Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Und so beginnt seine Wanderung. Sie ist schwieriger, aber auch leichter, als er dachte. Von den beiden sieht und hört er nichts wieder, doch der Schnee liegt schrecklich hoch, bei den Schneisen in breiten Wehen, in denen er bis zu den Armen versinkt. Und von der Chaussee gleitet er so oft ab, dass er schließlich darin Routine hat: Sobald er den Boden unter den Füßen verliert und in den Graben rutscht, wirft er sich mit aller Gewalt in die frühere Gehrichtung, dann landet er meist noch auf fester Erde.
Von Zeit zu Zeit macht er einen Chausseestein frei und leuchtet die Zahl an. Er kommt langsam vorwärts. Mehr als drei Kilometer schafft er nicht in der Stunde. Gut ist, dass er den Kognak hat, aber trotz alledem: den Frühzug bekommt er nicht mehr in Quanz, und vor allem: er muss dort erst in ein Hotel und schlafen und schlafen!
Als er die geleerte Flasche in den Schnee wirft, hat er noch vier Kilometer vor sich. Vor acht kann er nicht in Quanz sein. Die letzten Kilometer fällt er nur vorwärts, von einem Fuß auf den anderen, trotzdem zum Schluss die Chaussee fast schneefrei ist, außerhalb des Waldes rein geweht vom Winde.
Dann sitzt er im Deutschen Adler in Quanz auf der Bettkante, das Zimmer ist eisig, der eben angezündete Ofen qualmt. Er schläft immer wieder, zur Seite fallend, ein, aber er muss sich ausziehen, er kann nicht schlafen in dem nassen Zeug. Seine Glieder sind starr, seine Knochen voll Eis.
Er streift den Strumpf ab …
Er starrt, er sitzt da, verständnislos. Dann helfen die Finger den Augen beim Suchen. Sie finden – einen weichen zerriebenen Papierbrei, fast farblos, Papier, das acht Stunden zwischen feuchtem Fuß und Strumpf zerarbeitet wurde.
Dreitausend – sein letztes Geld, der letzte Rest vom Unterschlagenen! Er wirft sich aufs Bett und bleibt liegen, wie er hinfällt, ohne Denken. Etwas später bestellt er sich Kognak aufs Zimmer, auch heißen Rotwein mit Nelken und Zucker.
Drei Tage bleibt er in seinem Bett, immer trinkend, dann ist das kleine Geld aus der Brieftasche alle. Er geht los und stellt sich der Polizei, genauer dem Oberlandjäger von Quanz, einem Städtel mit dreitausend Einwohnern. Es ist zu Ende.
Dies hat er erlebt, es ist etwas über fünf Jahre her. Und dies hat Kufalt geträumt, viele, viele Nächte lang, die ganzen ersten Monate nach seiner Verhaftung: den Nachtmarsch durch den Wald und den Augenblick, da er aus dem Strumpf die zermatschten Tausender holte.
Es hat ihm einen Stoß versetzt, es ist das Schlimmste, was er je erlebt hat. Es hat seinen Stolz für immer geknickt, die Einbildung, er wäre wer. Nicht einmal zum Ganoven taugt er. Nie wird er jemandem dies Erlebnis erzählen, stets hat er erklärt, er habe alles Geld verludert, auch diese drei.
Später ist der Traum seltener gekommen, aber immer einmal kam er wieder. Auch heute Nacht. Auch diese Nacht. Da das neue Leben beginnt, klirrt das alte Kettenglied.
Aber seltsam, der Traum hat sich gewandelt, ein wenig nur, eine geringe Kleinigkeit war anders.
Er erinnert sich genau: Auch heute Nacht hat er den Fuß auf den Chausseestein gesetzt, den Senkel gelöst, den Schuh abgestreift. Nur … es waren keine drei Tausender, die er in den Strumpf schob, es war ein Hunderter …
Es war der Hunderter!
2
Willi Kufalt sitzt in Gedanken verloren da. Zögernd bückt er sich nach seinem Strumpf. Eigentlich müsste ich ihn dem Netzemeister wiedergeben. Aber das kann ich nun doch nicht. Lieber zerreiß ich ihn.
Er hat ein deutliches Gefühl von dem neuen Leben, das nun beginnen soll. Es ist etwas wie das Mondlicht heute Nacht. Klar, fühlt er. Nichts mitschleppen.
