Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Und ich muss still dabeisitzen und mir diese Gemeinheiten mit anhören, der fette Fritsch ist mein Vorgesetzter, ich darf ihm nicht widersprechen. Ich denke an die Hungergestalten drüben, die Kartoffelschalen fressen und jeden verspritzten Tropfen Sauce vom Tisch ablecken, und die Wut steigt wieder in mir hoch. Aber ich bezwinge mich, ich sage rasch und lächelnd: »Ich danke dir vielmals für deine guten Absichten, Magda, aber ich brauche wirklich nichts. Herr Oberwachtmeister Fritsch hat ganz recht: Die Kranken kennen kein Maß. Gott sei Dank gehöre ich nicht zu ihnen, gottlob werde ich wohl schon in kurzem von hier fortkommen …«
Verwirrt sieht mich Magda an. »Aber du sprachst doch eben selbst von Wasser, Erwin …«, sagt sie.
»Ich sprach von Gänsebraten«, lache ich, »und das Wasser habe ich nur um des Kontrastes willen dagegengesetzt. Nein, nein, Magda, mach dir nur keine Gedanken, wir werden vollkommen ausreichend ernährt, wie dir eben Herr Fritsch auch gesagt hat. Schließlich tue ich ja auch keine schwere Arbeit, ich mache Bürsten, Magda, ich bin ein richtiger Bürstenmacher geworden. Hättest du das je von mir gedacht, Magda? Du sitzt auf meinem Stuhl im Kontor, und dein Mann macht unterdes Bürsten. Gibt es nicht ein Lied vom munteren Bürstenmacher, ach nein, das ist ein munterer Seifensieder. Aber auch ich bin munter und vergnügt in meiner Zelle beim Bürstenmachen, ich pfeife und singe den ganzen Tag, ach nein, das tue ich natürlich nicht, denn das ist in diesem Haus der vielen Erlaubnisse verboten. Aber innerlich pfeife und singe ich …«
Ich habe immer rascher und höhnender gesprochen, mein Zorn riss mich fort, aber dabei beherrschte ich mich doch, äußerlich sah alles ganz glatt und zufriedenstellend aus. Ich bemerkte die steigende Verwirrung in Magdas Gesicht, sie hat ein paarmal während meiner Worte das Taschentuch benutzt und an ihren Augen gewischt. Fritsch hat sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt und betrachtet gelangweilt die Fliegen an der Zimmerdecke. Er ist viel zu grob besaitet, um den ironischen Unterton meiner Worte herauszuspüren.
Übrigens hat Magda ein Kostüm an, das ich noch nicht an ihr kenne: ein dunkelgraues, sehr schickes Kostüm mit einem hellen Nadelstreifen. Ich denke mit Bitterkeit daran, dass meine zu mir gehörende Frau in einer Zeit, da ich Maßloses litt, Zeit und Lust hatte, an ein neues Kostüm zu denken, zur Schneiderin zu gehen, Anproben zu halten … So ungerecht sind die Lose verteilt, so gedankenlos sind selbst die besten Ehefrauen! – Übrigens sieht Magda gut aus, sie hat sich in der Zeit unserer Trennung wesentlich erholt, sie ist ausgesprochen hübsch. Während ich in dieser Zeit …
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Nach meinen raschen, höhnischen Worten ist eine tiefe Stille eingetreten, ich habe es nicht eilig, sie zu unterbrechen. Magda bewegt sich etwas unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, ich bin gespannt, was sie nun vorbringen wird. Aber als sie dann zu sprechen anfängt, ist es nur ein Dank für die übersandte Generalvollmacht.
»Ich brauchte sie eigentlich gar nicht. Weder auf der Post noch auf der Bank haben sie wegen meiner Unterschrift Schwierigkeiten gemacht. Aber ich verstehe es schon, wie du es meintest, Erwin, und ich danke dir für deine gute Meinung.« Sie reicht mir ihre Hand über den Tisch, und ich fasse sie vorsichtig und kühl, hüte mich, sie wärmer zu drücken. Die Hand kehrt etwas enttäuscht zu ihrer Besitzerin zurück.
»Und wie gehen die Geschäfte?«, frage ich, um nur etwas zu fragen.
