Hans Fallada – Gesammelte Werke

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»Wozu müssen die in dem Heim denn das eigentlich wissen? Ich denke, damit ist es nun alle, hab’s abgesessen.«
»Aber die wollen Ihnen doch helfen, lieber Kufalt. Und wenn man Ihnen helfen will, muss man Sie kennen. Wie lange?«
»Fünf Jahre.«
Der Pastor wird immer freundlicher und sanfter, je brummiger Kufalt antwortet. Fast gerührt fragt er: »Und die Ehrenrechte, mein lieber Kufalt? Die bürgerlichen Ehrenrechte – die haben Sie doch noch?«
»Ja, habe ich noch.«
»Und die lieben Eltern? Was ist denn der liebe Vater?«
Kufalt verzweifelt wirklich. Heftig sagt er: »Um Gottes willen, Herr Pastor, können Sie damit nicht aufhören? Das macht mich … Was haben denn meine Eltern mit dem Krempel zu tun?«
»Lieber Kufalt, seien Sie doch ruhig … Es ist bestimmt alles zu Ihrem Besten. Sehen Sie, man muss doch wissen, aus welchen Kreisen Sie stammen. Einen Arbeitersohn kann man natürlich nicht für einen Privatsekretärposten in feinem Hause empfehlen. Nicht wahr? Also, was ist der liebe Herr Vater?«
»Tot.«
Der Pastor ist immer noch nicht ganz zufrieden, aber er lässt es auf sich beruhen. »Soso. – Aber die Mutter, die lebt noch, nicht wahr? Die ist Ihnen noch geblieben?«
»Herr Pastor«, sagt Kufalt und steht auf, »ich bitte, mir die Fragen kurz und knapp, wie sie dort vorgedruckt sind, vorzulesen!«
»Aber, mein lieber junger Freund, was haben wir denn? Ich verstehe Sie nicht. Ja, doch, doch, ich weiß, es ist eine wunde Stelle, wenn man mit seinen Nächsten auseinander ist. Daran darf nicht gerührt werden. Aber sie schreibt Ihnen doch, Ihre Mutter, sie schreibt doch?«
»Nein, sie schreibt nicht!« schreit Kufalt. »Und das wissen Sie ganz gut. Sie lesen ja die Briefe, Sie haben ja die Zensur.«
»Aber, mein lieber junger Freund, dann müssen Sie hinfahren! Zu Ihrer Mutter! Dann dürfen Sie nicht nach Friedensheim. Dann fahren Sie hin zu Ihrer Mutter, sicher verzeiht sie Ihnen!«
»Herr Pastor«, fragt Kufalt kalt entschlossen, »was ist es mit dem Blumenstrauß?«
Pastor Zumpe ist wirklich verblüfft. In einer ganz anderen Tonart, völlig ohne Sanftheit, fragt er: »Mit dem Blumenstrauß? Mit welchem Blumenstrauß?«
»Ja, mit welchem Blumenstrauß wohl?!« höhnt Kufalt jetzt ganz offen. »Was ist mit Ihrem Blumenstrauß, den Sie drei Wochen nach Weihnachten dem schwindsüchtigen Siemsen in die Zelle gebracht haben? Was ist mit der Anzeige von Siemsen geworden, die er gegen Sie an den Strafvollzugspräsidenten geschrieben hat? Ist die in Ihren Papierkorb gekommen?«
Und Kufalt sieht sich wild im Zimmer nach dem Papierkorb um, als könnte die Anzeige heute, ein Vierteljahr später, noch drin liegen.
Der Pastor ist erschüttert. »Aber, mein lieber junger Freund, so beruhigen Sie sich doch! So etwas muss Ihnen ja schaden. Sie sind einem Irrtum zum Opfer gefallen, einem jener hässlichen Gerüchte … Wenn ich dem kranken Gefangenen Siemsen einen Blumenstrauß gebracht habe, so darum, um ihm eine Freude zu machen, aber doch nie …«
Überwältigt bricht der Pastor ab.