Er fasst in den Strumpf …
Er lässt die Hand wieder vom Strumpf. Er steht mit einem Ruck auf und stellt sich unter das Fenster, in aufmerksamer Haltung, denn Hauptwachtmeister Rusch kommt in die Zelle.
Der Stationswachtmeister bleibt an der Tür stehen.
Der Hauptwachtmeister sieht den Gefangenen nicht an. Er betrachtet erst den Kübel, dann die Inventaraufstellung auf dem Tisch, dann das Arrangement aus Schüsseln, Bürsten, Dosen, Putzkasten auf dem Fußboden. Irgendetwas missfällt ihm, er klappert erst mit den Schlüsseln, dann stößt er mit der Fußspitze die Bürsten durcheinander.
»Erst Wichse, dann Kleider«, befiehlt er.
Kufalt geht hin, bückt sich und legt die Bürsten in die geforderte Ordnung.
»Was gelernt, was?« fragt Rusch gnädiger. »Kein Schwein mehr?«
»Nein«, sagt Kufalt und denkt daran, dass er hier beispielsweise gelernt hat, sich in der Essschüssel zu waschen und mit dem Netzemesser, einem schwärzlichen Stummel, zu essen, bloß um den befohlenen Paradeglanz der Dinge nicht zu zerstören.
Der Hauptwachtmeister geht gegen die Tür. Aber er hat noch etwas, er bleibt stehen und betrachtet nachdenklich den Wandschrank. Er fasst mit dem Finger hinauf und wischt die Kante entlang.
»Herr Suhm«, sagt er, »Briefbogen ausgeben. Ich mach allein weiter.«
Der Stationswachtmeister verschwindet.
»Der Sethe. Der Sethe«, sagt Rusch und betrachtet die Decke. »Nimmt er an?«
Kufalt überlegt einen Augenblick. Er weiß es zwar nicht, ob der alte Kartoffelschäler seine drei Monate Strafe wegen Beleidigung des Küchenwachtmeisters annehmen oder ob er Berufung einlegen wird, denn der spricht ja mit ihm nicht mehr. Aber davon erzählt er dem Rusch lieber nichts.
»Glaube nicht, Herr Hauptwachtmeister«, sagt er. »Wird wohl Berufung einlegen.«
»Soll er nicht. Soll nicht dumm sein. Mit ihm reden. Strafe annehmen, dann Bewährungsfrist, morgen raus. Sonst – bleibt er hier, Untersuchungshaft – Verdunkelungsgefahr.«
Kieke da, denkt Kufalt, das haben die ja wieder fein hingedreht. Acht Jahre hat der olle Sethe abgerissen, da wissen die ganz genau, dass ihm jetzt jeder Tag zu viel wird. Damit wollen sie ihn kriegen.
Und laut: »Ich kann ja heute Mittag mal mit ihm reden. Aber ich glaub nicht, Herr Hauptwachtmeister, dass da was zu machen ist. Der hat einen Rochus im Leib.«
»Soll nicht dumm sein, annehmen. Dann Bewährungsfrist. Sonst – weiter Knastschieben!« Der Hauptwachtmeister macht eine Pause.
Darauf sagt er bedeutungsvoll: »Und dann …«
Er bricht ab. Sehr bedeutungsvoll.
Ja, und dann …, denkt Kufalt. Ich weiß schon, was du meinst. Es ist nämlich noch gar nicht sicher, dass der Sethe dann in einem Vierteljahr rauskommt. Erst mal werden ihn wohl die Küchenhengste ein bisschen erledigen in seinem dunklen Keller, und ein Gefangener ist kein Zeuge. Bisschen in die Mache nehmen, dass er sein eigenes Geschrei mal hört. Und dann werden ihn die Beamten ein ganz kleines bisschen reizen – der ist ja jetzt schon wie so ein Teekessel am Überkochen –, bis er wieder was Dummes sagt und wieder Beamtenbeleidigung. Und vielleicht ist er gar tätlich geworden, ganz egal, ob er’s wirklich geworden ist – dem können sie Knast besorgen, bis er auf der Irrenabteilung ist …
»Schlauer ist, er nimmt an«, sagt also Kufalt auch.
»Siehst du«, sagt der Hauptwachtmeister gnädig. »Ihm sagen. Soll sich vormelden zum Gerichtsschreiber. Kommt heute her. Dann morgen früh sieben raus.«
»Jawohl, Herr Hauptwachtmeister«, sagt Kufalt und weiß, dass er mit Sethe nicht ein Wort sprechen wird.