Magda aber belebt sich. »Ich freue mich, dir sagen zu können, Erwin, dass die Geschäfte gut gehen, jawohl, ausgesprochen gut. Die Ernte ist recht befriedigend ausgefallen, und wir haben einen sehr schönen Umsatz erzielen können. Besonders in Hülsenfrüchten habe ich ein unglaubliches Glück gehabt. Ich kaufte, ehe die Preise dann so plötzlich anzogen …«
Eine Weile reden wir nun ruhig von den Geschäften. Wirklich eine tüchtige Frau, ganz unbestreitbar. Wie ihr Auge leuchtet, ihre Stimme lebendig wird, wenn sie davon spricht! So leuchtete ihr Auge vorher nicht, als es um ihren Mann ging. Aber so war es schon immer bei ihr – das Geschäft, der Garten, das Haus: Alles war ihr wichtiger als der Mann. Ich könnte eifersüchtig werden auf diese toten Dinge, wenn das nicht doch ein bisschen lächerlich wäre. Aber vielleicht nicht so lächerlich wie diese auch vom Arzt gerühmte Tüchtigkeit. Würde sie einigermaßen vernünftig überlegen, sie machte sich die ganze Plage nicht, verpachtete das Geschäft gegen eine kleine Rente und lebte behaglich in unserem Eigentum. Aber auf so etwas kommt natürlich so eine Frau nicht.
So gehen meine Gedanken immer weiter, während ich zerstreut Magdas eifrigem Reden lausche, das die Erinnerung an alte Kunden wachruft, an Fahrten durch abseits liegende Dörfer, glückliche Abschlüsse … Aber plötzlich werde ich hellhörig, denn Magda hat plötzlich von »unserer Konkurrenz« gesprochen, jenem jungen Anfänger, der sich mir zum Trotz in meiner Vaterstadt etablierte und mir schon ein paarmal recht zu schaffen machte. Irre ich mich, oder klingt jetzt noch ein ganz besonderer Unterton in Magdas Stimme, etwas Wärmeres als vorher? Ich höre sehr aufmerksam an, was Magda da erzählt.
»Ja, denke dir, Erwin, ich habe Herrn Heinze jetzt persönlich kennengelernt. Ich hatte mich eines Tages doch zu sehr über dieses ständige gegenseitige Unterbieten geärgert, bloß um einander die Kunden abzufangen, an denen wir schließlich gar verloren. Da bin ich einfach zu ihm auf sein Büro gegangen und habe ihm gesagt: ›Ich bin Frau Sommer, Herr Heinze, und nun wollen wir doch einmal sehen, ob wir beide nicht zu einem vernünftigen Abkommen gelangen können! Für beide Firmen gibt es ein Auskommen hier in der Stadt, aber wenn wir uns weiter so unterbieten, werden wir alle beide Pleite machen!‹ Das habe ich ihm gesagt!« Magda sieht mich triumphierend an.
»Und was antwortete er?«, frage ich gespannt.
»Nun«, sagte sie, und wieder fiel mir der warme Unterton in ihrer Stimme auf, »Herr Heinze ist nicht nur ein gebildeter, sondern auch ein kluger Mann. In fünf Minuten waren wir zu einem Abkommen gelangt. Jeden Morgen, Mittag und Abend verständigen wir uns über die Preise, die wir zahlen, keiner bietet auch nur einen Groschen mehr oder weniger, und nach Kunden angeln gehen ist überhaupt abgeschafft!«
»O du Ahnungslose«, rief ich. »Der wird dich schön reinlegen, der Heinze ist doch ein ganz gerissener, mit allen Salben gesalbter Halunke! Ins Gesicht verspricht er dir natürlich alles, aber hintenrum fischt er dir einen Kunden nach dem anderen weg. Schließlich hat er das Geschäft fest in Händen, und du stehst ohne alles da!«
»Armer Erwin«, sagte Magda, »immer noch so voll Misstrauen! Nein, ich habe Herrn Heinze recht gut kennengelernt – ich bin auch so manchmal mit ihm zusammen …«
Ich wunderte mich, was hinter diesem »auch so« wohl steckte, aber Magda war nicht errötet.
