Hans Fallada – Gesammelte Werke

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»Nein. Mein Geld will ich behalten.«
»Aber, aber, Sie wollen doch nicht, dass es Ihnen abhandenkommt? Sie wissen doch, was wir hier für Gäste haben! Wir haften nicht, wenn Sie’s bei sich behalten. Und natürlich bekommen Sie eine Quittung, und wenn Sie was brauchen, gebe ich Ihnen was. So: vierhundertneun Mark siebenundsiebzig. Gleich die Quittung.«
Kufalt sieht sein Geld ärgerlich an. »Aber ich brauche Geld, sofort. Ich muss Sockenhalter kaufen und Hausschuhe. Ich bin die Lederschuhe nicht gewöhnt, meine Füße tun mir weh.«
»Sie werden sich daran gewöhnen. Ich gebe Ihnen drei Mark. Aber Sie gehen achtsam mit dem Geld um, nicht wahr? Drei Mark sind schwer verdient.«
»Ich brauche mindestens zehn Mark«, sagt Kufalt mürrisch.
»O was! O was! Sind wir Millionäre? Sie können ja immer frisches haben, wenn die drei Mark alle sind. Sie kriegen’s, lieber Freund. Aber wenn man erst zu Vater Seidenzopf gehen muss, überlegt man sich’s zweimal. Und wieder hat man Geld gespart.«
Der Kleine ist schon am Schrank, die Brieftasche ist fort.
Hätt ich das geahnt, denkt Kufalt verblüfft, hätt ich mir was beiseite gesteckt. Immer wieder fällt man auf diese Brüder rein.
»Und nun unterschreiben Sie noch schnell die Heimordnung und die Schreibstubenordnung, und dann gehen Sie hinauf und packen aus und rüsten Ihr Bett.«
»Können wir nicht Licht machen?« fragt Kufalt, vor dem zwei enggedruckte Formulare liegen. »Ich möchte doch auch gerne wissen, was ich unterschreibe.«
»Das wollen Sie alles lesen? Lieber Freund, was hat denn das für einen Sinn? Tausend Menschen haben das unterschrieben, da werden Sie’s doch auch unterschreiben.«
»Aber wissen möcht ich doch, was hier los ist. Lassen Sie mich lieber lesen.«
»Aber Sie ärgern sich unnütz, lieber Freund. Natürlich, wenn Sie wollen. Am Fenster ist noch Licht genug.«
Am Fenster ist nicht mehr Licht genug. Kufalt sieht nach dem Schalter, auf die dämmerige Straße, in den Vorgarten. Da hockt eine Gestalt, ein bleiches, weißnasiges Geschöpf, und macht Grimassen zu ihm hin. »Da sitzt doch der Berthold!« ruft er.
»Wo …? Oh, dieser Unglückselige! Nun muss ich ihn wieder wegschaffen lassen durch die Polizei. Lieber Herr Kufalt, tun Sie mir die Liebe, unterschreiben Sie schnell. Ich muss zu dem Unseligen, das Ärgernis muss weg. Unser Haus darf nicht auffallen, ein wahres Friedensheim muss es sein. Sehen Sie, nun haben Sie unterschrieben. Ich schüttele Ihre Hand. Mein Sohn sind Sie nun. Gott segne Ihren Eingang.«
»Interkonfessionell ist das Heim aber doch?« grinst Kufalt.
»Aber natürlich! Ganz interkonfessionell! Minna, bringen Sie Herrn Kufalt seine Bettwäsche und ein Handtuch. Minna, dies ist Ihr Bruder Kufalt. Kufalt, dies ist Ihre Schwester Minna.«
Ogottogott, denkt Kufalt.
»Gebt euch die Hand. Natürlich nennt ihr euch weiter Sie. Kufalt, einfach die Treppe hinauf. Suchen Sie sich Ihr Bett aus. Sie sind jetzt hier zu Haus. Sie werden einen Bruder oben finden …«
»Der spinnt ja, Vater«, sagt Minna, das Mädchen im Friedensheim.
