Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Der Hauptwachtmeister gibt den Zettel nicht her, er denkt nach.
»Woher wissen Sie denn, dass es ein Einschreibebrief war, Kufalt?«
»Na, mein Schwager wird doch einen Schlüssel nicht in einem einfachen Brief schicken!«
Rusch denkt immer noch nach.
Kufalt setzt fort: »Wo sogar Einschreibebriefe verschwinden …?«
Der Hauptwachtmeister zieht den Zettel aus der Tasche. »Kufalt, bist en Aas. Na, unterschreib schon. Kriegst dein Geld – trotzdem.«
13
Es ist am Vormittag des anderen Tages, gegen elf Uhr.
Kufalt steht in der Abgangszelle. Sein Handkoffer, der von Schwager Pause nachgesandte große Handkoffer, neben ihm. Er steht und wartet.
Die Zeit kriecht, nichts kann er tun. Er hat Bücher im Koffer, aber wer kann jetzt lesen? In zwei Stunden sind fünf Jahre herum, in zwei Stunden ist er ein freier Mensch, kann hingehen, wohin er will, kann sprechen, zu wem er mag, kann mit einem Mädchen ausgehen, Wein trinken, sich ins Kino setzen … nein, es ist immer noch nicht vorstellbar … er ist immer noch so gefangen …
Keine Glocke mehr morgens. Kein Pensum mehr zu stricken. Keine Gehässigkeiten mehr mit anderen Gefangenen. Kein Papps des Mittags. Kein Zellenwienern. Keine Sorge, ob der Tabak auch reicht. Kein Wachtmeister, kein stinkender Kübel, keine schlottrige Kluft … es ist nicht auszudenken.
Wie fest der Anzug sitzt! Im Bauch sogar zu stramm, trotzdem er Westen- und Hosenschnallen aufhat, er hat einen Bauch gekriegt von der Wasserkost. Es hat Zeiten gegeben, wo er mittags zwei Liter Essen und dann noch einen Schlag verdrückt hat. Auf dem Bauch hat er eine Uhr, seine silberne Konfirmationsuhr. Sie zeigt die Zeit, es ist elf Uhr achtzehn.
Die anderen sind schon über vier Stunden draußen, schön dumm ist er gewesen, dass er nicht auch das noch herausgepresst hat aus Rusch. Die sind weg – und der Bastel, der Hausvaterkalfaktor, hat ihm beim Einkleiden erzählt, dass auch Sethe weg ist. Gleich früh haben sie ihn gefragt, ob er die Strafe annimmt wegen Beamtenbeleidigung, sonst muss er hierbleiben … nun, er hat sie angenommen. Er wird Bewährungsfrist kriegen. Immerhin … Schweine sind das hier. Schweine. Und alle werden Schweine. Ein Schwein ist auch er gewesen mit dem Brief gestern Abend, ein Schwein ist er gewesen mit dem Hundertmarkschein, tausendmal ist er ein Schwein gewesen diese fünf Jahre. Und was hat es für einen Zweck gehabt …? Andersherum wäre er auch zur gleichen Stunde herausgekommen – aber mit anderen Gefühlen.
Nun ist es jedenfalls zu Ende. Er wird von nun an genau das tun, was recht ist, er will ruhig schlafen können. Keine Sorgen mehr haben, nur keine Sorgen mehr! Wenn er auch den Hunderter mit rausnimmt. Das ist das letzte Mal, dass er so was tut.