Der Hauptwachtmeister nickt. »Vernünftig. Bist immer vernünftig gewesen – bis auf die anderen Male. Fertigmachen. Hole dich gleich zum Direktor. Maul halten.«
Der Hauptwachtmeister ist weg und revidiert weiter die Zellen auf Ordnung und Sauberkeit.
Kufalt steht da.
Jetzt vor acht Uhr zum Direktor! Schwager Werner hat geschrieben! Vielleicht ist die Schwester selbst da, ihn abzuholen! Aber dafür ist es doch noch einen Tag zu früh? Es ist natürlich wegen etwas anderem, es ist wegen Sethe. Warum hat der Hauptwachtmeister zum Schluss gesagt: Maul halten …?
Er wird dem Direktor sagen, was er will. Direktor Greve ist der einzige Mensch im Bau, dem man alles sagen kann. Er kann ja nicht viel machen, seine Beamten stimmen ihn immer nieder, aber er ist anständig, er tut, was er kann. Und er will nur können, was anständig ist.
Kufalt denkt wieder an seinen Hunderter. Aber er nestelt nicht mehr an seinem Strumpf. Er räumt das Inventar ein. Scheibe, denkt er. Ja, Scheibe! Ausgerechnet hier fange ich mit Anständigkeit an. So blau!
Und dann: Eine schöne Dummheit hätte ich gemacht, hätte ich den Hunderter zerrissen. Die sind doch alle so, die draußen sind auch nicht anders. Sethe – den werden sie noch nach acht Jahren Knast erledigen. Und ich soll anständig sein? So blau!
Der Hauptwachtmeister steckt den Kopf durch die Tür. »Mitkommen«, sagt er.
3
Kufalt kommt immer besonders gerne aus dem Zellengefängnis zu denen »vorne«.
Er geht einen halben Schritt vor dem Hauptwachtmeister her, am Glaskasten der Zentrale vorbei. Hier wird es schon ganz anders, hier sind die großen Zellen der Handwerker: der Schuster und Schneider, der Steindrucker und des Bücherwarts. Hier stehen die Zellentüren weit offen, und die Handwerker laufen ein und aus, zur Wasserleitung und zum Werkmeister, mit Bügeleisen und mit Lederkupons.
Dann aber kommt die große feste Eisentür.
Der Hauptwachtmeister schließt zweimal, Kufalt tritt durch die Tür und steht auf dem Büroflur. Ein kahler Flur, weißgetünchte Wände, das Linoleum des Bodens fleckenlos spiegelnd, und eine endlose Reihe Türen. Kufalt kennt sie alle: Sprechzimmer, Lehrer, Pastor, zweites Sprechzimmer, zwei Obersekretäre von der Arbeitsinspektion, das Vorzimmer zum Direktor, Direktorzimmer, Oberwachtmeister vom Postdienst. Und auf der anderen Seite wieder zurück: Telefonzentrale, Polizeiinspektor, Arbeitsinspektor, Ökonomieinspektor, Kasse, Kasseninspektor, Arzt, Jugendfürsorger, Konferenzzimmer, Untersuchungsrichter und die Aufnahme.
In fast allen diesen Zimmern ist er gewesen mit Bitten und Gesuchen, um getadelt zu werden, um Schriftstücke zu unterschreiben. Von hier aus ist sein Schicksal geregelt worden, sind Hoffnungen erweckt und enttäuscht worden.
Der Polizeiinspektor hat ihm einmal drei Monate lang seinen Besuch versprochen und ist nie gekommen. Seitdem hasst er ihn. Der Lehrer hat ihm einmal zwanzig fast neue Zeitschriften auf die Zelle gegeben, der war überhaupt immer anständig. Mit dem Arbeitsinspektor hat er oft Krach gehabt, weil die Abrechnung nicht stimmte. Einmal gab der Ökonomieinspektor acht Wochen zu flott Lebensmittel aus, und am Schluss des Quartals bekam dann das ganze Kittchen solchen Fraß, dass man nichts mehr denken konnte wie Kohldampf, Kohldampf, Kohldampf … Der Pastor, nun, über den war überhaupt nicht zu reden. Der war nun schon über die Sechzig und machte seit vierzig Jahren im Bunker Dienst – der kälteste Pharisäer auf dieser pharisäischen Erde.