»Sie haben, Herr Pastor Zumpe«, sagt Kufalt wild, »dem Siemsen wie seiner Frau zu Weihnachten zehn Zentner Briketts und ein Lebensmittelpaket versprochen für seine Familie. Das war von der Gefangenenfürsorge bewilligt. Die Frau hat gewartet und gewartet mit den Kindern. Sie haben es einfach vergessen. Und als die Frau dann zu Ihnen gekommen ist, haben Sie sich verleugnen lassen. Und als Sie von ihr auf der Straße angesprochen worden sind, haben Sie gesagt, sie soll Sie zufriedenlassen, es sind keine Mittel mehr da. – Das ist so, Herr Pastor, das wissen alle Gefangenen im Bau, und die Beamten wissen es auch.«
»Hören Sie mal«, ruft der Pastor wütend, »das ist alles nicht wahr, Entstellungen sind das, Verleumdungen. Wissen Sie, dass ich Sie wegen Beamtenbeleidigung anzeigen kann? Die Siemsen ist eine zweifelhafte Person, sie lässt sich mit anderen Männern ein, einer Unterstützung ist sie gar nicht würdig!«
»Wahrscheinlich soll sie ihre Gören verhungern lassen, statt auf den Strich zu gehen! – Und wie ist es denn, Herr Pastor, sind Sie nicht an dem Tage zu Siemsen mit Ihrem Blumenstrauß gekommen, als er in seiner Wut an den Strafvollzugspräsidenten geschrieben hatte?«
»Aus Mitleid bin ich zu ihm gegangen. Die Anzeige war bloßer Unsinn, denn der Fürsorgeverein ist ein privater Verein, und für den ist der Herr Präsident gar nicht zuständig!«
»Darum haben Sie wohl dem Siemsen gute Worte gegeben, dass er die Anzeige zurücknimmt? Und das dumme Schwein tut’s wirklich! Aber ich werde sie schreiben, wenn ich rauskomme, an die Zeitungen werde ich den Fall geben …«
»Tun Sie das nur«, sagt der Pastor giftig. »Sie werden ja sehen, wie weit Sie kommen. Ich bin vierzig Jahre Pastor hier, ich habe andere Leute wie Sie ausgestanden. – Ist Ihre Mutter in der Lage, Sie zu ernähren?«
»Nein.«
»Welcher Religion sind Sie?«
»Noch evangelisch. Aber ich trete so rasch wie möglich aus.«
»Also evangelisch. – Was können Sie?«
»Büroarbeiten.«
»Welche?«
»Alle.«
»Können Sie spanische Geschäftsbriefe schreiben?«
»Nein.«
»Also welche Büroarbeiten können Sie?«
»Schreibmaschine, Stenografie, doppelte, amerikanische und italienische Buchführung, bilanzsicher. Und so das Übliche.«
»Also nicht spanisch. Können Sie Vervielfältigungsmaschinen bedienen?«
»Nein.«
»Falzmaschinen?«
»Nein.«
»Adressiermaschinen?«
»Nein.«
»Sehr wenig. So – nun haben Sie hier zu unterschreiben.«
Kufalt überfliegt den Fragebogen. Plötzlich stutzt er. »Hier steht, dass ich die Hausordnung anerkenne. Wo ist denn die?«
»Die Hausordnung ist die Hausordnung. Die müssen Sie natürlich anerkennen.«
»Aber ich muss doch wissen, was ich anerkenne. Darf ich die mal sehen?«
»Ich habe keine hier. Mein lieber Herr Kufalt, für Sie wird keine extra gemacht. Der haben sich alle unterworfen, also werden Sie’s auch müssen.«
»Ich unterschreibe nicht, was ich nicht kenne.«
»Ich dachte, Sie wünschten in das Heim aufgenommen zu werden.«
»Ja, aber die Hausordnung muss ich erst sehen. Sie haben sicher eine hier.«
»Ich habe keine hier.«
»Dann kann ich auch nicht unterschreiben.«
»Und ich nicht Ihre Aufnahme empfehlen.«
Kufalt steht einen Augenblick unschlüssig und betrachtet den Pastor. Der sitzt am Schreibtisch und blättert in Briefen.