Kufalt läuft auf und ab, hin und her. Die Zelle ist wieder so hell. Ein herrlicher Tag ist draußen. All diese letzten Tage ist die Zelle immer so hell gewesen wie alle Jahre vorher nicht. Hoffentlich bleibt das Wetter gut, wenn er draußen ist …
Nur dieses Friedensheim … Der Inspektor hat zu gemein gegrinst. Jedenfalls kriegte er nachher im Torhaus sein ganzes Geld, und würde es ihm zu dumm im Friedensheim, schmiss er denen einfach den Kram hin …
Es kratzt an der Tür. Kufalt ist mit einem Satz da. »Ja?«
»Du! Du bist doch Willi?«
»Na, natürlich, kannst du nicht linsen?«
»Man erkennt dich gar nicht mehr in deiner feinen Schale! Ich bin der Kalfaktor von deiner Station. Hast du die Toilettenseife in deinem Koffer?«
»Ja.«
»Lass mir die da, Mensch. Leg sie unter den Kübel. Ich hol sie mir gleich aus der Zelle, wenn du raus bist.«
»Meinethalben.«
»Aber bestimmt, Willi!«
»Kannst durch den Spion sehen. Ich hol sie gleich raus, siehst du …«
»Du, Willi, du hast doch auch Tabak? Kannst dir ja gleich wieder welchen kaufen. Leg ihn hin.«
»Ihr Räuber, ihr!«
»Mensch, ich hab noch drei Jahre Knast.«
»Was ist denn das? Ich habe fünf Jahre gehabt und der Bruhn, der heute rausgekommen ist, elf!«
»Au wei! Au wei! Der Bruhn! Das weißt du noch nicht?! Mensch, der ganze Bau ist voll davon!«
»Was denn? Was ist denn mit Bruhn?«
»Der ist schon wieder drin! Drei Stunden ist er gerade draußen gewesen, ist schon wieder drin!«
»Du spinnst wohl! Das ist ’ne Scheißhausparole!«
»Wo’s der Hausvater selber erzählt hat! Wie die rausgekommen sind, heute früh, sind sie gleich saufen gegangen. Nur der Sethe ist mit der Bahn abgefahren. Und einer hat gewusst, wo Mädchen sind. Da sind sie zu denen ins Haus gegangen. Aber die Weiber haben noch geschlafen und haben den besoffenen Kerls nicht aufmachen wollen. Die haben Krach geschlagen, der Hauswirt ist gekommen und hat sie aus dem Haus gewiesen. Da haben sie den Hauswirt die Treppe runtergeschmissen, aus seinem eigenen Haus rausgeschmissen! Und wie der Wirt wieder zurückgekommen ist mit Polizei, sind die Jungens doch drin bei den Weibern gewesen! Haben die geschrien, wie die Polente kam, die hätten’s mit Gewalt gemacht, die Tür hätten sie aufgebrochen – na, dass die Hunger gehabt haben, die Jungen, das ist doch sicher! Und jetzt sitzen sie alle im Vater Philipp! Heute Nachmittag kommen sie ins Untersuchungsgefängnis, sagt der Hausvater.«
»Glaube ich nicht! Glaube ich nie im Leben! Wenn’s alle machen, verstehen kann man es ja, aber nicht der Emil Bruhn! Der nicht!«
»Dicke Luft! Rusch!!«
Kufalt springt vom Spion fort, ans Fenster. Draußen hört er den Hauptwachtmeister hinter dem Kalfaktor her schimpfen.
Ja, es ist doch möglich! denkt Kufalt. Emil Bruhn, so ein armes Aas! Immer solche muss es treffen. Immer still gewesen, nie hat er ’ne Stange angegeben, all die elf Jahre nicht – dich haben sie fein angeschissen mit deiner Freude aufs Rauskommen! Und wenn du auch nur ein paar Wochen Knast kriegst, die Bewährungsfrist ist doch verfallen, und du fängst noch einmal von vorne an.
Er hat Angst, der Willi Kufalt, er fühlt, ihm kann es auch so gehen. Keiner kann so auf sich aufpassen, der rauskommt aus dem Bau, irgendwie ist ihm ein Bein gestellt …
Wer einmal aus dem Blechnapf frisst, frisst immer wieder daraus!