»Ja, er ist krank. Er ist krank noch, der Bruder Beerboom, liebe Minna. Die lange Haft …«
»Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm ausgehen will«, sagt Minna mit den Schielaugen.
»Oh! Oh! Oh! Aber es braucht nichts Unsittliches zu sein, wenn er mit Ihnen ausgehen möchte, natürlich werde ich ihn aber vermahnen. Gehen Sie jetzt, Kufalt, ich muss zu dem gefallenen Bruder.«
Ein Blick aus dem Fenster zeigt Kufalt, dass sein Bruder Berthold wirklich gefallen ist: Jetzt kriecht er auf allen vieren durch den Vorgarten und trägt seinen Hut in den Zähnen.
»Ich muss wirklich die Wache anrufen«, sagt Seidenzopf angesichts der Menge, die sich am Gitter des Vorgartens drängt.
Er reißt das Fenster auf und ruft: »Geht doch fort, ihr Neugierigen, ihr Gaffer! Erbarmt sich euer Herz nicht …«
Eine grobe Stimme ruft aus der Menge: »Wolle-Teddy, mach dir keinen Fleck ins Hemde …«
Kufalt tastet sich die fast dunkle Treppe hinauf.
3
Oben auf dem Flur ist es kaum noch hell. Mit Mühe unterscheidet Kufalt eine Tür. Er drückt auf die Klinke, und die Tür geht auf. Ein dunkler Raum, der groß zu sein scheint. Kufalts Hände suchen nach dem Schalter, finden ihn schließlich, das Licht brennt, eine funzlige Sechzehn-Kerzen-Birne in einer langen Schlucht.
Zwölf schnurgerade ausgerichtete Betten. Zwölf schmalbrüstige schwarze Schränke. Dazu ein einziger eichener Tisch.
Üppig ist das nicht, denkt Kufalt, das trauliche Friedensheim. Wenigstens sind die Fenster nicht vergittert. Sonst ist es eigentlich Kittchen. Die Betten sind auch nicht besser.
Erst jetzt sieht er, dass auch die Bettwäsche über seinem Arm Gefängnisbettwäsche ist, blau gewürfelt. Haben sie geschnorrt von der Justizverwaltung. – Hier wohnt jedenfalls keiner. Wollen mal die nächste Tür versuchen.
Die nächste Tür ist verschlossen.
Die letzte Tür führt in einen erleuchteten Raum, wo auf einem Bett ein Mann liegt. Der Mann hebt den Kopf, betrachtet Kufalt und sagt: »Na, bist du endlich auch da, oller Knastschieber, Stubben, elender? Wird Zeit. Wie viel abgerissen? Hat dir Wolle-Teddy Geld gelassen? Hast du Schnaps im Koffer? Hast dich schon ausgeschlämmt vom Knast bei den kleinen Mädchen …?«
»Guten Abend«, sagt Kufalt.
Der Mann steht auf und lacht verlegen. Es ist ein mittelgroßer, breiter Kerl mit grauer lederartiger Haut, dunklen, stumpfen, schwarzen Augen, krausem, schwarzem Haar. »Entschuldigen Sie bloß. Diese Begrüßung sollte nämlich ein Witz sein. Wir sind ja jetzt in der sogenannten goldenen Freiheit. Mein Name ist Beerboom …«
»Kufalt«, sagt Kufalt.
»Mein Vater ist Universitätsprofessor, kennt mich aber nicht mehr. Elf Jahre Zet abgerissen, wegen Raubmord. Ich hab ’ne kleine Schwester, die war süß, muss jetzt ein großes Mädel sein. Haben Sie ’ne Schwester?«
»Ja.«
»So. Ich möchte meine gerne wiedersehen. Darf aber nicht. Mein Vater meldet mich sofort bei der Polente, wenn ich in sein Kaff komme und – Schluss mit der Bewährungsfrist! Wenn ich Sie übrigens störe, dahinten ist noch ein Zimmer, da können Sie auch schlafen.«
»Ich will mal sehen«, sagt Kufalt. »Sind wir die beiden einzigen hier?«
»Ja. Ich bin zwei Tage hier. Dachte schon, ich bliebe der einzige Idiot, der freiwillig in diese Besserungsanstalt geht. Ich hau mich wieder hin. Bis zum Abendessen ist noch ’ne halbe Stunde Zeit.«
»Ich will mal sehen«, sagt Kufalt zu dem Raum hin, der hinter diesem liegt.