Der Direktor andererseits, nun, über den ließ sich auch nicht reden. Ein herrlicher Mann … zu gut vielleicht, zu gut sicher. Er hat schon viel Böses durch seine Güte erfahren, darum hat er den rechten Mumm nicht mehr, etwas gegen seine Beamten durchzudrücken, die doch immer recht behalten. Aber immer noch gut.
Der Hauptwachtmeister klopft an die Tür. »Der Strafgefangene Kufalt«, meldet er.
Der Direktor hinter seinem Schreibtisch sieht hoch. »Es ist gut, Hauptwachtmeister. Sie können gehen, ich schicke den Mann dann zurück.«
So eine Art Vorführung wurmt den Hauptwachtmeister, diesen mächtigen Mann, das weiß Kufalt. Beim vorigen Direktor ist er bei jeder Unterredung dabeigewesen und hat feste mitgeredet. Aber der Hauptwachtmeister verzieht keine Miene, er macht kehrt und geht aus dem Zimmer.
Der Direktor sitzt hinter seinem Schreibtisch. Er hat frische Farben, ein paar Durchzieher in der linken Backe und blaue Augen. Außerdem hat er eine Platte, die von den frischen Farben auch was abbekommen hat, gegen die Stirn ist sie rosa, gegen den Scheitel wird sie immer röter.
»Setzen Sie sich«, sagt der Direktor. »Sie nehmen eine Zigarette, nicht wahr, Kufalt?«
Er bietet ihm die Schachtel an, es ist eine Sorte zu sechs Pfennig, Kufalt sieht es, etwas Fabelhaftes. Und nun gibt ihm der Direktor auch noch Feuer.
Er hat sehr gepflegte Hände und einen tadellos sitzenden Sportanzug, seine Manschetten fallen so sauber über die Handgelenke, Kufalt kommt sich wie ein Schwein vor.
»Morgen ist es nun überstanden«, sagt der Direktor. »Ich will Sie fragen, ob ich Ihnen noch irgendetwas helfen kann?«
Kufalt möchte in seiner jetzigen Stimmung alles akzeptieren, was Direktor Greve ihm etwa vorschlägt, aber er hat keine eigenen Vorschläge – trotz seiner Hilflosigkeit. So sieht er den Direktor nur abwartend an.
»Was haben Sie für Pläne?« fragt der. »Sie haben doch Pläne?«
»Ich weiß nicht recht. Ich denke, meine Verwandten schreiben noch.«
»Sie stehen mit ihnen in Korrespondenz?« Und erläuternd: »Sie wissen, ich lese die Post nicht. Die Zensur macht der Herr Pastor.«
»In Korrespondenz? Nein. Ich habe ihnen in den letzten drei Monaten jedes Mal einen Brief geschrieben, wenn Schreibtag war.«
»Und sie haben nicht geantwortet?«
»Nein, noch nicht.«
»Ihre Verwandten stehen gut da?«
»Ja.«
»Möchten Sie, wenn keine Antwort kommt – sie kann natürlich noch kommen, wenn aber keine kommt –, möchten Sie einfach hinfahren zu Ihren Verwandten?«
»Nein«, sagt Kufalt ganz erschrocken. »Nein, keinesfalls.«
»Gut. – Und Sie wollen ernstlich arbeiten?«
»Am liebsten«, sagt Kufalt stockend, »möchte ich irgendwohin, wo niemand etwas weiß. Ich habe an Hamburg gedacht.«
Der Direktor wiegt den Kopf hin und her. »Hamburg … Großstadt …«
»Ach Gott, Herr Direktor, ich habe die Nase wirklich voll. Das lockt mich nicht mehr.«
»Die Versuchungen der Großstadt …? Ach nee, Kufalt, an die glaube ich auch nicht. Oder vielmehr, die in der Kleinstadt sind genauso. Aber die Arbeitslosigkeit ist in Hamburg natürlich noch schlimmer. Sie haben keinen, der Ihnen dort hilft? Hier könnte ich vielleicht …«
»Nein, bitte nicht hier. All die Gesichter …«
»Gut. Vielleicht haben Sie recht. Aber was dort? Was haben Sie sich so gedacht?«
»Ich weiß doch noch nicht. An Buch- und Kassenführung komme ich natürlich nicht wieder ran. Und eine Stellung kriege ich auch nicht so leicht, wo die fünf Jahre in meinen Papieren fehlen …«
»Nein«, bestätigt der Direktor. »Kaum.«
»Aber ich kann doch Schreibmaschine. Wenn ich mir eine Maschine kaufte und Adressen schriebe im Akkord? Und später eine richtige Schreibstube einrichtete? Ich kann gut Maschineschreiben, Herr Direktor.«
»Sie besitzen keine Maschine? Haben Sie Geld?«
»Nur die Arbeitsbelohnung.«
»Und wie viel macht die?«
»Ich denke, dreihundert Mark. – Ach, Herr Direktor, wenn Sie veranlassen würden, dass die mir hier gleich ganz ausbezahlt werden? Dass ich sie mir nicht alle Wochen vom Wohlfahrtsamt holen muss?«
Der Direktor macht ein bedenkliches Gesicht.