Kufalt besinnt sich. Er nimmt das Heft von der Wand, das blaue Heft mit dem Auszug aus der Strafvollzugsordnung. Er blättert nur einen Augenblick, dann liest er:
»Bei dem Vollzuge der Strafen sind mit der Zufügung des Strafübels und mit der Aufrechterhaltung von Zucht und Ordnung geistige und sittliche Hebung, Erhaltung der Gesundheit und Arbeitskraft anzustreben. Auf Erziehung zu einem geordneten, gesetzmäßigen Leben nach der Entlassung ist besonders hinzuwirken. Das Ehrgefühl ist zu schonen und zu stärken.«
Kufalt schlägt das Heft wieder zu. Na also, denkt er. Dann ist ja alles in schönster Butter. Klappt der Laden. Alles richtig, wie es ist. Was so ’ne Leute sich bei so was denken …
14
Es ist dreizehn Uhr fünfzehn, Kufalt steht da mit der Uhr in der Hand. Er wartet. Sein Herz klopft sehr. Schritte kommen, nähern sich, gehen an seiner Zelle vorbei. Wenn die mich vergessen, die Lumpen …! Wenn die mich aus Schikane drei Minuten länger warten lassen …!
Schritte kommen, nähern sich, machen vor seiner Zelle halt. Papier raschelt. Dann wird der Schlüssel ins Loch gestoßen, der Riegel geht zurück, und Oberwachtmeister Feder sagt gelangweilt: »Na, denn kommen Sie man mit Ihren sieben Zwetschgen, Kufalt!«
Er geht, er sieht noch einmal zurück, gegen den Glaskasten, die Zentrale. Da ist der große Bau mit seinen siebenhundert Zellen, er ist hier zu Haus gewesen, Jahr um Jahr, viele Jahre zu Hause. Um die Ecke späht sein Stationskalfaktor, ob er schon in die Zelle rein kann. Er nickt ihm zu.
Dann durch den Kellergang beim Hausvater vorbei. Hier ist alles still. Kufalt fällt etwas ein. »Ist das wahr, Herr Oberwachtmeister, mit Bruhn? Dass der schon wieder sitzt?«
»Habe was gehört, kann aber auch ’ne Scheißhausparole sein.«
»Hier ist er noch nicht wieder?«
»Nee, kann er auch nicht. Muss doch erst zum Richter, der Haftbefehl erlässt.«
Sie kommen über den Vorhof. Im Torgebäude steht Oberwachtmeister Petrow.
»Na, komm, mein Sohn. Komm, viele Pinunse kriegst du.«
In der Wachstube quittiert Kufalt.
»Steck sie gut weg, deine Pinunse, wirst du brauchen. Warte, Scheine in Geldtasche. So. Hast du schöne Tasche. Dass sie immer voll ist! Und hier in Porteh[58] Silber und hier Messing und hier Kupfer. Und nun komm, mein Jung.«
Sie stehen unter dem Torbogen. Petrow schiebt Riegel um Riegel zurück. Dann nimmt er den Schlüssel.
»Musst du jetzt loslaufen, ohne Umsehen. Musst nicht wieder rücksehen auf Kittchen. Spuck ich dich dreimal in Rücken, musst du nicht abwischen, ist gut dafür, dass du nicht wiederkommst. – Hau ab, mein Sohn!«
Das Tor geht auf. Kufalt sieht vor sich einen großen besonnten Platz in greller Sonne. Der Rasen ist grün. Die Kastanien blühen. Menschen gehen drüben, Frauen in hellen Kleidern.
Er geht langsam und vorsichtig hinaus ins Licht.
Nein, er sieht sich nicht um.
DRITTES KAPITEL – Friedensheim
1
Erstens hatte Petrow viel zu doll auf den Mantel gespuckt; Kufalt hatte das Gefühl, alle Leute lachten. So hing er den Mantel über den Arm, die Placken verwischten sich nun zwar, aber das galt nicht: Er kam doch nicht wieder rein!
