Hans Fallada – Gesammelte Werke

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»Gestohlen …?«
»Mein Geld ist ins Klosett gefallen!«
»Lassen wir das. – Meine jungen Freunde, der Herr, den Sie vor sich sehen, Petersen mit Namen, ist Ihr Freund und Bruder, Ihr Beschützer und Berater. Er ist …« Seidenzopf kommt in Fluss, als sagte er sorgfältig Erlerntes auf: »Er ist ein sozial interessierter, innerlich gefestigter und sittlich hochstehender junger Mann, den Sie in Ihre Mitte aufnehmen wollen, der mit Ihnen zusammen wohnt, die Mahlzeiten mit Ihnen einnimmt und Ihnen in jeder Hinsicht Freund und Berater sein wird. Die Abende und die freien Sonntage verbringt er in Ihrer Gesellschaft, er sucht Sie zu edler Geselligkeit anzuleiten und, soweit Sie es ihm gestatten, erzieherisch auf Sie einzuwirken. Er hat seine Examina als Volksschullehrer absolviert und studiert jetzt im vierten Semester Nationalökonomie, wozu ihm neben seiner Tätigkeit im Heim ausreichende Zeit zur Verfügung steht. – Reichen Sie ihm die Hand, meine Herren.«
Sie reichen sich die Hände.
»Herr Petersen, ich stehe im Begriff, die beiden Herren allein in die Großstadt zu schicken. Sehen Sie Bedenken?«
»Wenn ich fragen darf, zu welchem Zweck?«
»Sie sollen sich auf dem zuständigen Polizeirevier anmelden.«
Der junge Petersen lächelt. »Nein, Herr Seidenzopf, ich sehe da keine Bedenken.«
»Und Sie meinen, Herr Pastor Marcetus wird mir keine Vorwürfe machen? Dass ich etwa zu vertrauensselig bin …?«
»Nein, sicher nicht. Lassen Sie die Herren ruhig allein gehen. Sie werden Ihr Vertrauen nicht enttäuschen.«
5
»Wissen Sie«, sagt Beerboom auf der Straße zu Kufalt, »das ist doch wieder nur so ein Aufpasser, ein Spion, dieser Petersen oder wie er heißt. Der soll bloß abhauen, der Lampenmacher, der!«
»Ich fand ihn eigentlich ganz nett, er hat so hübsch mit den Augen gelacht bei dem Vortrag von Vater Seidenzopf.«
»Ach, der Wolle-Teddy, der kann auch abhauen. Nicht mal das mit meinem Geld hat er mir geglaubt.«
»Haben Sie’s denn wirklich verloren?«
»Gar nicht. Dem Berthold hab ich’s gegeben. Glauben Sie, dass er es mir wiedergibt?«
»Wieso haben Sie es ihm denn gegeben?«
»Als Betriebskapital. Er holt Morphium dafür, und den Gewinn teilen wir.«
»Auf den Gewinn werden Sie wohl lange warten.«
»Ich muss Geld haben, Kufalt, Geld muss ich in der Tasche haben. Würden Sie mir ’ne Mark leihen?«
»Wozu brauchen Sie denn jetzt Geld?«
»Nur so. Ich muss Geld in der Tasche haben. Wir können ja auch ein Glas Bier davon trinken, ich halte Sie frei.«
»Sie müssen doch ’ne Masse Geld bei Seidenzopf zu stehen haben. Bei Ihrem langen Knast.«
»Ja, ’ne Menge ist es schon, neunzig Mark.«
»Was! Nur neunzig Mark bei elf Jahren Knast?«
»Erst war doch die Inflation, da ging unser ganzer Arbeitsverdienst flöten. Da haben wir nur dreißig Mark Aufwertung für all die Jahre gekriegt. Und dann später habe ich keine Lust mehr gehabt, ich hab immer auf die Amnestie gewartet, und nachher war es nichts, und dann hatte ich erst recht keine Lust.«
»Neunzig Mark sind schnell alle.«
»Neunzig Mark sind ’ne Masse. Ich wollte, ich hätte sie, ich ginge los. Haben Sie ’ne Ahnung, was hier die Mädchen nehmen? Nicht für ’ne ganze Nacht, nur so mal schnell.«
»Keine Ahnung.«
Sie gehen weiter. Es weht ein ganz angenehmer Wind, die Bäume sind gut hellgrün. Dann geht eine Straße schräg ab, die sie entlang müssen, und es ist hübsch, über den Damm zu gehen und die lange bunte Straße ganz weit hinunterzusehen. Gleich vorne ist eine Tankstelle, scharlachrot.