»Sie sollten die Briefe rascher zensieren, Herr Pastor«, sagt Kufalt. »Es ist eine Schweinerei, wenn die Briefe hier zwei Wochen liegen.«
Der Pastor sieht gar nicht erst hoch. »Also Sie unterschreiben nicht?«
»Nein«, sagt Kufalt und geht.
5
Kufalt sieht sich auf dem Gang um. Drüben, bei der Aufnahme, stehen sechs, acht Mann in Zivil, neu eingelieferte Gefangene. Bei ihnen hat Oberwachtmeister Petrow Aufsicht, der bläst nichts, was ihn nicht brennt. Sonst ist der Gang leer.
Kufalt geht in der anderen Richtung, vom Zellengefängnis fort, von Petrow fort, an all den Bürotüren vorbei, bis er zur Treppe, die ins Erdgeschoss führt, kommt. Dies ist eine Beamtentreppe, für Gefangene nicht zu betreten, aber er wagt es.
Keiner begegnet ihm, er steigt nach unten, bis in den Keller, und hier stellt sich Kufalt an eine andere große Eisentür, die in des Hausvaters Reich führt. Der Pastor hat ihn auf einen Gedanken gebracht: In welchem Zustand wird sein Anzug sein?
Fünf Jahre ist es her, seit er eingeliefert wurde, er versucht vergeblich, sich zu erinnern, was er damals anhatte. Er besaß damals nur, was er auf dem Leibe trug: Anzug und Wintermantel und Hut, und dazu in einer Aktentasche ein Nachthemd und eine Zahnbürste.
Also wird er auch Wäsche kaufen müssen. Ehe er noch draußen ist, schwindet sein Geld, schwindet. Und wie wird der Anzug aussehen, jetzt nach fünf Jahren?
Er steht da an der Eisentür und sieht kummervoll vor sich hin. Sicher, es ist mit der Entlassung viel zu schnell gekommen, nichts ist vorbereitet, vor allem ist er nicht vorbereitet. Nun ist es auch wieder mit dem Heim nichts geworden, er wird ein Zimmer mieten müssen … Wenigstens bekommt er sein Geld gleich ganz ausbezahlt, das hat er beim Direktor erreicht, ein, zwei Monate hat er zu leben. Und kann sich auch ein bisschen was kaufen. Aber dann …?
Wachtmeister Strehlow kommt. »Nanu, was stehen Sie denn hier? Wo ist denn Ihr Wachtmeister?«
»Ich war zur Vorführung bei Direktor und Pastor. Ich soll zum Hausvater wegen meiner Sachen. – Weil ich doch morgen rauskomme«, fügt er erläuternd zu.
»Lasst euch doch gleich ’nen Schlüssel geben, ihr von der dritten Stufe! Wir sind ja schon ganz überflüssig. Läuft allein rum im Bau! Na, es geht so lange, bis einem von uns der Schädel eingeschlagen wird, dann werden’s die Herren am grünen Tisch ja kapiert haben, was sie hier anrichten.«
Aber Strehlow lässt Kufalt doch durch, schimpfend, aber er lässt ihn durch, schließt hinter ihm wieder ab und geht die Beamtentreppe hinauf.
Kufalt ist auf einem langen Kellergang, rechts und links stehen die Türen der Läger auf. Im Vorbeigehen sieht er Regimenter von Essschüsseln aufmarschiert, Armeen von Kübeln. Unter unendlichen Wäschestößen haben sich die Regale durchgebogen. Immer näher kommt er der Abfertigung, dorthin, wo der Hausvater sitzt. Sein Herz klopft stark, nun kommt alles auf die Stimmung des Hausvaters an.