Zweitens hatte er vom Zug auf die Stadt zurückgeschaut, da sah er plötzlich zwischen den Häusern noch einmal die grauen, steilen Zementwände mit ihren vielen Gitterlöchern – auch das galt nicht, denn jetzt fuhr er dem Bunker fort: Er kam doch nicht wieder rein!
Wenn er es aber recht überdachte, jetzt im Zug, so hatte er doch schon Verschiedenes ganz verkehrt gemacht. Einmal hatte er sich eine Autodroschke genommen zum Bahnhof, weil ihn die Leute so ansahen, er konnte es nicht vertragen, dass sie ihn so ansahen. Und dann hatte er auf dem Bahnhof zu Mittag gegessen, wo er doch im Kittchen seinen Rumfutsch hatte stehenlassen. Und dann zehn Zigaretten zu sechs, die Sorte vom Direktor. Und dann eine Zeitung. Und dann, was das schlimmste war, zum Mittagessen auch noch ein Glas Bier, trotzdem er dem Alkohol abgeschworen hatte. Fünf Mark neunzig völlig überflüssig ausgegeben, die Arbeitsbelohnung für dreiundsechzig Pensums. Dreiundsechzig Tage hatte er dafür stehen müssen und stricken, und im Anfang hatte er zwölf, dreizehn Stunden für ein Pensum gebraucht. In zwei Stunden weg, die Arbeit von dreiundsechzig Tagen, es fing ganz niedlich wieder an!
Eigentlich hatte er sie sich etwas anders gedacht, die Fahrt in die Freiheit. Da ging es nun durch das sommerliche Land, gewiss, es war ganz angenehm anzusehen, aber hatte er Zeit dafür? Er musste sich Sorgen machen, ebenso Sorgen wie in der Zelle. Und wie es mit dem Heim wurde …?
»Kann einer von den Herren mir wohl sagen, wo ich in Hamburg aussteigen muss, wenn ich zur Apfelstraße will?«
Stille – schon fürchtet Kufalt, keiner wird antworten, schon wird ihm zweifelhaft, ob er wirklich laut gefragt hat, da lässt der Herr in der Ecke die Zeitung sinken und sagt: »Apfelstraße? Da müssen Sie beim Hauptbahnhof umsteigen. Sie fahren dann noch bis Berliner Tor weiter.«
»Erlauben Sie mal«, widerspricht der Herr neben Kufalt, »das stimmt doch nicht. Da ist doch keine Apfelstraße. Wo soll die denn da sein?«
»Natürlich ist sie da. Das ist die bei der Badeanstalt …«
»Der Herr hat Ihnen nicht richtig Bescheid gesagt«, bemerkt Kufalts Nachbar, »Holstenstraße müssen Sie aussteigen. Die Apfelstraße ist da gleich …«
Ein kleiner Dicker entscheidet: »Der Herr hat recht. Und der Herr hat auch recht. Es gibt nämlich eine Apfelstraße in Altona und eine in Hamburg. Zu welcher wollen Sie denn?«
»Mir ist gesagt worden, Hamburg.«
»Dann müssen Sie also bis Berliner Tor fahren, Hauptbahnhof umsteigen.«
Stille herrscht.
Plötzlich fängt Kufalts Nachbar neu an: »Wo wollen Sie denn da hin in der Apfelstraße? Man sagt das so hin, Hamburg, und nachher ist doch Altona gemeint.«
»Bitte, der Herr hat gesagt, Hamburg, also muss er auch Berliner Tor raus.«
»Ist Ihnen denn ausdrücklich gesagt worden: Hamburg? Oder nur so hin?«
»Ja, ich weiß doch nicht. Ich will zu Verwandten.«
»Und wie haben Sie denn geschrieben an die Verwandten: Hamburg oder Altona?«
»Ja – ich habe nie selbst geschrieben. Das hat jemand für mich gemacht – meine Mutter.«
Der Nachbar hat ein pickliges Gesicht und blinzelnde Augen. Außerdem riecht er schlecht, wenn er sich so nah zu Kufalt beugt. »Du willst doch – dahin?« flüstert er.
