer ein großzügiger Mensch gewesen, Holz«, antwortete ich ihm. »Ich habe immer eine Leidenschaft für Schenken gehabt.«
Ich muss übrigens noch bemerken, dass der Justizrat ganz und gar nicht damit zufrieden war, diese beiden Urkunden für mich abzufassen und mit seinem Notariatssiegel zu versehen. Nicht, als ob er mit ihrem Inhalt nicht einverstanden gewesen wäre, im Gegenteil. »Es ist immer gut, wenn man sein Haus bestellt, Herr Sommer«, sagte er. »Und Ihre Frau ist natürlich die Nächste. Sie sehen einer ungewissen Zukunft entgegen. Haben Sie schon einen Verteidiger für Ihren Termin gewählt, oder wünschen Sie, dass ich Ihre Verteidigung übernehme?«
»Danke, danke!«, sagte ich leichthin. »Ich beabsichtige, mich selbst zu verteidigen. Im Übrigen ist die ganze Geschichte nur eine Kleinigkeit, die meine lieben Mitbürger viel zu sehr aufgebauscht haben.«
Der Justizrat war entsetzt über meine »Leichtfertigkeit«, wie er es nannte. »Es ist nie eine Kleinigkeit«, rief der alte Mann fast empört, »wenn ein angesehener Bürger ins Gefängnis gehen muss, nicht nur seinetwegen, sondern vor allem auch um des bösen Beispiels willen! Lassen Sie mich Ihre Verteidigung übernehmen, Herr Sommer, vielleicht, beinahe sicher kann ich Bewährungsfrist für Sie erwirken. Dann vermeiden Sie wenigstens die entehrende Gefängnishaft.«
»Meine Ehre liegt allein bei mir«, sagte ich stolz. »Die können mir andere nicht nehmen.«
Der alte Mann schüttelte mit einem trüben Lächeln verneinend den Kopf.
»Im Übrigen handelt es sich um ein im Affekt begangenes Vergehen, und die Folgen eines solchen Vergehens können nie entehrend sein.«
Wieder schüttelte der alte Mann traurig den Kopf. »Das ist eine Sprache«, sagte er, »die ich in solchen Mauern häufig genug gehört habe, aus Ihrem Munde hätte ich sie lieber nicht gehört. Wie steht es denn mit dem Gutachten des Kreisphysikus? Wissen Sie etwas davon?«
Ich versicherte, dass alles äußerst günstig stehe und dass der Medizinalrat meine Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt nicht für notwendig halte.
»Ich will es hoffen, hoffen will ich es von Herzen«, rief der Justizrat Holsten. »Nun, Herr Sommer, jetzt muss ich mich verabschieden. Und wenn Sie mich gegen Ihr jetziges Erwarten doch brauchen sollten, Sie können mich jederzeit rufen. Ich scheue trotz meiner Jahre den weiten Weg aus der Stadt in diese Anstalt nicht, wenn ich Ihnen nur helfen kann.«
Ich dankte ihm fast gerührt, war aber überzeugt, dass ich seinen Rat nie brauchen würde und dass ich mich in einem wirklichen Notfalle unbedingt an einen jüngeren und geschickteren Anwalt als an ihn wenden würde.
59
So vergingen mir die nächsten Wochen in verhältnismäßigem Frieden und Behagen, einem anderen Frieden, als ich vor dieser Unterredung mit dem Arzt empfunden hatte, einem aktiveren, mit Plänen und Hoffnungen ausgefüllten Frieden. Ich schlief wieder schlechter, aber das konnte meine gute Stimmung nicht mehr beeinträchtigen: Ich war nur noch zu Gast in diesem Totenhaus.
Ich erwartete täglich die Anklageschrift und die Ansetzung des Termins, und wenn sie doch wieder nicht gekommen waren, so hoffte ich auf den nächsten Tag. Das Hoffen im Menschen ist wohl unverwüstbar, ich glaube, was als Letztes im Hirn eines Sterbenden vergeht, ist eine Hoffnung. Der Arzt ließ mich nicht mehr zu sich kommen, ich sah ihn nach dieser Unterredung nicht mehr, ein Zeichen, dass er sein Gutachten abgeschlossen und der Staatsanwaltschaft eingereicht hatte.