»Das Mädchen hat mich angesehen.«
»Warum soll sie nicht? Sie sehen doch sehr gut aus.«
»Finden Sie? Meinen Sie, dass ich ’ne Nummer bei den Mädchen habe? Ich bin doch dunkel, man sagt doch immer, dunkel mögen die Weiber gerne. Nur mein Teint, meinen Sie, dass ich Wolle-Teddy um Geld für Höhensonne bitte? Im Zet haben sie mir gesagt, davon krieg ich einen anderen Teint.«
»Würde ich nicht tun. Sie leben doch jetzt ganz anders wie im Zet, da kriegen Sie von selbst einen anderen Teint.«
»Sehen Sie mal, Kufalt, das Café sieht nett aus. Das ist sicher mit Weiberbedienung. Pumpen Sie mir zwei Mark, wir gehen rein, ich halte Sie frei.«
»Jetzt melden wir uns erst mal an«, sagt Kufalt, der sich weise und abgeklärt wie ein Opa vorkommt. »Mit zwei Mark können wir in einem Weibercafé auch nichts machen.«
»Aber vielleicht verliebt sich eine in uns, und wir brauchen nichts zu zahlen.«
»Um Gottes willen! Nur nicht!«
»Haben Sie denn schon eine? Nehmen Sie mich mit, wenn Sie zu ihr gehen?«
»Ich hab doch keine.«
»Aber warum wollen Sie dann nicht, dass sich eine in Sie verliebt?«
»Keine aus solchem Café. Ich denk mir was anderes.«
»Ach denken! Haben will ich eine! Und möglichst rasch.«
*
In der Polizeiwache stehen zwei Beamte an zwei Stehpulten und sehen einander an. Der eine hat etwas vogelartig Gesträubtes mit seinem spitzen, borstigen Bart, der gekrümmten Nase, den grellen Augen, der andere ist ein kleiner blasser Mann.
»Ich kann nur sagen«, erklärt der Blasse, »ich hab ’ne Parzelle bei der Horner Rennbahn. Die ist mein halbes Leben. Da gärtnere ich so rum.«
»Gärtnern«, sagt der gesträubte Vogel missbilligend, »wenn ich schon so was höre! Sie sind doch kein Gärtner. Das ist doch alles Pfuscherkram. Wenn Sie soweit sind und ernten Kohlrabi, dann wird er Ihnen in den Gemüsehandlungen nachgeschmissen.«
»Ich mache es nicht um Geld«, sagt der Blasse. »Es macht mir – so – Freude, wissen Sie.«
»Pfusch«, sagt der Vogel. »Nichts wie Pfusch. Sehen Sie, ich spiele Skat. Ich mache nichts wie Skat spielen. Manche Abende bring ich zwei, drei Mark nach Hause. Ich kann Skat. Keine halbe Sache. Kein Pfusch.«
»Ja, wer das Genie dafür hat«, bestätigt der Blasse.