»Genieren Sie sich nicht. Kann ich verstehen, ich verstehe alles. Übrigens heule ich meistens abends vor dem Einschlafen ’ne Stunde, würde Sie stören. Im Zet haben sie mich deswegen auf Gemeinschaft immer vertrimmt, ich kann es aber nicht lassen. Ist übrigens ein guter Name, Kufalt, ich denke an Einfalt und Dreifaltigkeit. Was ist eigentlich Dreifaltigkeit?«
»Irgendwas mit dem Heiligen Geist. Ich weiß auch nicht. – Ich will jetzt aber mal sehen …«
»Gehen Sie ruhig los, Mensch, Kufalt, Heiliger Geist. Genieren Sie sich nicht. Ich rede immer weiter, wenn ich ’nen Menschen sehe. Hab ich mir so angewöhnt im Knast. Brauchen Sie nicht zuzuhören. Ich hör auch nicht zu …«
»Also, dann gehe ich …«
»Haben Sie schon gesehen, das Affentheater mit den Fenstern? Schlimmer als im Kittchen. Keine Gitter, nee, aber die schmalen Scheiben gehen immer nur zehn Zentimeter weit um ’ne Stahlachse. Und Rahmen und Leisten sind Eisen. Türmen, nachts auf die kleinen Mädchen, mulle, mulle, oller Jenießer, is nich. Vater Seidenzopf, der weiß Bescheid.«
»Ich gehe also.«
»Mensch, gehen Sie doch! Sie sind genauso ein Trottel wie ich. Wenn ich abends heule, denk ich immer, so ’nen Idioten wie mich gibt’s nicht wieder. Es gibt aber auch andere. Zum Beispiel Sie, dass Sie hier immer noch stehen …«
»Bin schon drüben«, sagt Kufalt und lacht.
Das Zimmer dahinter ist genauso ein Loch, vier kahle Wände, vier schmale Schränke, vier unbezogene Betten. Kufalt wählt das Bett an der Wand zuhinterst. Er wirft den Koffer auf das Bett und schließt ihn auf. Die Schranktür steht offen, kein Schlüssel steckt darin. Das Schloss ist auch nur Tinnef, Blech, eine Zuhalte, mit jedem Draht aufzutändeln. Kufalt probiert daran herum.
»Kleb den Schrank mit Spucke zu«, ruft der von drüben. »Hab bloß keine Angst um dein Gelumpe. Wenn ich’s dir schon klaute, ich käm ja nicht raus aus dem Haus, das Schielauge passt uns auf, noch und noch …«
»Und mit der wollten Sie ausgehen?« fragt Kufalt und legt seine Oberhemden in den Schrank.
»Warum nicht, Weib ist Weib. Hat sie’s also dem Wolle-Teddy erzählt. Na warte, Mariechen! Der lackieren wir auch mal die Fassade. Es passt schon mal so …«
Kufalt packt aus. Der ist ja alle, denkt er. Der spinnt ja. Elf Jahre Zet, der ist hübsch gründlich fertig geworden, der wird nicht wieder.