Sie fuhr fort: »Soweit kenne ich die Menschen doch, dass ich sagen kann: Herr Heinze ist ein innerlich vollkommen sauberer, anständiger Mann, auf den ich mich jetzt blindlings verlasse. Und wenn du mich für vertrauensselig hältst, Erwin, so genügt dir vielleicht der Beweis aus unseren Büchern: Wir haben unseren Umsatz in diesem Herbst um das Anderthalbfache gesteigert. Das wäre doch wohl kaum der Fall, wenn Herr Heinze uns die Kunden weggeschnappt hätte!« Sie sah mich mit triumphierenden, freudeglänzenden Augen an.
Ich sagte eisig: »Die Zahlen allein beweisen auch noch nichts. Du sagst, die Ernte war gut, und das Wetter war einem frühen Drusch bestimmt günstig, da kann der Umsatz für eine kurze Zeit sehr wohl steigen und einem dabei doch Kunden verlorengehen … Übrigens, ich erinnere mich gar nicht, war dieser Heinze nicht verheiratet?«
»Doch!« nickte Magda. »Aber er ist seit einem Jahr geschieden.«
»Soso«, antwortete ich möglichst gleichgültig. »Also geschieden. – Natürlich schuldig geschieden?«
»Wie du auch fragen kannst!«, rief Magda beinahe zornig. »Ich habe dir doch gesagt: Er ist ein ganz sauberer Mann. Natürlich lag die Schuld auf der anderen Seite!«
»Natürlich …«, wiederholte ich ein wenig spöttisch. »Entschuldige nur, du bist ja direkt begeistert von diesem Mann, Magda!«
Einen Augenblick zögerte sie, dann antwortete sie mit fester Stimme: »Das bin ich auch, Erwin!«
Wir sahen uns eine lange Zeit stumm an. Viel Ungesagtes lag in der Luft. Selbst Oberwachtmeister Fritsch hatte was gemerkt, er hatte sich auf seinem Stuhl vorgelehnt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und betrachtete uns beide gespannt. Übrigens war die übliche Sprechstundenzeit längst überschritten.
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»Hast du die Scheidung schon eingeleitet?«, fragte ich schließlich mit leiser Stimme.
»Ja«, antwortete sie ebenso leise. »Gestern …«
Wieder trat tiefe Stille zwischen uns ein. Plötzlich sahen wir uns beide nach dem Oberwachtmeister Fritsch um, der mit einem Ruck von seinem Stuhl aufgestanden war und mit seinen Schlüsseln klapperte.
»Na ja«, sagte er fast verlegen, »eigentlich ist die Sprechzeit rum, aber meinetwegen – noch zehn Minuten.« Und er ging zum Fenster, wo er uns ostentativ den Rücken kehrte.
»Erwin«, flüsterte Magda hastig, »ich habe lange mit mir gekämpft, es kam mir so schlecht vor, dich in dieser Lage im Stich zu lassen. Aber dann, als ich vom Medizinalrat hörte, dass deine Sache gut steht, dass du vielleicht schon in Kürze entlassen wirst …«
Sie sah mich flehend an, aber ich schwieg. Ich half ihr mit keinem Wort, in mir herrschte ein verzweifelter, wilder Zorn über diese Verräterin.
»Wir wollen es alles so einrichten, wie du es wünschst, Erwin«, fuhr Magda noch hastiger fort. »Willst du das Geschäft wieder übernehmen, gut. Wir sind auch bereit, ganz von hier fortzuziehen, Heinrich, ich meine Herr Heinze, will dir dann auch sein Geschäft abtreten. Sieh mich doch nicht so an, Erwin, es hilft doch nichts! Wir waren uns doch innerlich längst ganz fremd geworden, denke doch zurück an diese schrecklichen Zeiten, wo wir uns immer nur stritten! Es ist doch besser, wir trennen uns …?«
Ich schwieg noch immer; also daher dieses neue Kostüm, diese frische Farbe, der warme zitternde Unterton der Stimme! Ein neuer Mann – und schon gurrt das verliebte Täubchen! Den Mann ins Kittchen gebracht – und nun kommt der andere mit der »inneren Sauberkeit«, der Hochanständige, dem sie blindlings vertraut! Ich sah aufmerksam auf ihren weißen, schon ein wenig fett werdenden Hals; der Kehlkopf bewegte sich, die Gute verschluckte, von den eigenen Worten gerührt, wie man so sagt, ihre Tränen. Ich hätte diesen Hals so gerne mit meinen Händen umspannt, und ich hätte ihn, das schwöre ich, trotz aller Fritsches nicht wieder losgelassen! Aber ich hütete mich wohl, nur wenige Tage trennten mich noch von der Freiheit. Sie wollte ich nicht allein treffen, da blieb dieser andere, der Hochanständige, der die Schamlosigkeit besaß, einem kranken Mann die Frau zu stehlen!