»Und wenn Wettskaten ist um Karpfen oder Wurst oder Gänse, dann geh ich rum, dann bin ich jeden Tag woanders. Vorigen Winter habe ich sechs Gänse gewonnen! Wenn die Wirte mich nur sehen, wird ihnen das Bier schon sauer. ›Hau du ab‹, sagen sie, ›du nimmst ja unseren Stammgästen nur die Groschen ab.‹ – ›Wie ist das hier?‹ frage ich. ›Ist das hier ein öffentliches Lokal? Kriegt hier ein Polizeisekretär sein Helles ausgeschenkt? Ist das hier ein offenes Wettskaten oder nur für den Stamm?‹ – Dann sind sie ja stille, aber Blicke, sage ich Ihnen … Was wollen Sie denn?« schnauzt er entrüstet Beerboom an, der sich durch Husten dringlich bemerkbar macht.
»Erlauben Sie bloß, Herr Oberwachtmeister«, sagt Beerboom, »wir wollen uns ein bisschen anmelden.«
»Sehen Sie da das Plakat nicht? Können Sie nicht lesen, dass Sie erst die Formulare ausfüllen müssen?«
»Das geht bei uns nicht so«, sagt Beerboom und grient zu Kufalt, denn auf seine Zuchthausart, mit Subalternbeamten umzugehen, ist er sehr stolz. »Bei uns gilt das Plakat nicht, Herr Leutnant. Wir sind anders wie die anderen.«
»Das sind …«, vermittelt der Blasse, »sicher wieder zwei aus dem …«, er macht eine Kopfbewegung um die Ecke, »Sie wissen schon …«
»Na, dann gebt mal eure Zettel her, wir werden ja sehen, werden ja sehen …«
»Ach, Herr Sekretär, ist denn das Vorschrift? Ist das Bestimmung hier in Hamburg? Das hab ich ja noch gar nicht gewusst!«
»Was haben Sie nicht gewusst? Was ist hier Vorschrift? Was ist hier Bestimmung?« Der Vogel wird immer wilder, gleich fängt er an zu kreischen.
»Dass solche wie wir, aus dem …«, Beerboom wiederholt die Kopfbewegung des Blassen, »dass solche mit ›ihr‹ angeredet werden müssen. Da werde ich mal den Reviervorstand nachfragen. Da will ich mal in sein Zimmer gehen.«
Einen Augenblick Stille. Dann: »Geben Sie bitte Ihren Entlassungsschein her.«
Beerboom, ganz fröhlich: »Aber gewiss doch, Herr Sekretär. Mir liegt nichts daran, hier lange zu stehen. Ich bin nicht gerne hier. Sie doch auch nicht? Sie spielen doch auch lieber Skat?«
»Ich hab keine Zeit für private Unterhaltungen.«
»Nein, gewiss doch. Es ist nur, was man so hört.«
»Was sind Sie?«
»Raubmörder. Es steht auf dem Schein, Herr Sekretär. Raubmörder.«
»Was Sie vorher waren, will ich wissen.«
»Gar nichts. – Nee, Soldat war ich, richtig, Vaterlandsverteidiger war ich, Herr Sekretär. Meinen Leutnant habe ich umgelegt.«
»Das interessiert hier nicht.«
»Es ist nur, weil Sie fragten, Herr Sekretär. Ich dachte, es interessierte Sie.«
Der andere hat gewühlt in Papier, jetzt bringt er ein Aktenstück. »Ich habe Ihnen zu eröffnen … Vier Jahre Ihrer Strafzeit sind Ihnen mit dreijähriger Bewährungsfrist erlassen … Sie stehen unter Polizeiaufsicht. Sie haben sich jeden Tag in der Zeit zwischen sechs und sieben Uhr abends hier auf der Wache zu melden. Wenn Sie verziehen, haben Sie es vorher anzumelden. Unterlassen Sie die tägliche Meldung, so wird sofort Ihre Inhaftnahme verfügt. – Haben Sie verstanden?«
»Wenn ich nun krank werde, Herr Sekretär?«
»Dann schicken Sie jemanden mit einer ärztlichen Bescheinigung hierher.«
»Von mir lässt sich keiner schicken.«
»Nun, wir kümmern uns schon um Sie, wir sehen schon nach.«
Beerboom scheint schwer zu grübeln. »Und es stimmt doch nicht, Herr Sekretär!«
Der Sekretär, sehr gereizt: »Was stimmt nicht?«
»Was Sie mir da vorgelesen haben.«
»Das stimmt, Sie werden sofort verhaftet, wenn Sie sich nicht melden.«
»Nee, werde ich nicht. Ich werde mich überhaupt nicht melden.«
Der Beamte ist direkt vor einem Ausbruch.