Er packt weiter aus. Plötzlich steht der andere in der Tür, lautlos auf Socken angeschlichen. »Ein richtiger Raubmord war es gar nicht. Hab meinen Leutnant alle gemacht, und als das Schwein dalag, dacht ich erst daran, dass ich kein Geld zum Türmen hatte. – Saubere Sachen hast du, muss man sagen. Mir haben sie im Zet lauter Powel gegeben, meine Sachen waren ja alle hin vom langen Liegen. Die Hemden nichts wie Baumwolle. Und der Anzug – was ist denn das für ein Anzug? So ein Ding von der Stange – dreißig Mark. Aber der Pfaffe, der schwarze Mann, hat mich nie ausstehen können. Verkaufen Sie die Socken? Die mag ich. Was wollen Sie haben für die lilanen?«
»Nein, verkaufen nicht«, antwortet Kufalt. »Aber ich schenke sie Ihnen, ich mag sie nicht besonders.«
»Immer her damit, wenn einer so dumm ist. – Erst war das Urteil: Kohlrübe weg bei mir, dann lebenslänglich, dann fünfzehn Jahre. Und jetzt mit elf haben sie mich rausgelassen. Und dabei keine gute Führung, keine Fürsprache. Und doch raus? Weil mein Fall stinkt, zum Himmel stinkt er. Zu den Roten müsste man gehen und denen erzählen …«
»Jetzt sind Sie ja draußen.«
»Aber Polizeiaufsicht. Verlust der Ehrenrechte auf Lebenszeit. Ach was, ich scheiß auf die Ehrenrechte, ich will gar keine Ehre von denen haben. Aber dem Pfaffen möcht ich es besorgen. In vier Wochen kommt er hierher, unser Pfaffe aus dem Zuchthaus. Wissen Sie, dass die hier dann fünfundzwanzigjähriges Jubiläum feiern, die hier vom Friedensheim …?«
»Nee.«
»Räuber sind das hier. Der geölte Aal, der Seidenzopf, ist ein Räuber, aber die kalte Wasserschlange, der Pfaffe, der Marcetus, der ist noch zehnmal so schlimm, und am schlimmsten ist der Bürovorsteher, der Eierkopf, der Mergenthal. Von unserm Blut leben die. Deswegen haben die doch den ganzen Apparat hier aufgemacht, die Speckjäger, sogenannte Wohltätigkeit, dass die was zu fressen haben durch unsere Arbeit. Ich könnte Ihnen was erzählen …«
»Sie sind doch erst zwei Tage hier …?«
»Wieso denn? – Wollen wir rauchen? Es ist verboten, aber die schmeißen uns nicht raus, solange sie so wenig Leute im Heim haben. Eine stoßen, zum Fenster raus, genau wie im Zet … Was das Erzählen angeht, ich seh was, wissen Sie, irgendwas, der Pfaffe sagt: ›Gehen Sie da rauf!‹, oder Seidenzopf: ›Sie sind ein Lügner!‹ Und wenn ich dann abends im Bett liege und heule, dann spinn ich das aus, dann mach ich mir Geschichten da draus, dann seh ich durch die Wände, darum weine ich ja auch, weil ich mir so leid tue …«
»Jetzt haben Sie es ja überstanden.«
»Gar nicht überstanden. Mein Lieber, jetzt geht es los. Jetzt fängt es erst richtig an. Wenn ich hier aus diesem Heim rauskomme, dann in ’ne Klapsmühle oder wieder ins Zet, was anderes gibt es nicht. – Hören Sie bloß, was für ein Krach! Kommen Sie, wollen mal lauschen, oben an der Treppe. Schmeißen Sie die Kippe nicht zum Fenster raus, draußen ist der Heimgarten, da findet sie morgen sonst Schielebock …«
Ein toller Lärm brandet von unten herauf. Seidenzopfs Bass rollt tief und sonor, spitz schreit die Minna, Frau Seidenzopf protestiert weinerlich in den höchsten Tönen, dazwischen eine flehende Stimme …
»Ich fordere Sie auf«, schreit Seidenzopf. »Verlassen Sie dieses Haus, dessen Sie unwürdig …«
Die flehende Stimme schreit: »Erbarmen Sie sich, Vater!«
Kufalt flüstert: »Das ist der Saufkopp, der Berthold …«
Und Beerboom: »Welcher Berthold …?«
»Hausfriedensbruch«, grunzt Seidenzopf. »Zum ersten. Zum zweiten. Zum dritten …«
Ein schwerer Fall.