»Wieso? Wohin«, tut Kufalt.
»Na, Mensch. Ich weiß doch. Und ich rate dir, steig Holstenstraße aus, da ist es. Sonst tippelst du nachher mit deinem Koffer durch die ganze Stadt.«
»Ja, danke. Ich weiß ja nicht. Ich fahre zu Verwandten nach Hamburg.«
»Wenn du mit denen verwandt bist …«
Kufalt verflucht sich, dass er dies Gespräch entfesselt hat. Sucht nach seiner Zeitung.
»Wenn ich du wäre, ich führe ja lieber zu den Hallelujabrüdern in der Steinstraße.«
Kufalt entfaltet die Zeitung.
»Da kostet es auch nur vier Groschen die Nacht.«
Kufalt liest.
»Wenn du willst, ich trag dir deinen Koffer.«
Kufalt hört nicht.
»Ich geh dir damit nicht über den Harz, verstehste. Ich trag dir den Koffer, und wenn du bis Blankenese tippelst.«
Kufalt steht auf und geht aufs Klo.
2
»Apfelstraße?« fragt der Schupo und sieht Kufalt an. »Na natürlich. Da gehen Sie hier runter und die zweite Querstraße rechts rein.«
»Danke«, sagt Kufalt und marschiert los. Hat’s mir auch angesehen. Es muss an meiner gelben Farbe liegen. Ich wollte, ich säh erst anders aus, keinen kann man gerade anschauen …
Apfelstraße. Nummer 28 soll es sein. »Vereinshaus der Stadt-Mission. Schlafsäle über den Hof. Bett fünfzig Pfennig.«
Das ist doch nicht das?
In dem Torweg steht ein dicker Mann mit unfreundlichem Gesicht. Kufalt geht ihm zögernd näher. Der Mann hat so eine besondere Mütze auf. Noch ehe Kufalt bei ihm ist, schreit er los: »Was wollen Sie denn jetzt schon? Um sieben werden die Schlafsäle aufgemacht!«
Was ist das mit mir? fragt sich Kufalt angstvoll. Ich bin doch genauso anständig gekleidet wie früher, und doch sehen es mir alle gleich an. Er sagt: »Ich will doch nicht in die Schlafsäle. Ich will nur fragen, ob hier Friedensheim ist.«
»Friedensheim? Meinetwegen können Sie’s ja Friedensheim nennen. Heute Abend. Morgen früh werden Sie’s wohl anders heißen.«
»Friedensheim ist ein Heim für stellungslose Kaufleute.
Ist das auch hier?«
»Nein, das ist nicht hier.«
»Können Sie mir denn sagen, wo das ist?«
»Nein, was weiß ich, wo ihr Brüder alle abbleibt.«
Der Mann geht in den Torweg, und Kufalt tritt auf die Straße zurück. Es ist zwecklos, hier weiterzusuchen. Nummer 28 stimmt. Es ist also doch in Hamburg. Er fasst seinen Koffer fester und geht wieder gegen den Bahnhof. –
Auf sein Klingeln öffnet dem Kufalt ein Mädchen in blauer Schürze, jung, doch unerfreulich anzusehen. Sie fixiert ihn, er fühlt das, wenn er es schon nicht sehen kann, so stark schielt sie.
Wenn die nicht Fürsorge ist …, denkt Kufalt. Aber hier bin ich richtig.