Umsonst versuchten meine Kameraden, mich ängstlich zu machen. »Trau du dem falschen Hund! Ins Gesicht sagt er es dir so, und auf dem Papier macht er es ganz anders.«
Ich lächelte überlegen. So etwas machte der Arzt vielleicht mit ihresgleichen, mir gegenüber hatte er sich so positiv ausgesprochen, dass an einem günstigen Ergebnis überhaupt nicht zu zweifeln war. Überhaupt wurde der Mann ganz falsch beurteilt – auch ich war ihm in der ersten Zeit nicht gerecht geworden. Das lag an seinem manchmal überheblichen, höhnischen Wesen, das einen abstieß. Aber er war ein Mann von Kenntnissen und Einsicht, wo er konnte, gab er jedem eine Chance. Wo es freilich ganz unmöglich war …
Eine einzige Sache nur wirkte sich störend in dieser Zeit aus: Die Folgen der Unterernährung machten sich auch bei mir bemerkbar, ich wurde ebenfalls von einer recht störenden Furunkulose befallen. Solange die meist unter der Epidermis sitzenden »Schweinsbeulen« nur an den Armen und Beinen auftauchten, ging es noch einigermaßen, als sie aber auch im Nacken und auf dem Rücken auftauchten, litt ich doch recht unter ihnen. Namentlich, dass ich nachts nun auf dem Bauch liegen musste, eine Stellung, in der ich nie habe schlafen können, war sehr unangenehm.
Nun gehörte auch ich zu der langen Reihe derer, die jeden Morgen vor dem Arztzimmer antraten und von dem Oberpfleger gesalbt oder geschnitten und schließlich verpflastert wurden. Ich bin überzeugt, eine etwas vernünftigere Ernährung mit frischem Gemüse und Obst hätte die Ursache dieser als ganz selbstverständlich angesehenen Pest eher beseitigt als dieses ewige Herumdoktern an den Folgen. Aber daran dachte niemand. Uns wurde unser Pflaster gegeben und damit fertig! Im Ganzen konnte auch diese Plage mir freilich in meiner jetzigen hochgemuten Stimmung wenig anhaben.
›Wenn ich erst draußen bin …‹, das war der Gedanke, den ich jeden Tag hundertmal hatte. Es war auch ganz selbstverständlich, dass ich mich jetzt wieder mehr mit meinem Äußeren zu beschäftigen anfing, da ich nun in vielleicht schon kurzer Zeit entlassen werden würde. Ich fing wieder an, meine Hände, besonders meine Nägel, zu pflegen, die unter der Arbeit gelitten hatten. Ich ließ mir die Haare schneiden und wusch zwei-, dreimal wöchentlich meine Füße. Vor allem aber beschäftigte ich mich mit meinem Gesicht. Zu jener Zeit war der Verband gefallen und meine Nase längst verheilt. Ich hatte mich immer gescheut, mein Gesicht zu besehen, und das war mir leicht gemacht, da es keinen offiziellen Spiegel in der Anstalt gab und das Rasieren von Lexer mit dem »Clipper« besorgt wurde. Nun aber wurde das anders. Ich wusste, der Kalfaktor Herbst besaß einen kleinen Spiegel, den er beim Haarscheiteln ständig zurate zog. Ich borgte ihn mir jetzt manchmal von ihm aus.
Natürlich spottete er: »Wozu brauchst du denn einen Spiegel? Willst dir wohl deine Gurke betrachten? Das lass man, die ist auch ohne Ansehen schön genug!« Er hatte genau das Richtige mit seiner Vermutung getroffen, aber das brauchte er nicht zu wissen. Ich murmelte etwas von meinen Schweinsbeulen.
Als ich meine Nase zuerst im Spiegel sah, erschrak ich sehr. Sie war durch den Biss völlig deformiert, kurz vor der Nasenspitze hatte sich ein tiefer Sattel gebildet, aus dem sich die Spitze schief und mit brandroten Narben bedeckt erhob. Sie sah wirklich abscheulich aus, ich war völlig entstellt. (Dieser verdammte Polakowski! An meinem ganzen Unglück ist eigentlich dieser Polakowski schuld!)
Auch die weitere Prüfung meines Gesichtes befriedigte mich nicht, die Folgen des Hungers prägten sich bereits deutlich in ihm aus. Es war fast aschfarben, die Augen tief in die Höhlen gesunken. Ein fünf Tage alter spitzstoppliger Bart bedeckte den unteren Teil des Gesichtes. Der Spiegel verriet nur, dass ich auch in diesem Sinne in dieses Totenhaus eingereiht war: Ich sah wahrhaftig nicht besser aus als seine schlimmsten Gespenster! Nicht besser? Vielleicht schlimmer!