Die Weiber kreischen: »Ogottogottogottogottogott!«
Seidenzopf: »Mich täuschen Sie nicht …«
Frau Seidenzopf jammert: »Er blutet …«
Und Minna: »Mein schönes blankes Linoleum!«
Seidenzopf brüllt: »Herr Beerboom! Herr Kufalt! Ich bitte Sie …«
In fünf Sprüngen sind sie die Treppe hinunter. Auf der Erde, in seinem Lodenmantel, mit offenem Mund, bleich, bewusstlos, mit blutig geschlagener Stirn, liegt Berthold.
»Ich bitte Sie, meine Söhne, tragen Sie den Unglückseligen in Ihr Gemach. Auf die Stirn genügt eine nasse Kompresse. Minna, geben Sie Ihrem Bruder Kufalt ein Handtuch …«
Es ist nicht ganz leicht, einen Bewusstlosen, dessen Glieder schwer wie Blei sind und die Tendenz haben, wie Quecksilber fortzurollen, eine steile, schlechtbeleuchtete Treppe hinaufzutragen, deren Linoleumbelag eisglatt ist.
»Legen Sie ihn hier auf das Bett neben meinem«, sagt Beerboom. »Dann kann ich ihm immer eins in die Fresse geben, wenn er heute Nacht aufwacht, so was macht mir Laune …«
»Ich will ihm gleich einen Umschlag machen.«
»I was! Der braucht doch keinen Umschlag für das bisschen Schrammen. Sollten Sie gesehen haben, wie die mich manchmal im Zet in der Mache gehabt haben!«
»Warum haben Sie denn so ’ne Wut auf den Berthold? Der hat Ihnen doch nichts getan.«
»Ich wollte, ich wäre so schön besoffen wie der! Das kann einen doch neidisch machen. Das letzte Mal war ich’s Weihnachten 28 im Zet, da haben wir Möbelspiritus aus der Tischlerei getrunken …«
»Guten Abend, Kinder«, sagt der Betrunkene und richtet sich auf. »Bin scheinbar ein bisschen doller gefallen als beabsichtigt. Na, Wolle-Teddy hat klein beigegeben, hat mich doch wieder aufgenommen! Was dem morgen sein Pastor für ’nen Marsch blasen wird!«
»Sie sind ja gar nicht besoffen«, sagt Beerboom mürrisch. »Dann ist es eine Gemeinheit, sich so die Treppen raufschleppen zu lassen.«
»Natürlich bin ich besoffen. Nur so wie ihr Kindlein kann ich nicht mehr besoffen sein. Ich bin frei, wenn ich trinke. Ihr seid gefangen, wenn ihr trinkt. Ich kann alles, wenn ich trinke. Ihr gar nichts. Kinder, ich habe eine glänzende Idee. Einer von euch, du da, du Dunkelblonder, du siehst so unverdorben aus, du sagst Teddy, dass du noch mal auf die Straße musst, und holst ’ne Flasche Schnaps.«
»Quatsch«, sagt Beerboom. »Der lässt uns jetzt um acht doch nicht mehr aus dem Haus. Und wer gibt Geld?«
»Geld. Geld. Ihr habt doch Geld, ihr Kittchenjungfern. Ihr arbeitet doch für Geld. Ich – seht meine Hände, nichts kann ich mehr halten, so einen Tatterich.«
»Bist noch stolz drauf, olles Saufloch!«
»Nein«, schluchzt Berthold. »Eine Plage ist das. Und ich tu jetzt dem Teddy auch die Liebe. Ich tret wieder dem Blauen Kreuz bei. Ich schwör den Schwur. Und ich halt ihn auch. Ein Mann muss können, was er will. Und wenn ich ihn nicht halte, fange ich nur ganz, ganz langsam zu saufen an …«
»Sag mal«, fragt Beerboom, »bist du eigentlich vorbestraft?«
Berthold grient schon wieder. »Nee, mein Junge, nichts zu machen. Ich bin nur Säufer und arbeitsscheu.«