Sie sah mich noch immer an, und als sie nun wieder zu sprechen anfing, war der Ton ihrer Stimme kälter geworden, sie bat mich nicht mehr. Um ihren Mund lag ein Zug von Entschlossenheit, selbst Härte. »Du siehst mich immer nur an und sagst kein Wort«, begann sie wieder. »Ich sehe es wohl, in deinen Augen droht etwas Schreckliches. Aber das kann mich nicht beirren, nichts kann mich mehr beirren. Einmal in meinem Leben will ich Glücklichsein kennenlernen. Ich habe dir so viele Jahre geopfert, deiner Schwäche, deinem Eigensinn, deinem unsinnigen Dünkel und Menschenhass und dem vor allem, was du deine Liebe nennst! Das ist eine seltsame Art von Liebe, die ich nur zu spüren bekam, wenn du Forderungen hattest – aber nie durfte ich welche haben! Nein, davon habe ich genug …«
Sie hätte wohl noch weiter so geredet, aber auch ich hatte genug, von diesen Tiraden nämlich. Nachdem das Ködern durch Süße misslungen war, sollte ich nun durch den Hass zermalmt werden. Ich beugte mich weit über den Tisch und spie ihr mitten ins Gesicht. »Ehebrecherin …!«, rief ich.
Bei diesem lauten Ausruf drehte sich der Oberwachtmeister Fritsch am Fenster rasch um und starrte einen Augenblick maßlos verblüfft auf dies Bild, das sich ihm bot: ich, über den Tisch gelehnt, der Magda mit verächtlichem und drohendem Blick ansah, und meine ehemalige Frau, die keine Bewegung machte, den über die totenbleiche Wange laufenden Speichel abzuwischen, sondern die meinen Blick unverwandt erwiderte, aus der tiefsten Tiefe ihrer braunen Augen heraus. Und während wir uns so ansahen, war mir, als dränge ich mit meinem Blick tief in diese Frau ein, versänke den Bruchteil einer Sekunde in ihr, erspürte einen Menschen, den ich nie gekannt …
Dann war das vorbei, denn der Oberwachtmeister Fritsch hatte mich bei den Schultern gepackt und schüttelte mich wütend. »Sie unverschämter Flegel!«, schrie er. »Wie können Sie sich so etwas erlauben? Dem Medizinalrat werde ich Sie anzeigen! Das ist eine anständige Frau, verstehen Sie?« Und er schüttelte mich wieder mit all seinen Kräften, dass mein Kopf haltlos hin und her flog.
»Lassen Sie den Mann los, Herr Wachtmeister!«, sagte Magda mit tiefer, völlig erschöpfter Stimme. »Er hat vollkommen recht: Ich bin eine Ehebrecherin.« Einen Augenblick hielt sie ein, als überlege sie etwas. Dann wandte sie sich mir zu, ihr Auge leuchtete wieder, wieder hatte ihre Stimme Klang. »Und ich bin froh darüber, dass ich es tat!«, sagte sie mir ins Gesicht.
Dann ging sie langsam aus dem Sprechzimmer, endlich ihr Gesicht abwischend, aber nur ganz mechanisch.
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Wie ich die Nacht nach diesem furchtbaren Wiedersehen verbrachte, kann ich nicht sagen. Dass ich in ihr nicht eine Minute lang schlief, dessen bin ich sicher. Ich wäre in dieser Nacht wohl zerbrochen und hätte allem Jammer ein Ende gemacht, wenn mich nicht der Gedanke an Rache aufrechterhalten hätte. Und ich würde diese Rache nehmen bis ins einzelnste, aber nicht nur nach meiner Entlassung; sofort, morgen schon würde ich an die Ausführung meiner Pläne gehen.