Der Hausvater ist nämlich ein feiner Kerl, er behandelt keinen Gefangenen wie einen Gefangenen, sondern genauso wie alle anderen Menschen: gut, wenn er guter Stimmung, hundemäßig, wenn er schlechter ist. Und wenn er schlechter ist, schmeißt er Kufalt einfach raus und womöglich gleich in Arrest, dass der hier allein angesockt kommt.
Weiter ist aber auch wichtig, wie man es mit der Anrede hält. Es gibt zwei Parteien im Bunker: Die eine behauptet, er will durchaus »Hauptwachtmeister« genannt werden, die andere schwört auf die Anrede »Hausvater«.
Kufalt hat früher zur Hauptwachtmeisterpartei gehört, ist aber, trotz dieser Anrede, zweimal rausgeflogen mit seinen Anliegen. Bei »Hausvater« ist er erst einmal angeschnauzt, und das kann nun wirklich gewesen sein, weil er Putzpomade verlangt hatte. So was ist ein Ansinnen, eine Frechheit, nur den Kalfaktoren, die Beamtengerät zu putzen haben, steht Putzpomade zu.
Er nimmt einen Anlauf und landet vor dem Hausvater.
»Herr Hausvater, ich komme von Herrn Pastor. Ich wollte mal fragen, Herr Hausvater, ob meine Sachen noch gut sind. Sonst kriege ich vielleicht was von Herrn Pastor.«
»Wo kommen Sie denn allein her?« fragt auch der Hausvater zuerst. »Wo ist denn Ihr Wachtmeister?«
»Ich bin so durchgelassen«, sagt Kufalt.
»Wer hat Sie denn durchgelassen? Der Pastor?«
Kufalt nickt.
»Dieser elende Pfaffe!« schimpft der Hausvater. »Da sieht man’s wieder. Wenn wir mal eine Erleichterung für die Gefangenen wollen, dann ist er immer dagegen, weil ›Strafe Strafe bleiben soll‹, aber er ist zu faul, die zwanzig Schritt den Gang runterzugehen. Na warte, in der nächsten Beamtenkonferenz bringe ich das aber vor.«
Kufalt hat andächtig zugehört. Der Hausvater ist guter Laune, er kann auf die Pfaffen schimpfen, das mag er gerne, der Hausvater ist nämlich rot. Und die nächste Beamtenkonferenz ist erst am Dienstag, dann ist Kufalt schon längst draußen.
»Was wollen Sie denn nun eigentlich?« fragt der Hausvater gnädig. »’nen Anzug schnorren? Ihrer ist noch ganz gut.«
»Wenn ich ihn einmal anprobieren dürfte, Herr Hausvater«, schmeichelt Kufalt. »Ich hab hier so ’nen Bauch gekriegt von all dem Brei!«
»Nach Bauch sehen Sie aber nicht aus. Na, mir soll’s recht sein, trotzdem man dem Pfaffen wirklich den Gefallen nicht tun sollte. – Bastel, holen Sie mal dem Kufalt seine Sachen.« Er blättert in dem Register. »Fünfundsiebzig dreiundsechzig. – Ist der Anzug vom Schneider schon zurück?«
»Jawoll, Herr Hauptwachtmeister«, schallt es aus dem Gewölbe, und der Hausvaterkalfaktor Bastel erscheint mit einem großen Sack, in dem kunstvoll auf einem Bügel geordnet sämtliche Sachen des Gefangenen Kufalt hängen.
»Wart schon«, sagt Bastel zu Kufalt. »Ich nehm deine Kluft lieber selbst raus. Du zerknautschst sie nur.«
Es ist der dunkelblaue Anzug mit dem weißen Nadelstreifen, Kufalts Herz jauchzt, den hat er höchstens fünf- oder sechsmal angehabt.