»Und was willst du da hier?« fragt Beerboom wütend. »Das ist hier für Vorbestrafte! Arbeiten willst du nicht, aber fressen willst du. Sollen wir etwa für dich arbeiten …?«
»Fang doch keinen Streit an«, jammert der Betrunkene. »Ich vertrag keinen Streit. Ich bin so glücklich, dass ich bei oll Vadder Teddy bin. – Hör zu, ich hab ’ne glänzende Idee. Warte, hier in der Tasche habe ich was.« Er kramt und bringt einen Block zum Vorschein. »Rezepte. Rezeptformulare. Hab ich heute früh einem Arzt geklaut.«
»Wie kommst du denn zu einem Arzt?«
»Bin einfach in seine Sprechstunde gegangen, das kann man doch. Wie ich drin bin in seinem Zimmer, bitte ich ihn um ein Darlehen von fünf Mark. Er sagt, es ist eine Frechheit, ich soll machen, dass ich rauskomme. Ich sag, ich geh erst, wenn ich fünf Mark habe. Er rennt rum wie ein Huhn ohne Kopf, ich bleib ruhig sitzen. Schließlich läuft er nach Leuten zum Rausschmeißen. Unterdes hab ich die Rezepte geklaut und mich leise verdrückt.«
»Und? Wozu? Was willst du denn mit den Rezepten?«
»Das ist doch das Feine. Da schreiben wir Morphium drauf und Koks und so’ne guten Sachen und verscheuern das nachher vor den Nachtlokalen.«
»Das ist nicht dumm. Weißt du denn, wie man das raufschreibt?«
»Ich hab doch mal ’nen Mediziner gekannt! Ich soll das nicht wissen. Fein geht das.«
»Daher kriegst du dein Geld, oller Saufkopp! Na warte, wenn ich …«
Eine Kuhglocke bimmelt.
»Abendessen! Kommen Sie mit …?«
»Lasst mich nur liegen, Kinder. Wenn ich denke, ich soll was essen, dreht sich alles in mir um. Mein Magen ist aus Glas.«
»Also bleibst du liegen. Aber das sag ich dir, wenn du unsere Sachen auch nur anfasst, du olles dreckiges Schwein, du …!«
»Ich träume, ihr Äffchen. Was brauch ich Sachen? Ich brauch schon lange keine Sachen mehr.«
4
Am nächsten Morgen um halb neun sitzt Kufalt in der Schreibstube. Er ist noch unbeschäftigt, die anderen arbeiten. Eine ganze Menge sind gekommen, zehn, zwölf Herren, und haben sich an ihre Tische gesetzt. Nun schreiben sie alle, nichts wie Adressen, manche mit der Hand, manche mit der Maschine.
Auch der fahle Beerboom sitzt am Tisch neben Kufalt und schreibt emsig.
»Tausend Stück vier Mark fünfzig«, hat er geflüstert. »Ich will heute mindestens fünfzehnhundert schaffen. Zwei Mark fünfzig Pension, da habe ich fünf Mark über. Fein, was?«
»Kann man denn fünfzehnhundert schaffen?«
»Klar. Gestern habe ich schon fast fünfhundert geschafft, und heute bin ich doch eingearbeitet.«
Nun erscheint Vater Seidenzopf in einem Lüsterjackett, gefolgt von einem Mann mit glattem Eikopf und grauem Spitzbart. Er geht einen Gang hinauf, den anderen hinunter, sagt zweimal »Guten Morgen« und verschwindet wieder. Der Eikopf stumm hinterher.
Kufalt sitzt und sieht in den Garten. Schön grün ist es da, und der Rasen sieht so frisch aus.
»Gehört der zu uns?« fragt er Beerboom.
»Das tut er, aber rein dürfen wir nicht. Der ist so da, zur Parade, wenn Besichtigungen kommen …«
Kufalt grinst verständnisinnig.