Und ich war einmal ein leidlich gut aussehender Mann gewesen, gewohnt, einen guten Anzug unseres besten Schneiders mit Chic zu tragen. »Was haben sie aus dir gemacht?!«, sagte ich traurig zu meinem Spiegelbild. Mit einem tiefen Seufzer gab ich den Spiegel an Herbst zurück.
»Na, nicht schön genug?«, fragte er mit gespieltem Erstaunen.
»Diese verdammten Schweinebeulen!«, schimpfte ich. »Wenn wir wenigstens anständig zu fressen kriegten! Aber die Mohrrüben heute Mittag waren wieder das reine Wasser! Dabei kann kein Mensch gesund bleiben!«
Damit hatte ich ihn bei dem unerschöpflichen Thema des Hauses: dem Fraß, und von meinem persönlichen Aussehen wurde nicht mehr gesprochen.
In der Folge borgte ich mir noch öfter den Spiegel des Kalfaktors aus, von nun an aber in seiner Abwesenheit und ohne ihn zu fragen. Ich fand schon beim dritten oder vierten Mal heraus, dass ich mein Aussehen zu ungünstig beurteilt hatte. Als ich mich erst ein paarmal im Spiegel betrachtet hatte, fand ich, dass ich eigentlich ganz erträglich aussah. Jedenfalls gewöhnte man sich rasch an diese kleine Entstellung, ich hatte mich dran gewöhnt, Magda würde sich daran gewöhnen wie meine Mitbürger, wie jedermann. Es gab Teilnehmer des Weltkrieges, die viel schlimmer entstellt waren, und doch hatten sie hübsche junge Frauen heiraten können und lebten glücklich mit ihnen. Ich war völlig davon überzeugt, dass diese zernarbte Nase meinem Glück mit Magda keinen Eintrag tun würde.
60
Ich sollte sehr bald Gelegenheit bekommen, einige Erfahrungen darüber zu sammeln. An einem Nachmittag kam der Oberwachtmeister Fritsch in meine Zelle und befahl mir kurz: »Mitkommen!« Fritsch, ein fleischiger Mann mit blühendem Gesicht, war einer jener Aufsichtsbeamten, denen man auch einmal eine Frage stellen konnte. Er sah in uns nicht nur Verbrecher.
»Was ist denn los?«, fragte ich ihn. »Zum Medizinalrat?«
»I wo«, antwortete er. »Besuch. Ihre Frau. Der Medizinalrat hat erlaubt, dass Sie Zivil anziehen. Ein bisschen schnell, Sommer, Ihre Frau wartet, und ich habe wenig Zeit.«
Er führte mich auf die Kleiderkammer, wo auf einem Regal mein Koffer ziemlich einsam dastand – die meisten Kranken waren ja auf Lebenszeit untergebracht und brauchten keine Zivilsachen mehr. Auf einem Tisch sitzend, sah der Oberwachtmeister mir zu, wie ich mich erst auskleidete, dann wieder ankleidete. Immer wieder trieb er zur Eile. Aber es ging nicht so schnell. Meine Hände zitterten so sehr, mein Herz läutete Sturm. Magda zu Besuch in diesem Totenhaus, das Leben kam, mich zu besuchen, bald würde ich wieder bei ihr sein …
Und eine tiefe Rührung, eine unendliche Liebe für meine Frau erfüllte meine Brust. Sie war zu mir gekommen, endlich, die lange Zeit der Prüfungen war vorbei. Die Liebe kehrte wieder ein bei mir. Und ich war fest entschlossen, ihr gleich beim ersten Zusammensein zu zeigen, wie tief ich sie liebte, dass die Zeit der Entfremdung vorüber war und dass ich mich rückhaltlos und voller Vertrauen ganz in ihre Hand gab.
Plötzlich fiel mir etwas Schreckliches ein! Es war ja Freitag, und am Sonnabend wurden wir erst rasiert: Mein Stoppelbart war im allerschlimmsten Zustand! »Herr Oberwachtmeister!«, rief ich flehend, »darf ich mich noch schnell rasieren? Hier im Koffer ist mein Rasierapparat. Ich mache wirklich ganz schnell. Erlauben Sie es doch.«
»Ganz ausgeschlossen, Sommer«, sagte Oberwachtmeister Fritsch kühl. »Was denken Sie wohl, wie viel Zeit ich habe? Und außerdem: Sie können doch Ihre Frau nicht so lange warten lassen!«
»Aber es ist doch so wichtig, dass ich bei diesem ersten Zusammensein wenigstens einigermaßen anständig ausschaue! Was soll denn meine Frau von mir denken?«
»Was das angeht, Sommer«, meinte der Fritsch kühl, »glaube ich, dass auch Rasieren Sie nicht wesentlich verschönt. Hat Ihre Frau sich mit Ihrer Nase abgefunden, wird sie die paar Haare auch schlucken!«
»Aber sie hat die Nase doch noch nie so gesehen!«, rief ich immer verzweifelter. »Das ist doch erst im Untersuchungsgefängnis passiert!«
Aber alles half mir nichts, Fritsch blieb unerbittlich, und ich musste mit ihm, die traurigste Figur von der Welt; auch das gnädigst vom Arzt bewilligte Zivil konnte daran nichts ändern, außerdem war es vom langen Liegen im Koffer völlig zerdrückt.