»Ein feiner Anzug«, sagt auch der Hausvater. »Was haben Sie dafür bezahlt?«
»Hundertsechsundsiebzig«, sagt Kufalt aufs Geratewohl.
»Viel zu viel Geld«, sagt der Hausvater. »Höchstens neunzig Mark.«
»Das ist aber auch fast sechs Jahre her«, gibt Kufalt zu bedenken.
»Da haben Sie recht, damals waren Anzüge noch teuer. Heute sechzig, siebzig Mark. Es gibt schon welche für zwölf und fünfzehn.«
»So was!« staunt Kufalt bereitwillig.
»Nee, Ihre Wäsche behalten Sie an. Ihr Oberhemd ist überhaupt noch nicht von der Plätterin zurück, bei der müssen wir heute Abend rangehen, Bastel. – Ja, fein kommt ihr raus, ihr Jungen. Die reinen Kavaliere, an uns liegt’s nicht.«
Und dafür ist der Hausvater wirklich bekannt, die Sachen hält er tipptopp, das ist sein Stolz, da darf kein Fäserchen fehlen. Seine Kalfaktoren haben schweren Dienst.
»Gut sieht das aus. Ein ganz anderer Mensch, Kufalt. – Bastel, sehen Sie sich bloß mal den Kufalt an …« Er unterbricht sich ärgerlich: »Was will der Batzke hier? Herr Steinitz, ich will den Kerl hier unten nicht haben, wenn es nicht unbedingt sein muss. Der stänkert nur. Ja, Sie stänkern, Batzke, Sie sind auch jetzt nur zum Stänkern gekommen.«
»Ich hab ja noch nicht den Mund aufgemacht«, sagt Batzke und sucht Bastel mit den Augen. Kufalt beachtet er gar nicht.
»Anordnung vom Direktor«, sagt Wachtmeister Steinitz. »Batzke darf seine Sachen anprobieren. Ob sie noch passen.«
»Hab ich hier ’ne Ankleidestube? Nächstens kommt der ganze Bau und probiert an. Der Direktor könnte auch was Schlaueres tun. Hauen Sie wenigstens ab, Kufalt. Ihre Schuhe …? Ach was, Ihre Schuhe werden schon passen.« Milder: »Na, meinethalben, probieren Sie Ihre Schuhe noch an. Bastel, die Sachen von Batzke, Nummer vierundzwanzig neunzehn!«
Bastel kommt mit einem neuen Sack, und Batzke flüstert hastig mit Bastel, der nickt, dann mit dem Kopfe wiegt. Aus der Mütze, die Batzke in der Hand hielt, tauchen plötzlich vier Pakete Tabak, eines nach dem anderen, auf und verschwinden in Bastels Händen.
Bastel zieht sich zurück, die beiden Beamten reden miteinander am Fenster.
Kufalt müht sich mit seinen Schuhen. Er kriegt und kriegt sie nicht an, wahrscheinlich liegt es an den dicken wollenen Socken. Und die zivilen Strümpfe sind noch in der Wäsche. Aber so eng waren die Schuhe doch gar nicht! Kann man noch Ende Zwanzig größere Füße kriegen?
Plötzlich klingt Batzkes Stimme laut und vernehmlich durch den Raum: »Hier ist ein Mottenloch!«
Der Hausvater macht drei Schritte. Dann bleibt er stehen. »Natürlich, der Batzke! Natürlich stänkern! Ein Mottenloch. Siebzehn Jahre bin ich hier Hausvater, und es hat noch nie ein Mottenloch gegeben.«
Er kehrt um und geht wieder ans Fenster.
»Und hier ist noch ein Mottenloch. Und hier unterm Aufschlag alles zerfressen.«
»Zeigen Sie her! Verrückt sind Sie … Nie hat eine Motte …«
»Und es sind doch Motten in meinen Sachen«, sagt Batzke unerbittlich und sieht gleichmütig den wütenden Hausvater an.