Ein Langer sagt halblaut: »Wenn die Adressen fertig sind, soll die Arbeit mal wieder alle sein.«
»Wie viel sind denn noch nach?«
»Dreißigtausend.«
»Das reicht ja höchstens für zwei Tage. Dann sitzen wir wieder da.«
»Bis dahin kommt neue Arbeit.«
»Darauf warten Sie man.«
Der Eikopf erscheint von Neuem und trägt einen Umschlag in der Hand. »Herr Kufalt, schreiben Sie hier mal Ihre Adresse auf. Einfach Ihre Adresse: Herrn Willi Kufalt, Hamburg, Apfelstraße, Friedensheim. – Nanu, geht das nicht besser? – Schön, wollen wir mal sehen.«
Er verschwindet mit dem Umschlag, und Kufalt schaut wieder in den Garten.
Einer fragt: »Was machen Sie, wenn die Arbeit hier alle ist?«
»Ich weiß auch nicht, es bleibt nur die Wohlfahrt.«
»Ich kann vielleicht ’ne Staubsaugervertretung kriegen.«
»Dann hängen Sie sich lieber gleich auf. Staubsauger ist noch schlechter als Margarine.«
Eine neue Stimme: »Mit Fußbodenwachs und Zerstäubern ist noch was zu machen.«
»I wo, das war einmal. Alles längst abgegrast.«
Wieder erscheint der Eikopf, maßlos erstaunt. »Es wird doch hier nicht gesprochen? Ich müsste aber sehr bitten!«
»Hier spricht keiner, Herr Mergenthal.«
»Also, ich bitte sehr nachdrücklich. Sie wissen alle, was das Übertreten der Schreibstubenordnung nach sich zieht. Wenn einer der Herren die Straße vorzieht …?« Viele Federn kritzeln, die Maschinen schmettern. »Herr Kufalt, Herr Seidenzopf lässt Ihnen sagen, Sie hätten Doktor werden sollen.«
»Ich? Wieso?«
»Ihre Handschrift – vollkommen unbrauchbar. Sind Sie schon mal in Ihrem Leben auf einem Büro gewesen? So. Das muss ein komisches Büro gewesen sein. – Aber Schreibmaschine können Sie doch schreiben?«
»Ja.«
»Das sagen Sie. Ich glaub’s deswegen aber noch lange nicht.«
»Natürlich kann ich Schreibmaschine schreiben. Gut sogar.«
»Zehnfingersystem?«
Zögernd: »Nicht ganz. Aber sechs bestimmt.«
»Sehen Sie. Zum Schluss nehmen Sie zwei Finger und sind glücklich, wenn Sie die richtige Taste treffen. – Sie müssen sich erst einmal eine Schreibmaschine in Ordnung bringen. Auseinandernehmen und reinigen und ölen. Können Sie das?«
»Es kommt auf das System an.«
»Es ist ’ne Mercedes. Also, denn machen Sie los.«
»Da brauch ich aber Benzin und Öl und Lappen.«
»Gehen Sie zu Herrn Seidenzopf, der gibt Ihnen einen Groschen für Benzin. Und Minna hat Lappen und Nähmaschinenöl.«
Eine halbe Stunde später sitzt Kufalt vor einer Blechschüssel, in der sämtliche Typenhebel der Maschine in Benzin baden, seine Finger sind mit einem Überzug von violetter Farbbandfarbe und schwarzem Öldreck bedeckt.
Er fängt gerade an, die Typenhebel rein zu bürsten, als Minna in der Tür erscheint. »Der Neue soll bohnern kommen.«
»Aber das ist doch!« protestiert Mergenthal. »Der sitzt jetzt bei einer Arbeit, wo er nicht weg kann. Herr Beerboom kann gehen.«
»Frau Seidenzopf sagt, der Neue soll bohnern. Beerboom macht’s nicht ordentlich. Und wenn der Neue nicht kommt, sage ich ihr, dass Sie es ihm verboten haben!«
»Also gehen Sie bohnern«, sagt Mergenthal. »Wischen Sie Ihre Hände an dem Lappen ab. Sie kommen ja gleich wieder.«
Gleich dauert anderthalb Stunden. Kufalt hat sämtliche Schlafsäle, den Vorplatz, die Treppen zu bohnern, streng beaufsichtigt von dem Dienstmädchen Schwester Minna.