Ich trete mit dem Beamten in das Verwaltungsgebäude ein. Der Gang vor mir ist lang, trübe und dunkel, mir zittern die Knie, ich möchte mich an die Wand lehnen und um eine Minute der Sammlung und Ruhe bitten. Aber die Stimme des Oberwachtmeisters klingt befehlshaberisch hinter mir: »Los! Los, Sommer! Die dritte Tür rechts!« Wenn er jetzt nur nicht so militärisch laut brüllen würde, jetzt kann ihn doch Magda schon hören!
Die Hand auf die Klinke und aufgemacht die Tür! Kein Zagen hilft, unbarmherzig wirst du vorwärts gezwungen in diesem Leben, du Armer, es gibt nicht Ruhe, nicht Verweilen!
Ich sehe Magda, sie hat am Fenster gesessen, nun ist sie aufgestanden und schaut mir entgegen. Einen Augenblick bemerke ich den Ausdruck von fragendem Erstaunen in ihrem Gesicht.
Aber schon eile ich auf sie zu, die Arme ausgebreitet, ich rufe: »Magda, Magda, dass du gekommen bist! Ich danke dir so …« Ich schließe sie in meine Arme, ich will sie auf den Mund küssen wie in jenen alten Tagen, die nun wieder neu werden sollen …
Und ich bemerke einen Ausdruck schaudernder Abwehr in ihrem Gesicht. »Bitte, nicht!«, flüstert sie, noch in meinen Armen, plötzlich fast atemlos. »Bitte nicht hier!«
Ich habe sie losgelassen, alle Freude ist aus mir gewichen, ein kaltes drohendes Schweigen ist in mir.
Sie sieht mich an, noch immer liegt ein Ausdruck verwirrten Staunens auf ihrem Gesicht. »Ich hätte dich beinahe nicht erkannt«, flüstert sie, noch immer atemlos. »Was ist mit dir geschehen? Was hat dich da …«, sie wagt nicht einmal das Wort auszusprechen, »was hat dich da so verändert?«
Oberwachtmeister Fritsch hat sich in unserem Rücken auf einen Stuhl gesetzt und räuspert sich jetzt recht laut.
Ich weiß, dass es unzulässig ist, wenn wir beide hier so am Fenster stehen und miteinander tuscheln. Mit gespielter Leichtigkeit sage ich: »Wollen wir beide uns nicht hier an den Tisch setzen, Magda?« Wir tun es.
Dann: »Du findest, dass ich mich verändert habe? Dir gefällt mein Aussehen nicht? Nun, um dir die Wahrheit zu gestehen, es gefiel mir selber nicht, als ich mich vor Kurzem zum ersten Male wieder in einem Spiegel sah.« (Das hätte ich nicht sagen dürfen, Oberwachtmeister Fritsch kann mich nachher fragen, woher ich den Spiegel hatte, und gleich habe ich den Kalfaktor Herbst in die Pfanne gehauen. Spiegel sind doch auf der Station verboten! Man kann eben nicht vorsichtig genug sein auf dieser Station!)
Ich lache rasch: »Aber man gewöhnt sich dran, Magda, ich sehe nicht so schlimm aus, wie du jetzt denkst; ich bin eher besser als schlimmer geworden …« Bei den letzten Worten, in die ich eine tiefere Bedeutung legte, habe ich die Stimme bezeichnend gesenkt.