Ich würde mir einen jungen, schneidigen Anwalt bestellen und Gegenklage erheben in der Scheidungssache Sommer gegen Sommer, und ich würde beantragen, Magda als schuldigen Teil zu verurteilen. Hatte ich doch einen Zeugen, den Oberwachtmeister Fritsch, vor dem sie selbst den Ehebruch zugegeben hatte. Ach, ich würde Magda noch alle Ursache geben, dieses unbesonnene Eingeständnis zu bereuen, und ich hatte allen Grund zur Hoffnung, dass auch dieser hochanständige, erfolgreiche Geschäftsmann Herr Heinrich Heinze ihr schwere Vorwürfe deswegen nicht ersparen würde!
Darüber hinaus würde ich aber noch den Antrag stellen, dass der scheidende Richter den beiden ehebrecherischen Teilen die Ehe miteinander für ewig verbieten sollte. Oh, sie sollte diese ersehnte Art Glücklichsein schon kennenlernen, die gute Magda, unter meiner Fuchtel! Ich würde mein Geschäft verkaufen und den beiden immer auf den Fersen bleiben, ein steter Racheengel, ein ewiges Mahnmal begangener Schuld! Mir würde das schon nicht über werden; war ich ein schlechter Partner in der Liebe, wie Magda plötzlich entdeckt hatte, so war ich ein umso besserer im Hassen!
Und ich malte mir aus, wie ich auf meinen Reisen im Hotelzimmer neben dem ihren schlafen und durch geheimnisvolle Klopfzeichen ihren Schlaf stören würde. Ich sah mich, unerkennbar verkleidet, in das gleiche Zugabteil wie sie steigen und hinter einer dunklen Brille hervor ihr Tun beobachten; ich fuhr mit einem Auto hinter ihnen drein und bremste erst im allerletzten Augenblick, mich an ihrer Todesangst weidend, und ich sah sie – herrlichstes Bild meiner Rache – sterben, hingemordet von mir, aber unentdeckbar, und ihn an ihrer Seite knien, völliger Verzweiflung hingegeben, und ich stand neben ihm und flüsterte ihm meine Tat ins Ohr, gewiss, sie war unentdeckbar.
Ich raste, die Bilder jagten sich in meinem Hirn, ich hatte Fieber. Meine Gefährten schliefen schon längst, und noch immer stand ich am Zellenfenster, spann das Gewebe meiner Rache immer dichter und verworrener, zum kalten Gefunkel der Sterne aufblickend.
Der Morgen kam und fand mich leer und in fast völliger Apathie. Ich werde mein Frühstück ja wohl mit den anderen gegessen haben, erinnern kann ich mich nicht daran. Noch vor dem Antreten zur Arbeit benutzte ich einen unbewachten Augenblick und schlüpfte in meine Arbeitszelle hinüber – der Anblick meiner Leidensgenossen ekelte mich. Ich nahm ein paar Borsten zwischen die Finger und versuchte, sie in das Bürstenloch einzuführen; ich hatte zu viele gegriffen, wie in meiner ersten Anfängerzeit! Ich ließ sie achtlos auf den Boden fallen und ging an den Schrank. Ich hatte jetzt in ihm Briefpapier und Umschläge, ich musste den Brief an den Anwalt schreiben. Aber, so dringlich mir das auch in der Nacht noch erschienen war, jetzt konnte ich mich nicht dazu aufraffen.
Ich starrte eine Weile auf das Papier, dann ging ich ans Fenster. Draußen herbstelte es schon. Graue Nebelschwaden zogen über das Land. Ich sah die ersten frühen Kartoffelbuddler zwischen den Reihen. »Es wird Herbst«, sagte ich zu mir. »Das ist schlimm.« Ich wusste selbst nicht, was ich meinte. Ich wusste nur, dass es schlimm um mich stand, sehr schlimm.