»Warum machen Sie das eigentlich nicht?« erkundigt sich Kufalt.
»Ihnen Ihren Dreck nachräumen? Ich bin nur für Seidenzopfens da!«
Zum Schluss erscheint noch Frau Seidenzopf, in einem Schlafrock zerfließend, von Kufalt begrüßt mit dem Rufe: »Guten Morgen, gnädige Frau, wünsche wohl geruht zu haben.«
Da Frau Seidenzopf keinen Sinn für Ironie hat, sagt sie ziemlich gnädig: »Für den Anfang geht es. Aber der Mann muss noch besser in die Ecken, Minna.«
Dann sitzt Kufalt wieder vor seinen Typenhebeln und bürstet die Gelenkstellen rein von Schmutz. Er ist ziemlich fertig mit dieser Arbeit, als Mergenthal, der scheinbar ständig zwischen Chefbüro und Schreibstube hin und her pendelt, auftaucht mit dem Ruf: »Herr Kufalt und Herr Beerboom zu Herrn Seidenzopf.«
Der Vater aller sitzt in seinem Lüsterjackett am großen Schreibtisch. »So, meine jungen Freunde. In der Arbeit sind wir nun, und möge sie Ihnen gedeihen. – Wie viel Geld haben Sie, Kufalt?«
Kufalt sagt mürrisch, denn dies ist ein sehr wunder Punkt: »Das wissen Sie doch. Drei Mark.«
»Zeigen Sie mal Ihr Portemonnaie. Richtig, sehen Sie, so ist es recht. Klare Geldverhältnisse heißt reines Gewissen. – Und Sie, Beerboom? Zeigen Sie her, erzählen Sie nichts. Leer? Wo sind Ihre drei Mark?«
»Die sind mir heute früh ins Klosett gefallen.«
»Beerboom! Herr Beerboom! Mein Sohn Beerboom, soll ich Ihnen das glauben?«
»Fressen tu ich kein Geld«, sagt Beerboom. »Und überhaupt, ich komm ja gar nicht raus aus dem Stall hier, wo soll ich denn hin mit dem Geld? Denken Sie, ich hab’s Ihrer Minna gegeben?«
»Nein, aber dem Berthold.«
Einen Augenblick ist Beerboom verlegen. »Berthold? Welchem Berthold? Ach, dem ollen Penner? Ich geb doch Besoffenen nicht mein einziges Geld! Reingefallen ist es mir, mit der Hand hab ich noch nachgefasst, Sie können’s selbst sehen, den ganzen Ellbogen hab ich mir zerschrammt im Rohr.«
Er will sich ausziehen.
»Lassen Sie«, sagt Seidenzopf ziemlich giftig. »Ich weiß Bescheid. Sobald bekommen Sie kein Geld wieder von mir. – Also, Kufalt und Beerboom, ich schicke euch jetzt beide allein in die Stadt …«
»Ja?«
»Wirklich?«
»Es ist euer erster Ausflug in die Freiheit …«
Die Tür öffnet sich, und ein blonder, sehr junger Mensch erscheint. »Ach, entschuldigen Sie, Herr Seidenzopf, ich störe wohl …«
»Nein, im Gegenteil, Herr Petersen, darf ich Ihnen unsere beiden neuen Gäste vorstellen? Das ist Herr Beerboom, seit vorgestern hier, und dies Herr Kufalt, seit gestern Abend unser Gast. – Berthold war auch wieder da, wieder habe ich mich erweichen lassen, und wieder hat er mich enttäuscht. Heute früh, ich lauere darauf, dass er wie immer einen Pumpversuch bei mir macht, eher geht er doch nie fort – und in einem Moment, wo ich gerade … wo ich eben … kurz, wo ich einem natürlichen Bedürfnis Folge zu leisten gezwungen war – diesen Augenblick hat er benutzt und ist entflohen. Und ich fürchte, mit dem Geld unseres Schützlings Beerboom.«