Aber Magda achtet nicht darauf. »Was ist denn mit deiner – Nase geschehen?« Endlich kann sie das Wort aussprechen, wenn auch erst nach kurzer Hemmung. »Sie sieht wirklich böse aus, Erwin!«
»Ein Mitgefangener wollte sie mir abbeißen, das war noch im Untersuchungsgefängnis«, berichte ich. »Es war jener Polakowski, der dein Silberzeug stahl, Magda, du weißt.« Sie sieht mich nur an, mit einem leichten Zucken um den Mund. Vielleicht hätte ich das wieder nicht sagen sollen, vielleicht denkt Magda jetzt, dass ich es war, der zuerst ihr Silberzeug stahl. Aber nein, so töricht und ungerecht kann Magda nicht denken, das Silber war von meinem Gelde gekauft, es war also mein Silber, von Diebstahl kann nicht die Rede sein. »Ich habe ja versucht, es dir wiederzubeschaffen, aber leider vergeblich. Du hast nichts mehr davon gehört, Magda?«
Sie bewegt verneinend den Kopf, als sei das alles ganz unwesentlich. »Du bist auch sonst verändert, Erwin«, beharrt sie, »deine Stimme klingt ganz anders, viel lauter …«
»Wir sind sechsundfünfzig Männer auf meiner Station, Magda«, erkläre ich ihr, »über dreißig essen mit mir in einem Raum, da muss man seine Stimme schon etwas anstrengen, wenn man verstanden werden will.«
»Ich verstehe.« Sie lächelt schwach, abwehrend. »Du führst ein sehr verändertes Leben, du, der immer so für Zurückhaltung und Isolierung war.« Aber wieder, mit einer störenden Hartnäckigkeit, kommt sie auf mein Aussehen zurück, sie kann sich gar nicht daran gewöhnen. »Du siehst aber auch sonst schlecht aus, Erwin. Fehlt dir was?«
»Nichts«, antworte ich überlegen. »Fast nichts. Ein paar Furunkel, sieh hier, im Nacken habe ich auch welche, und auf dem Rücken … Aber daran gewöhnt man sich, alle in diesem Bau haben sie …«
(Der Oberwachtmeister Fritsch räuspert sich mahnend. Das ist wohl schon unziemliche Kritik an der Anstalt. Aber ich denke nicht daran, darauf zu achten.)
Ich fahre fort: »Und wenn ich mager geworden bin und etwas grau aussehe, nun, Magda, wir bekommen hier nicht alle Tage gerade Gänsebraten mit Rotkohl, in der Hauptsache werden wir mit gutem, heißem Wasser ernährt …«
Nun ist meine Wut doch mit mir durchgegangen. Diese Wut über die Zurückweisung meiner Liebe, über das Entsetzen Magdas vor mir: Mit einer vor Hohn zitternden Stimme habe ich gesprochen, ich will ihr Herz verletzen, da ich es nicht rühren kann.
Oberwachtmeister Fritsch sagt drohend: »Noch eine solche Bemerkung, Sommer, und ich breche die Sprechstunde ab und melde Sie!«
Magda wendet sich an ihn: »Ach, bitte, nehmen Sie es ihm doch nicht übel! Sie ahnen nicht, wie er sich verändert hat, er muss Schreckliches durchgemacht haben!« Ihre Stimme zittert, ich lausche dieser schwachwerdenden weiblichen Stimme mit gierigem Entzücken. »Er war doch vor Kurzem noch ein blühender, gut aussehender Mann – und jetzt, ich hätte ihn auf der Straße nicht gekannt!« Ein paar Tränen tauchen aus der Tiefe ihrer Augen auf und rinnen langsam über ihre Wangen.
Auch diese Tränen beobachte ich mit gierigem Entzücken. Nein, sie rühren mich nicht. Nichts kann mein Herz mehr weichmachen, zu schwer hat sie mich beleidigt! Aber ich genieße es, dass nun auch sie leidet; sie soll es auch fühlen, endlich fühlt sie es, was sie mit mir angerichtet hat, wie schwer sie sich durch ihre Spionage, ihre unbedachte Rederei gegen mich vergangen hat, welches Verhängnis sie auf mein Haupt herabgezogen hat.
Magda fährt fast fieberhaft erregt, halb zum Oberwachtmeister, halb zu mir gewendet, fort: »Aber ich kann dir doch schicken, Erwin, was du brauchst! Hätte ich das geahnt! Darf ich ihm ein Paket mit Esswaren schicken, Herr …?«
»Das dürfen Sie, Frau Sommer«, sagt Fritsch gnädig. »Auch Rauchwaren sind erlaubt. Hier ist überhaupt vieles erlaubt. Aber«, fährt er fort und sieht Magda augenzwinkernd aus seinem fetten Gesicht an, »Sie müssen bedenken, viele von diesen Kranken wissen wirklich nicht, wann sie satt sind. Sie fressen und fressen – ein ganzes Paket voll, zwei Brote an einem Tag! Und nachher sind sie krank, und wir haben unsere Mühe mit ihnen. Man darf nicht alles glauben, was diese Kranken erzählen.«