»Ich hab nämlich ’ne Erlaubnis vom Polizeipräsidium, dass ich mich nicht zu melden brauche, weil die nämlich im Heim die Schutzaufsicht über mich haben.« Er kramt in den Taschen, gibt dem Sekretär einen Schein.
»Warum geben Sie mir den nicht gleich? Warum lassen Sie mich hier reden und reden? Sie haben mir Ihre sämtlichen Papiere gefälligst sofort zu geben.«
»Alle habe ich nicht hier. Welche habe ich noch zu Haus.«
»Was für welche?«
»Impfschein und ein Schulzeugnis.«
Nun kreischt der Vogel doch: »Sie sind …« Beerboom grinst erwartungsvoll. »Ach was!« Zum Blassen gewendet: »Sind Sie mit Ihrem fertig? Ja? Schön, Sie können gehen.«
»Ich auch?«
»Ja! Sie auch! Sie auch!«
Sie stehen beide wieder auf der Straße, Beerboom und Kufalt.
»Warum machen Sie so was? Was hat denn das für einen Zweck?« schimpft Kufalt los. »Ich habe mich richtig geschämt für Sie.«
»Solche muss man durch den Kakao ziehen. Die sind ja so doof. Das ist meine Hauptfreude. Mein Stationswachtmeister im Zet, sage ich Ihnen …«
»Ich sage ja nichts, wenn einer ein Aas ist. Aber bloß so … Nee, ich geh mit Ihnen nicht wieder auf ein Revier.«
»Ich will’s nicht wieder tun, wenn Sie dabei sind und es stört Sie. Was soll man denn tun im Bunker, all die Jahre, und nie ist was los …? Da muss man doch stänkern.«
»Na ja, ich hab auch gestänkert. Aber jetzt sind wir doch draußen.«
»Ich kapier es noch immer nicht. Wissen Sie, innen kapier ich es nicht, dass ich draußen bin. Und es wird auch schon nicht stimmen. Ich bin bald wieder drin.«
»Keine Ahnung.«
»Sehen Sie das Mädchen auf der Bank da mit dem Kinderwagen? Nett, wie? Soll ich mal hingehen und die fragen: ›Fräulein, wollen Sie nicht auch ein Kind von mir?‹«
»Warum? Was hat Ihnen die getan? Die ist doch selbst noch ein halbes Kind.«
»Ich weiß nicht. Ich habe solche Wut. Auf alles. Die hat es gut, die weiß noch von nichts. Warum soll sie nichts wissen? Alle sind doch gemein. Warum die denn nicht? Ach, Kufalt, ich hab ’nen schrecklichen Kater, ich wollte, ich läge auf meinem Bett und könnte heulen.«
6
Es ist der schönste Nachmittag von der Welt, das Mittagessen war gut gewesen, für jeden Mann hatte es zwei Rouladen gegeben.
Kufalt sitzt vor seiner Emailleschüssel, die Typenhebel sind sauber, nun trocknet er sie und reibt die Gelenkstellen mit dem Ölläppchen ab. Er arbeitet ruhig und schläfrig, eigentlich fühlt er sich sehr wohl.
Beerboom hatte sich gleich nach dem Mittagessen verdrückt, war ins Bett gegangen, wohl um zu heulen. Aber diese Flucht wurde rasch entdeckt. Die Schreibstube hörte oben Seidenzopfs Bass rollen, Beerboom protestierte gellend, dann aber erschien er, gejagt von Seidenzopf.