»Was wollen Sie denn?« fragt das Mädchen im Ton der Entrüstung. »Wieso kommen Sie denn hierher am Abend?«
»Ich soll in Friedensheim aufgenommen werden.«
»Davon weiß ich nichts. Ihr Geld haben Sie versaubeutelt, und jetzt kommen Sie zu uns. Sind Sie nüchtern?« Sie geht gegen ihn an. »Ein bisschen zurück, junger Mann, ein bisschen zurück ins Licht, dass ich sehen kann, ob Sie nicht dun sind.«
Sie drängt ihn, Schritt um Schritt, bis er wieder draußen steht, da aber schrammt sie die Tür vor seiner Nase zu.
Kufalt steht wieder auf der Straße oder, genauer, im eingegitterten, gepflasterten »Vorgarten«.
Was für ’ne Rübe! denkt er interessiert und schielt zu den gotischen Lettern »Friedensheim« empor. Sehr friedlich kann es nicht sein, wo die kommandiert.
Durch die Haustür hört er ihre gellende Stimme: »Herr Seidenzopf, es ist einer da. Besoffen ist er nicht. Hat ’nen Handkoffer. Nee – kommen Sie selbst runter, er steht draußen im Gärtchen.«
Dann Stille.
Es ist eine Vorstadtstraße, die Apfelstraße in Hamburg. Dreißig kleine zweistöckige Häuschen wie das Friedensheim, manche noch mit richtigen Gärten und Baum und Busch, und achtzig fünfstöckige Mietskasernen.
Viele Leute unterwegs. Kleine Leute. Kufalt hat das Gefühl, hier braucht er sich nicht zu genieren, wenn sie auch alle erraten, wieso er hier vor Friedensheim mit seinem Handkoffer steht. Die wissen Bescheid, die regt das nicht mehr auf. Überhaupt hat ihm der Empfang nicht missfallen, es war der beste Empfang von der Welt, ein vertrauter Ton klang: Auch im Kittchen gab man gerne so an.
Mittlerweile könnte der sogenannte Seidenzopf kommen.
Wie gerufen erscheint er. Die Tür geht schnell auf, ein kleiner Mann in schwarzem, sehr weitem Anzug schiebt sich geschwind durch, und schon ist die Tür wieder zu.
Herr Seidenzopf steht vor Willi Kufalt, etwa anzusehen wie ein Schnauzhund, so dicht ist sein Gesicht mit wolligen schwarzen Haaren bewachsen, aus denen nur eine bleiche große Nase und grelle schwarze Augen leuchten. Das Kopfhaar aber ist glatt angeklatscht und glänzt mit öligen Lichtern.
Herr Seidenzopf betrachtet den jungen Mann lange und schweigend. Die Betrachtung erstreckt sich nicht nur auf Gesicht und Hände, nein, Mantel und Hosen, Schuhe und Handkoffer, Kragen und Hut – alles wird genau besichtigt.
Die Prüfung ist scheinbar beschlossen, der kleine Mann räuspert sich. Sein Räuspern erfolgt sehr laut in überraschend tiefem Bass.
»Ich kann warten«, antwortet Kufalt bescheiden.
»Können Sie es, so fragt es sich, ob es Zweck hat. Angemeldet sind Sie nicht«, sagt der Mann. Seine Stimme ist ein löwenhaft brüllender Bass, ein paar Kinder, die ihre Kreisel schlugen, sammeln sich am Gitter.
»Angemeldet bin ich. Und die Anmeldung müsste hier sein. Ich habe gestern früh schon unterschrieben.«
»Gestern früh!« schreit der Kleine. »Und ›schon‹! Sie verstehen nichts, Sie wissen nichts, aber hier stehen Sie und sagen, Sie können warten.«
»Kann ich auch«, sagt Kufalt, der immer leiser spricht, je mehr der Kleine brüllt.
»Anmeldungen gehen zuerst an unseren Herrn Vorsitzenden, Herrn Diakonus Doktor Hermann Marcetus. In vier Tagen sind sie vielleicht bei uns. – Können Sie so lange vor der Tür warten?«
»Nein«, sagt Kufalt, der das Gefühl hat, ausgezeichnet aufgenommen zu sein.