Zwei Zeilen eines Gedichts, das ich einmal gelesen, zogen mir durch den Kopf: »Dies ist der Herbst, der bricht dir noch das Herz.« Hartnäckig kamen sie wieder, sie wiederholten sich in mir mit einer verzweifelten Hartnäckigkeit. »Dies ist der Herbst, der bricht dir noch das Herz.« Zwei Worte gesellten sich noch dazu: »Fliege fort, fliege fort!« Ja, wer fortfliegen könnte von dieser beschmutzten Erde, von diesem besudelten Ich! Aber immer wieder: »Dies ist der Herbst, der bricht dir noch das Herz.« Und immer nachklingend die Mahnung: »Fliege fort! Fliege fort!«
Ich sah nach dem starken Schneidemesser hinüber, mit dem ich die Borsten glatt schnitt. Es würde ein Leichtes sein, sich mit ihm den Arm aufzuschneiden, dass ich verblutete. Aber ich wusste, ich würde nie den Mut dazu haben. Denn ich war feige, in dieser Minute gestand ich es mir rückhaltlos ein, dass ich ein Feigling war; bei der Aufzählung meiner schlechten Eigenschaften hatte Magda diese noch vergessen. »Fliege fort!« Und doch zu feige …
So fand mich der Oberpfleger, der mich unter den zu Verbindenden vermisst hatte. Er fuhr mich hart an: Meine Furunkel würden nie besser werden, wenn ich nicht selbst für regelmäßiges Verbinden sorgte!
Ich folgte ihm vollständig gleichgültig ins Arztzimmer. Der Strom der Leidenden hatte sich schon verlaufen, ich war der Letzte. Der Oberpfleger riss mir die Verbände ab, salbte und jodierte oder stach auch einmal in einen ihm reif scheinenden Furunkel. Und so empfindlich ich sonst gegen Schmerz bin, an diesem Morgen machte mir das alles gar nichts. Ich war völlig stumpf.
Dann klingelte das Telefon im Glaskasten. Der Oberpfleger ging dorthin, die Tür weit offenlassend. Einen Augenblick stand ich noch regungslos, dann suchte mein Blick den Medikamentenschrank, seine Tür stand weit offen. Rasch trat ich einen Schritt auf ihn zu. Dort lag Vergessen für viele Stunden, Auslöschen der unerträglichen Qual, unter der ich jetzt lebte. Gute, Frieden schenkende Schlafmittel für viele Tage. Meine Hand griff nach einem Glasröhrchen, als mein Blick auf eine Reihe Flaschen fiel, die im untersten Fach standen. Gleich vornan stand eine helle Flasche mit dem Etikett: »Alkohol 95%«.
Ich hatte keinen Entschluss gefasst, ich handelte rein mechanisch. Ich kümmerte mich auch nicht um die offenstehende Tür oder den Oberpfleger, der jeden Augenblick zurückkommen musste. Ich nahm die Flasche und ging zu dem in die Wand eingelassenen Waschtisch. Ich nahm ein Wasserglas und füllte es zu zwei Dritteln mit Alkohol, dann füllte ich Wasser nach, sehr vorsichtig. Meine Hand hat dabei nicht gezittert. Ich setzte das starke Gemisch an den Mund und trank es mit drei, vier Schlucken leer.
Einen Augenblick stand ich wie betäubt, eine ungeheure Helle breitete sich rasch in mir aus. Ich lächelte, ach, das Glück, noch einmal das schrankenlose, herrliche Glück. Meine Elinor, du reine d’alcool! Wie ich dich liebe! Wie – ich – dich – liebe! Dann bin ich bewusstlos vornüber zu Boden gestürzt, gerade auf mein geschändetes Gesicht.
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Es hat keinen Termin meinetwegen gegeben. Das Verfahren gegen mich wurde nach § 51 eingestellt und meine dauernde Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt verfügt. Einen Scheidungstermin gab es wohl, aber ich brauchte zu ihm nicht zu erscheinen, damals war ich schon entmündigt. Ein Obersekretär, vorne in der Verwaltung der Anstalt, ist mein Vormund geworden. Übrigens sind wir beide schuldig geschieden, aber Magda hat ihren Heinrich Heinze heiraten dürfen, über meinen Antrag ist gar nicht verhandelt worden. Ich bin ja nur ein Geisteskranker. Ich habe die Heiratsanzeige in der Zeitung gesehen. Jetzt haben sie zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen; sie haben die Geschäfte zusammengelegt …
Was geht mich das alles an? Was geht mich die Welt draußen noch an? Es ist mir alles gleichgültig geworden, ich bin ein alternder, abscheulich aussehender Bürstenmacher, mittlerer Arbeitsleistung, geisteskrank. Die Zeiten der ersten tobenden Verzweiflung sind längst vorbei, schon längst habe ich es aufgegeben, meinen Arm unter das Schneidemesser zu legen und zu versuchen, ob ich nicht vielleicht doch eine Minute meines Lebens mutig bin. Ich weiß, jede einzelne Sekunde meines Lebens war ich ein Feigling, bin ich ein Feigling, werde ich ein Feigling sein. Umsonst, auf etwas anderes zu warten.