Der zerrt das Jackett ans Licht. »Es ist unmöglich … oh, gottverdammte Hurerei … Bastel, verfluchter Hund, warum hast du mir nicht gesagt, dass in Batzkes Sachen die Motten sind?«
Bastel blickt dumm. »Hab Schiss gehabt, Herr Hausvater.«
»Und warum haben die Schneider nichts gesagt?«
»Sind zu feige gewesen, Herr Hausvater, haben Schiss gehabt.«
»Warum hast du’s nicht zum Kunststopfen gegeben?«
»Hab gedacht, ich kriegte was auf den Deckel.«
»Hier in der Hose sind auch Mottenlöcher«, lässt sich Batzke ungerührt vernehmen.
»Schweinerei, verfluchte …! Ich sagte, dieser Batzke … Nie habe ich Motten gehabt … Aber es geht nicht mit rechten Dingen zu, Batzke, da ist …«
Eine Erleuchtung kommt ihm: »Die waren drin, als Sie kamen! Mitgebracht haben Sie die, Batzke!«
»Müsste im Protokoll stehen. Müsste ich unterschrieben haben, Herr Hausvater.«
»Und das haben Sie auch! Warten Sie!« Der Hausvater reißt Akten aus dem Fach. »Wie lange sind Sie drin? Wann sind Sie aufgenommen?«
»Wie soll ich das noch wissen, Hausvater?« sagt Batzke gemütlich. »So oft, wie ich rein- und rauskomme. Das steht doch alles in Ihren dicken Büchern.«
Der Hausvater hat es schon gefunden.
Er liest mit gerunzelter Braue das Aufnahmeprotokoll. Er liest es noch einmal. Und zum dritten Mal. Dann sagt er mit erzwungener Ruhe: »Also, ich lass Ihnen den Anzug kunststopfen, Batzke.«
»Ich hab ’nen heilen Anzug mitgebracht, Hausvater. Ich will mit ’nem heilen Anzug wieder raus. Ein gestopfter steht mir nicht zu.«
»Das sieht kein Mensch, wenn der gestopft wird, Batzke. Die Stellen sind dann fester als die anderen.«
»Brauch keine festeren Stellen, Hausvater, ich will ’nen heilen Anzug.«
»Woher soll ich den denn jetzt noch nehmen, Batzke? Seien Sie vernünftig. Bis Sonntag kriegen die Schneider doch keinen fertig.«
»Gehen wir in die Stadt, Herr Hauptwachtmeister. Kaufen wir einen. Ich trag auch Konfektion, Hausvater, ich bin gar nicht so.«
»Und das Geld … Muss ich wahrhaftig Ihretwegen beim Pfaffen betteln, dass die Gefangenenfürsorge Geld rausrückt …! – Was stehen Sie hier noch rum, Kufalt? Wollen Sie machen, dass Sie türmen!«
»Meine Schuhe, Herr Hausvater!«
»Was ist mit Ihren Schuhen, he? In Ihren Schuhen sind wohl auch die Motten? Gehen Sie, Herr Steinitz, lassen Sie den Kufalt durch. Einfach durchlassen. Ist ja auch so gekommen, der große Herr!«
»Aber ich kann die Schuhe nicht …«
»Ich kann sie auch nicht …! Himmeldonnerwetter, Steinitz, nehmen Sie den Kerl mit! Und Sie, Batzke, also hören Sie mal …«
Kufalt ist auf dem Gang. Wachtmeister Steinitz lässt ihn ins Zellengefängnis. »Gehen Sie gleich auf Ihre Zelle, Kufalt. Nein, vorher melden Sie im Glaskasten beim Hauptwachtmeister, dass Sie zurück sind.«
6
Als Kufalt am Glaskasten steht, um seine Meldung zu machen, ist der Kasten leer. Kein Hauptwachtmeister zu sehen. Kufalt hebt den Kopf und späht in den Bau: nichts. Natürlich sind da Kalfaktoren im Gang, beim Schrubbern und Wachsen und Wichsen des Linoleums, und natürlich sind da Beamte unterwegs, aber hierher sieht keiner.