Hauptwachtmeister Rusch hat es auch immer auf die Tour gemacht, sagt er zu sich. Soviel Theater macht man nur für jemanden, an dem einem gelegen ist.
»Wenn Sie also nicht so lange warten können, dann werden Sie fein bitten müssen, mein junger Freund.« Mit gesteigerter Stimme: »Bitten ist keine Schande, wie Sie vielleicht denken werden, auch unser lieber Herr Jesus Christus hat sich nicht geschämt zu bitten, seine Jünger sowohl wie seinen himmlischen Vater.«
»Ich bitte also um Aufnahme am heutigen Abend in das Friedensheim«, sagt Kufalt sanft.
»Sehen Sie! Und wen bitten Sie …?«
»Herrn Seidenzopf, wenn ich recht verstanden habe.«
»Auch. Aber sagen Sie Vater zu mir. Ich bin der Vater von euch allen.« Mit ganz anderer Stimme, nicht mehr für das Publikum auf der Straße berechnet: »Das andere erledigen wir drinnen. Nicht, dass ich Sie schon aufgenommen hätte, aber …« Wieder mit brüllender Stimme, aber nun zur anderen Straßenseite hinüber: »Es hat gar keinen Zweck, dass Sie da umherschleichen und lauern, Berthold. Habe Sie längst gesehen. Sie kriegen kein Bett bei mir, Sie kriegen kein Essen bei mir, denn Sie sind wieder – besoffen! Gehen Sie dahin!«
Die schlotternde Gestalt drüben im Lodenmantel hebt beide Arme und schreit in höchster Fistel über die Straße: »Erbarmen Sie sich, Herr Seidenzopf! Wo soll ich denn schlafen heute Nacht? In den Anlagen ist es noch so kalt.«
Die Gestalt hastet über die Straße.
»Kommen Sie rasch!« flüstert Seidenzopf. Die Tür öffnet sich, Kufalt wird hindurchgedrängt, Seidenzopf nach – und rasch schlägt sie vor dem nahenden Berthold zu. »Klingel abstellen, Minna!« brüllt Seidenzopf. »Berthold ist an der Tür!«
Der Vorplatz ist dunkel, aber nicht so dunkel, dass Kufalt nicht auf einer ins obere Stockwerk führenden Treppe zwei Frauengestalten sähe, die eine die Maid von vorhin, die andere voluminös, zerfließend, drei Stufen höher.
Von dieser kommt die klagende, weinerliche Stimme: »O Vater! Am späten Abend bringst du noch einen Mann ins Heim. Sicher ist er betrunken und hat sein Geld vertan bei den Weibern, Vater. So spät kommt keiner aus dem Gefängnis, Vater!«
Und die helle scharfe Stimme der Schielenden: »Betrunken ist er nicht, Frau Seidenzopf. Aus dem Kittchen kommt er frisch, kann keinen grade ansehen. Seine Hosen sind ganz frisch gebügelt, noch nicht verknautscht, bei Weibern ist er also nicht gewesen …«
»Stille!« brüllt der Löwe. »An euer Geschäft, Frauen! Kein Wort mehr!«
Die beiden Gestalten entschwinden.
Durch die Tür klingt eine weinerliche Stimme: »Vater Seidenzopf, wo soll ich schlafen?! Vater Seidenzopf …«
»Husch! Husch!« macht Seidenzopf gegen die Tür. »Pflicht ist es, dass auch manchmal die Stimme des Mitleids schweige … Kommen Sie, junger Freund.«
Durch das Schlüsselloch jammert es: »Vater Seidenzopf, ach, Vater Seidenzopf …«
Sie aber gehen vom Flur in ein noch einigermaßen helles Zimmer. Auf einen Riesensessel mit Ohrenklappen hinter einem Schreibtisch setzt sich der Kleine, wie Fittiche stehen die Ohrenklappen über seinem Haupt. Auf die andere Seite des Schreibtisches darf sich Kufalt setzen.