»Ich will so sparsam sein, Herr Direktor!« bittet Kufalt. »Ich will keinen Pfennig verludern. Aber nicht aufs Wohlfahrtsamt!« Und leise: »Ich möchte auch mit so was durch sein.«
Der Direktor kann Bitten schlecht widerstehen. Er sagt: »Gut. Das ist erledigt. Ich werde veranlassen, dass Sie Ihre Arbeitsbelohnung voll ausbezahlt kriegen. Aber, Kufalt – von den dreihundert Mark müssen Sie leben, vielleicht zwei Monate, drei Monate leben, da können Sie sich keine Schreibmaschine kaufen.«
»Auf Raten?«
»Nein, nicht auf Raten. Sie können ja nicht mit festen Einnahmen rechnen, das kann alles fehlgehen mit Ihren Adressen. Was also …?«
»Meine Verwandten …«
»Die lassen wir erst einmal ganz aus dem Spiel. Was machen Sie also?«
»Ich – weiß – doch – nicht.«
Des Direktors Stimme wird immer frischer: »Und wie lange haben Sie nicht Schreibmaschine geschrieben? Fünf Jahre nicht? Über fünf Jahre nicht? Ja, das wird dann im Anfang nur mühsam gehen, viel werden Sie nicht schaffen.«
»Ich kann gut hundert Adressen in der Stunde tippen.«
»Haben Sie gekonnt. Heute nicht mehr. Sie denken, Sie sind gesund. Sie denken, Sie haben Ihre zwei Pensen gestrickt, das geht auch draußen. Aber hier hat Sie nichts abgelenkt, Kufalt, draußen kommen all die Sorgen und die Versuchungen. Sie sind doch den Umgang mit Menschen nicht mehr gewohnt. Und dann die Kinos, in die Sie nicht dürfen, und die Cafés, für die Sie kein Geld haben. Das wird alles sehr schwer für Sie sein, Kufalt. Das Schwere fängt erst an.«
»Ja«, sagt Kufalt. »Ja.«
»Sie waren lange genug hier im Bau, Kufalt. Wie viele haben Sie wiederkommen sehen?«
»Viele, viele.«
»Sie müssen stärker sein als die alle. Sie werden oft denken, das lohnt ja gar nicht die Mühe – für was denn? Ich komme ja doch nicht wieder hoch. – Manche kommen aber doch wieder hoch. Nur streng müssen Sie es angehen lassen, Kufalt, ganz streng.«
»Ja, Herr Direktor«, sagt Kufalt gehorsam.
Das Zimmer ist zart bräunlich getönt. Die Fenster sind keine Löcher in der Wand, sondern haben Gardinen, weiße Mullgardinen mit zartgrünen Streifen. Ein richtiger Teppich liegt auf dem Boden.