Kufalt schaut in den Glaskasten. Die Schiebetür steht halb offen. Es muss gerade Post gekommen sein, ein ganzer Stoß Briefe liegt dort, und obenauf liegt ein länglicher, gelblicher Umschlag mit einer weißen Einschreibequittung.
Er sieht sich um. Niemand scheint auf ihn zu achten. Er späht durch die Tür. Nun liest er, was er schon ahnte: »Herrn Willi Kufalt, Zentralgefängnis.«
Der lang ersehnte Brief von Schwager Werner Pause, der Brief mit Geld oder einer Anstellung.
Es ist nur ein Griff, und Brief nebst Einschreibezettel sind in seiner Tasche geborgen. Langsam geht Kufalt über die Treppe zur Zelle.
Da steht er nun an seinem Tisch unter dem Fenster, den Rücken sorgfältig gegen den Spion, damit niemand sehen kann, was er mit den Händen tut.
Vorsichtig befingert er den Umschlag. Ja, es ist etwas drin, eine Einlage. Sie schicken ihm Geld! Es ist kein sehr umfangreicher Brief, scheint es, aber eine dickere Einlage ist darin.
Also hat Werner ihm doch geholfen. Eigentlich, ganz drinnen, hat er nie daran geglaubt. Aber der Werner ist eben doch ein anständiger Kerl, da kann man sagen, was man will. Dass er erst, als die Sache passierte, so wütend war, nun, übelnehmen konnte man das eigentlich nicht.
Ach, das gute Leben jetzt draußen! Wie wird es schön sein! Keine Entbehrungen, wenn er natürlich auch sehr, sehr sparsam sein wird. Aber man kann in ein Café gehen und vielleicht mal in eine Bar …
Unter tausend Mark können sie nicht schicken, sonst ist es überhaupt kein Start. Und in vier oder fünf Wochen kann man dann noch einmal um eine größere Summe bitten, drei- oder viertausend, um sich ein nettes Geschäft einzurichten, vielleicht Zigarren … Nein. – Nein …
Die Einlage ist kein Geld, ein Schlüssel, ein flacher Schlüssel, ein Kofferschlüssel. Schade … Und der Brief:
Herrn Willi Kufalt,
z. Z. Zentralgefängnis, Zelle 365
Wir beehren uns, Ihnen im Auftrage von Herrn Werner Pause mitzuteilen, dass Herr Pause Ihren Brief vom 3. 4. und Ihre früheren Briefe erhalten hat. Herr Pause bedauert, Ihnen sagen zu müssen, dass z. Z. in seinen Büros keine Stellung für Sie frei ist, dass er aber auch, selbst wenn eine frei würde, sie aus sozialen Gesichtspunkten einem der vielen nicht vorbestraften Arbeitslosen geben müsste, die teilweise im tiefsten Elend leben. Was die weiter von Ihnen erbetene geldliche Unterstützung angeht, so bedauert Herr Pause, Sie auch in diesem Punkte abschlägig bescheiden zu müssen. Nach unseren Erkundigungen haben Sie während Ihrer Haftzeit eine nicht unbeträchtliche Summe für Arbeitsbelohnung verdient, die Sie direkt nach Ihrer Entlassung vor Entbehrungen schützen dürfte. Auch verweist Sie Herr Pause nachdrücklich auf die zahlreichen Fürsorgevereine, in deren Arbeitsgebiet Ihr Fall fällt, und die sicher gerne etwas für Sie tun werden.