Ich genieße ein bestimmtes beschränktes Vertrauen im Hause, ich falle nie lästig, ich mache keinem Arbeit, ich sondere mich von den anderen ab. Ich darf mich ziemlich frei bewegen im Bau. Nur darf ich nie das Arztzimmer betreten, ohne dass der Oberpfleger dabei ist, das ist mir bei acht Wochen strengem Arrest verboten. Ich möchte es oft, ich könnte es manchmal, aber ich wage es nie. Ich bin eben feige.
Ich habe eine behagliche Stellung, ich habe immer genug zu rauchen und leide nie Hunger. Zweimal in der Woche kauft mein Vormund von den Geldern, die meine frühere Frau regelmäßig für mich einzahlt, ein für mich, was mein Herz begehrt und was zulässig ist. Ich kann nie verbrauchen, was eingezahlt wird, ich werde als wohlhabender Mann sterben. Ich ahne es nicht, wer mich beerben wird, es interessiert mich auch nicht. Mein früher errichtetes Testament ist durch die Scheidung hinfällig geworden, und ein neues darf ich nicht errichten, ich bin nämlich geisteskrank.
Aber ich bin doch nicht so geisteskrank und apathisch geworden, dass ich nicht noch einen Plan hätte und eine kleine Hoffnung. Gewiss, den Gedanken an das Schneidemesser habe ich aufgeben müssen, aber ich kann erleiden, ich vermag zu ertragen, was über mich hereinbricht. Ich bin, wie ich wohl ohne Überheblichkeit sagen darf, ein großer Dulder.
Ich habe noch nicht erwähnt, dass wir im untersten Stock des Anbaus immer fünf oder auch sieben Tuberkulöse liegen haben, ehemalige Leidensgefährten, die man von uns isoliert hat. Sie bekommen ein etwas besseres und reichlicheres Essen und brauchen nicht mehr zu arbeiten, bis sie sterben. Diese Kranken haben kleine Fläschchen, in die sie ihren Auswurf spucken, und ihre Isolierung ist nicht so streng, dass ich, der ich mich ziemlich frei im Bau bewegen darf, nicht manchmal ein solches Fläschchen erwischen könnte. Ich trinke es dann einfach aus. Ich habe schon drei solcher Fläschchen ausgetrunken, und ich werde noch mehr austrinken.
Nein, ich will nicht in diesem Totenhaus uralt werden und dann langsam verrecken, ich will einen Tod sterben, wie ihn alle draußen haben können – nach eigener Wahl. Ich bin sicher, ich bin heute schon tuberkulös. Ich habe ständig Stechen in der Brust und huste viel, aber ich melde mich nicht zum Arzt, ich verstecke meine Krankheit; ich will erst so krank sein, dass ich unter keinen Umständen gerettet werden kann.
Und dann, wenn ich erst im Anbau liegen werde und die letzte Stunde ganz nahe ist, werde ich den Medizinalrat zu mir kommen lassen, und ich werde zu ihm sprechen: »Herr Medizinalrat, ich habe Ihnen viel Kummer und Ärger gemacht, und Sie haben es mir nie verzeihen können, dass Sie meinetwegen Ihr bereits erstattetes Gutachten wieder umstoßen mussten, wodurch Ihr Ruf als Psychiater bei den Gerichten gelitten hat. Aber nun, da mein Tod ganz nahe ist, verzeihen Sie mir, und tun Sie mir noch einen letzten Gefallen.«
Und er wird seinen Frieden mit mir schließen, weil ich ein Sterbender bin, und man einem Sterbenden nichts abschlägt, und wird fragen, was für ein Gefallen das ist.
Und ich werde wieder zu ihm sprechen: »Herr Medizinalrat, gehen Sie ins Arztzimmer und mischen Sie mir mit eigener Hand aus Alkohol und Wasser einen Schnaps, nur ein Wasserglas voll. Nicht so einen, dass ich sofort hinstürze und nichts von ihm habe, wie damals, sondern einen, der mich wirklich noch einmal glücklich macht.«