»Sie sind wie ein Kranker, der lange im Bett gelegen hat. Sie müssen erst wieder gehen lernen, Schritt für Schritt. Wer lange im Bett lag, muss einen Stock zur Stütze haben oder jemanden, der ihn führt. – Noch eine Zigarette? Gut.«
Der Direktor wartet einen Augenblick. »Sie denken jetzt, lass den man reden, ich find mich schon zurecht. Es – ist – aber – sehr – schwer. Bis Sie sich reingefunden haben in das Leben draußen … Sie haben doch früher nie gelebt ohne festes Einkommen? Sehen Sie! Bis Sie sich eingelebt haben, ist Ihr Geld alle. Und was dann?«
»Man möchte bitten«, sagt Kufalt mühsam lächelnd, »dass Sie einen hierbehalten, Herr Direktor. Ich bin ja doch wie ein Mann, dem man die Hände abgeschlagen hat.«
»Nicht abgeschlagen«, sagt der Direktor. »Aber gelähmt sind sie, steif sind sie. Ich will Ihnen was vorschlagen. Es gibt ein Haus in Hamburg, da können Sie hingehen, da werden stellungslose Kaufleute aufgenommen, auch strafentlassene Kaufleute. Da ist eine Schreibstube dabei, Sie arbeiten dort tagsüber, genau wie auf einem Büro, und dafür haben Sie Ihr Zimmer und Ihr Essen frei. Wenn Sie mehr verdienen, wird Ihnen das gutgebracht. Sie brauchen Ihre Arbeitsbelohnung nicht anzugreifen, die wird sogar mehr, wenn Sie fleißig sind. Und sobald Sie sich sicher fühlen und irgendeine Arbeit wissen, gehen Sie raus aus dem Heim. Sie können jeden Tag rausgehen, Kufalt.«
»Ja«, sagt Kufalt überlegend. »Es sind nicht nur Strafentlassene da?«
»Nein«, sagt der Direktor. »Soviel ich weiß, auch sonst Stellungslose.«
»Und ich kann da ohne Weiteres hin?«
»Ganz richtig. Sie lernen gehen, Kufalt, weiter nichts. Es wird natürlich da so eine Art Hausordnung geben, und sehr luxuriös wird es auch nicht grade sein, aber Sie sind ja nicht verwöhnt.«
»Nein«, sagt Kufalt aufatmend. »Nein, das bin ich nicht. Das ist sehr gut. Das will ich tun.«
Er sieht vor sich hin. Der Hunderter im Strumpf brennt wie Ausschlag. Er kämpft mit sich. Er möchte ihn dem Direktor geben. Da, nehmen Sie, ich will klaren Weg haben. Der Direktor würde schon nichts fragen. Aber dann tut er es doch nicht, es sähe so großsprecherisch aus, als wollte er seine Dankbarkeit abbezahlen, aber oben in der Zelle wird er ihn gleich zerreißen. Bestimmt.
»Ja«, sagt der Direktor. »Dann ist also alles klar. – Und wenn irgendetwas nicht klappt, dann schreiben Sie mir.«
»Ja. Und ich danke Ihnen auch, Herr Direktor. Ich danke Ihnen für alles.«
»Gut«, sagt der Direktor und steht auf. »Und nun bringe ich Sie noch zum Pastor. Der besorgt die Anmeldung im Heim.«
»Zum Pastor …?« fragt Kufalt. »Ist es ein frommes Heim?« Er bleibt sitzen.
»Nein, nein. Wenn auch ein Pastor sein Leiter ist. Es ist ganz interkonfessionell. Da sind Juden und Christen und Heiden.« Der Direktor lacht beruhigend.
»Aber ich möchte nicht gerne zum Pastor.«
»Seien Sie kein Tor«, sagt der andere energisch. »Der Pastor meldet Sie an, das ist eine Formalität, die ebenso gut der Polizeiinspektor oder der Postwachtmeister machen könnte. Zufällig macht sie nun mal der Pastor.«
»Ich gehe nicht gerne zum Pastor.«
»Nun schön. Wollen Sie fünf Minuten Unannehmlichkeiten beim Pastor in Kauf nehmen oder lieber versacken? Also! Kommen Sie!«
Der Direktor ist schon halb auf dem Gang und geht Kufalt eilig voraus.
4
Plötzlich ruft Kufalt den Direktor, der schon fast an der Tür des Pastorenzimmers ist, an: »Herr Direktor, bitte noch was!«
Der Direktor wendet sich um. »Ja?«
»Der Bruhn, Herr Direktor, kommt doch auch übermorgen raus. Wenn Sie einmal mit ihm reden könnten?«
»Ja?«
»Es ist da was im Busch. Ich glaube, es haben ihm welche Versprechungen gemacht, und nun soll er angeschissen werden.«
Der Direktor überlegt eine Weile, er denkt scharf nach, dann fragt er: »Werkmeister?«
Kufalt sieht den Direktor an, aber er schweigt.
»Sie wollen nicht mehr sagen?«
Zögernd antwortet Kufalt: »Seit Sethe eigentlich nicht mehr sehr gerne.«
Sie stehen sich beide gegenüber auf dem Bürogang, Gefangener und Gefängnisdirektor, sie denken beide an jene Unterredung, da der Direktor dem Gefangenen Hilfe, Aufdeckung versprach. Die Stirn des Direktors ist dunkelrot geworden. Er sagt behutsam: »Es ist alles nicht so leicht, Kufalt. Man muss schustern, ewig schustern …«
Und plötzlich rasch entschlossen: »Also, ich werde mit Bruhn reden, dass er keine Dummheiten macht.«
Und er geht Kufalt rasch ins Pastorenzimmer voran.