Herr Pause lässt Sie nachdrücklich ersuchen, weitere Zuschriften weder an ihn noch an seine Frau, Ihre Schwester, oder an Ihre Mutter zu richten. Die gehabten Aufregungen sind nur schwer und unvollkommen verwunden, ihre Wiederaufrührung würde nur schärferes Abrücken von Ihnen zur Folge haben. Herr Pause lässt Ihnen aber per Eilfracht einen Teil Ihrer Sachen zugehen, den Rest werden Sie erhalten, wenn Sie sich mindestens ein Jahr einwandfrei geführt haben. Den Kofferschlüssel fügen wir diesem Briefe bei.
Indem wir Ihnen dieses mitteilen, verbleiben wir mit vorzüglicher Hochachtung
Pause und Mahrholz
ppa. Reinhold Stekens
Der Maitag ist noch immer hell und strahlend, die Zelle ganz licht. Draußen ist Freistunde. Die Füße scharren und scharren.
»Fünf Schritte Abstand! Abstand halten!« ruft ein Wachtmeister. »Halten Sie den Mund, oder es gibt eine Anzeige!«
Kufalt sitzt da, den Brief in der Hand. Er starrt vor sich hin.
7
Kufalt erinnert sich genau, wie das war, als Tilburg vor drei oder vier Jahren entlassen wurde. Tilburg war ein ganz gewöhnlicher Gefangener gewesen, er war nach keiner Richtung hin aufgefallen. Er war auch kein besonders schwerer Junge gewesen, hatte einen normalen Knast von zwei oder drei Jahren abgerissen. Was er während dieses Knasts erlebt und gedacht hatte, das konnte man ja nun nicht wissen. So was kann niemand im Kittchen wissen, nicht einmal der Betroffene.
Also Tilburg wurde eines Tages entlassen. Nun machte er nicht das, was so Gefangene im Allgemeinen machen, er besoff sich nicht und ging auch nicht mit Weibern los in der ersten Nacht, er suchte sich weder Arbeit noch Zimmer. Tilburg fuhr einfach nach Hamburg und kaufte sich einen Revolver.
Dann fuhr er wieder zurück, besah sich den Bunker von außen und ging dann eine von den Straßen, die aus der Stadt hinausführen.
Als er da nun ein Stück gegangen und aufs flache Land gekommen war, begegnete ihm ein Mann. Es war irgendein beliebiger Mann, Tilburg hatte ihn nie gesehen.
Tilburg zog seinen Revolver und gab einen Schuss auf den Mann ab. Er traf den Mann in die Schulter, zerschmetterte den Schulterknochen, der Mann fiel um. Tilburg ging weiter.
Dann begegnete er wieder einem Mann, und auch auf den schoss er, diesmal traf er den Mann in den Bauch.
Eine halbe Stunde später sah Tilburg Landjäger auf Rädern. Er sprang von der Chaussee, lief über Wiesen auf einen Hof. Er schoss ein paarmal und schrie, dass alle im Haus zu bleiben hätten. Dann verteidigte er den Hof gegen die Landjäger. Nun hatte er Gelegenheit, sich als das zu fühlen, als was er sich die letzten Jahre vielleicht ständig gefühlt hatte: als wildes böses Tier. Oder die einzige Erklärung, die er in der Verhandlung später abgab: »Ich hatte so ’nen Rochus auf die Menschen.«
Er schoss noch drei Landjäger um, bis sie ihn umschossen. Aber er wurde dann wieder zurechtgeflickt für die Verhandlung und für ein hübsches neues Ende Knast, das er nicht mehr aufbrauchen dürfte.
Eigentlich kann man den Tilburg ganz gut verstehen, denkt Kufalt über seinem Brief in der Zelle.
Und etwas später: O ich Idiot, den Brief hätte ich wahrhaftig im Glaskasten liegenlassen können! Was mach ich nun nur, wenn er vermisst wird?