»Meine Frau, junger Freund«, sagt der Kleine, »hat die Sache getroffen. Wo kommen Sie so spät noch her?«
»Aus dem Zentralgefängnis.«
»Aber das Zentralgefängnis entlässt um sieben Uhr früh. Sie hätten um zwölf Uhr hier sein können. Wo sind Sie solange gewesen?«
»Ich …«, fängt Kufalt an.
Der Kleine richtet sich steil auf. »Halt, halt, mein Lieber! Reden Sie nicht unbedachtsam! Leicht entschlüpft uns eine Lüge. Sagen Sie lieber: Ich schäme mich, es Ihnen zu sagen, Vater. Dann wollen wir eine Weile schweigen und bedenken, wie schwach wir sind, allzumal.«
»Ich bin doch erst um ein Uhr zwanzig entlassen, Herr Seidenzopf.«
»Vater«, verbessert der. »Vater. Ich glaube Ihnen, Freund, aber besser ist es, Sie zeigen mir Ihren Entlassungsschein.«
Kufalt nimmt seine Brieftasche, sucht, entnimmt ihr den Entlassungsschein und reicht ihn Herrn Seidenzopf.
Der kennt solche Dinger, er wirft nur einen Blick darauf. »Gut. Sie haben die Wahrheit gesprochen. Aber immerhin … Nein, lassen Sie die Brieftasche auf dem Tisch liegen. Wir sprechen sofort darüber. – Jetzt nur …«
Mit einem Ruck wendet sich der Kleine zum Fenster und trommelt wild gegen die Scheiben. »Gehst du weg? Gehst du weg? Soll ich die Polizei rufen? Gehst du weg!«
Kufalt sieht gerade noch das bleiche langnäsige Gesicht Bertholds hinter der Scheibe verschwinden.
Seidenzopf aber sagt strahlend: »Angst hat er vor mir! Haben Sie gesehen, was er für Angst hat vor mir? Ja, wir machen keine Wippchen. Wir sind streng. Streng muss man sein mit den Verlorenen, streng und mild. – Nun aber zu uns. Auch noch mit ein Uhr zwanzig hätten Sie eine Stunde früher hier sein können!«
»Ich bin erst in Altona in die Apfelstraße gegangen, das war gut eine Stunde hierher zu laufen mit dem schweren Handkoffer.«
»Kommen Sie rum!« ruft Seidenzopf. »Kommen Sie rum! Sehen Sie doch mal Ihre Brieftasche!« Er hat sie geöffnet und sieht staunend in ein Fach, in dem nichts zu sein scheint.
Kufalt blickt, ungewiss, abwartend, sieht nichts wie ein leeres Fach.
»Pusten Sie doch rein, Mensch. Sehen Sie da nicht die Spinne?«
Kufalt sieht keine, aber er pustet kräftig.
Seidenzopf schnuppert. »Alkohol haben Sie getrunken, junger Freund! Aber nicht viel. Ein Glas, nicht wahr? Na ja, aber Sie sollten es ganz lassen. Sehen Sie den Berthold, so ein kluger Mensch, ein Mann mit Gemüt und Religiosität, aber säuft. Dreimal schon hat er das Gelübde im Blauen Kreuz abgelegt – ich bin da der Leiter, ich kam vom Blauen Kreuz als Vater in dieses Friedensheim – und immer gebrochen! Immer gebrochen!«
»Ich hätte Sie auch so angepustet, ohne Theater.«
»Glaub ich, glaub ich. Sie sind ein ehrlicher Mensch. Ich sehe es Ihnen an. An Ihnen werden wir Freude haben, Sie sollen mal sehen, wie Sie bei uns hochkommen. – Na, und Ihr Geld, das geben Sie mir in Verwahrung …«