»Hier, Herr Pastor, bringe ich Ihnen Kufalt. Er hat ein Anliegen an Sie.«
Und zu Kufalt: »Also lassen Sie es sich gut gehen. Halten Sie die Ohren steif und – alles Gute!«
Er gibt ihm die Hand, leise murmelt Kufalt etwas, und der Direktor ist fort.
Der Pastor sagt: »Also, mein lieber junger Freund, Sie haben ein Anliegen an mich. Sprechen Sie sich aus, sagen Sie mir alles, was Sie auf dem Herzen haben.«
Das möchtest du wohl, denkt Kufalt und schaut mit kaum verhohlenem Widerwillen in das glatte, wohlgenährte Gesicht.
Pastor Zumpe ist schneeweiß von Haar, hat auch einen schönen weißen, glatten Teint, aber dunkle Augen, über denen sehr buschige und rabenschwarze Brauen sitzen. Im Kittchen geht das Gerücht, diese Brauen seien nicht echt; jeden Sonntag vor der Predigt klebe sie sich der Pastor neu an, mit Leim, und zum Beweise, dass dies kein bloßes Gerücht sei, führen seine Anhänger an, dass manchmal eine Braue höher sitze als die andere.
Der Pastor sieht den Gefangenen freundlich an, es ist eine milde Freundlichkeit, etwas kaninchenhaft, aber das hilft nichts: Kufalt spürt genau, dass er diesem Mann völlig gleichgültig ist.
Der Pastor fragt wieder: »Also wo fehlt es, Kufalt? Brauchen wir noch etwas? Einen schönen Anzug zur Entlassung? Das kostet viel Geld, aber bei Ihnen lohnt es vielleicht. Bei Ihnen ist ja noch Hoffnung.«
»Danke«, sagt Kufalt. »Ich will keinen Anzug. Aber Herr Direktor hat mir gesagt, ich muss zu Ihnen wegen der Anmeldung für ein Heim mit stellungslosen Kaufleuten. Darum bin ich hier.«
»Also Sie wollen nach Friedensheim? Das ist erfreulich. Sehr erfreulich. Es ist eine große Vergünstigung, wenn man dort aufgenommen wird, mein lieber Kufalt. Sie leben dort – herrlich, kann ich Ihnen versichern. So gutes Essen. Und reizende Zimmer. Und ein entzückender Tagesraum mit einer vorzüglichen Bibliothek. Ich bin selbst dort gewesen, alles habe ich mir angesehen. Vorbildlich.«
»Und die Arbeit?« fragt Kufalt argwöhnisch. »Wie ist denn die?«
»Ach ja«, sagt der Pastor überrascht, »richtig, die Herren arbeiten. Das ist vorzüglich organisiert. Da ist ein großer Raum und sehr viel Schreibmaschinen, und da sitzen die Herren und schreiben. Es sieht so – gemütlich aus.«
»Was verdient man denn da?«
»Ja, mein lieber junger Freund, wie soll ich Ihnen das sagen? Es ist doch eine Wohltätigkeit, eine Hilfe, die Ihnen geleistet wird. Aber natürlich werden Sie genau bezahlt. Den Betrag kann ich Ihnen nicht sagen, aber Sie verdienen sicher sehr gut.«
»Na schön«, sagt Kufalt, »wollen Sie dann mal die Anmeldung ausschreiben?«
»Ja. Hier sind schon die Formulare. Wie heißen Sie? Also Kufalt. Und mit Vornamen? Willi? Also Wilhelm.«
»Nein, nicht Wilhelm. Willi. Ich bin auf den Namen Willi getauft.«
»Wirklich? Aber Willi ist eine Verstümmelung. Nun, lassen wir es dann also. Willi … hmmm … Willi. Und wann geboren? – Da werden Sie ja bald dreißig! Es wird Zeit, lieber Freund, hohe Zeit. – Und weswegen bestraft? – Unterschlagung und Urkundenfälschung? Schwere? Also Unterschlagung und schwere Urkundenfälschung. Wie lange?«