»Bürozeit ist Bürozeit. Sie haben das unterschrieben.«
»Ich hab ja gar nicht gelesen, was ich unterschrieben habe.«
»Hepphepphepp, nun setzen Sie sich fein an die Arbeit …«
»Meine Nerven halten das nicht aus, hier neun Stunden stillesitzen.«
»Sie wollen doch Geld verdienen. Schreiben Sie! Schreiben Sie! Sehen Sie, wie viel der Maack schon fertig hat – und Sie …«
Ja, es sieht nicht so aus, als wenn Beerboom heute seine fünfzehnhundert Adressen schaffte. Kufalt kalkuliert den Stoß, der vor Beerboom liegt. Das sind vielleicht dreihundert Adressen. Fünfundvierzig Pfennig das Hundert. Nein, Beerboom wird heute nicht mal sein Kostgeld verdienen …
Der Maack dagegen, der Große, Lange, Blasse, schreibt wie eine Maschine. Das ist nur ein flüchtiger Blick in die Adressenliste vor ihm, dabei schreibt die Hand schon – und die Adresse ist fertig. Hundert auf Hundert türmt sich dort, Stöße über Stöße. Aber er sieht auch nie hoch, er ist eine Maschine, Adresse um Adresse, ein unbewegtes Gesicht, er schreibt.
Nur von Zeit zu Zeit, wie alle anderen übrigens auch, steht er auf, geht in den Vorraum, an dem eiköpfigen Wachhund Mergenthal vorbei, taucht in den Keller. Mergenthal murrt dann immer etwas wie: »Schon wieder!« – »Macht es nicht zu schlimm!« – »Sie können auch noch warten!«
Als Maack das nächste Mal verschwindet, folgt ihm in kurzem Abstand Kufalt. Mergenthal murmelt: »Jetzt ist einer unten«, aber wie alle anderen beachtet Kufalt dieses Murmeln nicht und steigt in den Keller.
Wie nicht anders zu erwarten, ist dort unten ein Klo. Und wie nicht anders zu erwarten, ist es besetzt. Und wie wieder nicht anders zu erwarten, riecht es stark nach Zigaretten.
Wartend dreht sich Kufalt auch eine und brennt sie an.
Die Spülung rauscht, und Maack tritt heraus. Erst will er wortlos an Kufalt vorbei, dann aber, als der ein bisschen lächelt, sagt er leise: »Nur drinnen im Klo rauchen. Wenn Seidenzopf Sie klappt, kostet es Strafe. Mergenthal brummt nur, für einen Antreiber ist der ganz anständig.«
»Danke«, sagt Kufalt und lächelt wieder. »Danke sehr.«
Maack geht schon. Plötzlich dreht er sich um. »Wenn ich Sie wäre, würde ich Seidenzopf das nächste Mal, wenn er durch die Schreibstube geht, fragen, was er für das Reinigen von der Maschine bezahlt. Sonst sehen Sie in den Mond.«
»Ja«, sagt Kufalt. »Gut, das werde ich tun.«
»Die Stunde dreißig Pfennig, das ist hier Tarif.«
»Danke schön. Dreißig Pfennig. – Sie wohnen nicht hier im Heim?«
»Ich muss jetzt wieder rauf«, sagt Maack und verschwindet.
Kufalts Rückkunft beachtet niemand. Es ist ein Aufstand, eine Art Tumult da oben. Beerboom hat den Federhalter hingeworfen und geschrien, er könne nicht mehr weiter, er würde irrsinnig, das sei schlimmer als Rohrstöcke spalten. Das sei schlimmer als Zet. Wozu ihn die freigelassen hätten, wenn er hier doch wieder eingespunnt sei?
Mergenthal sucht ihn zu beruhigen: »Das ist nur die ersten Tage so. Sie werden das gewöhnt, schließlich denken Sie sich gar nichts mehr dabei.«
»Ich kann das nicht, ich halte das nicht aus! Lassen Sie mich eine halbe Stunde auf die Straße. Ich schwöre, ich komme wieder. Aber ich muss raus … Da ist die Stadt, ich kann doch hier nicht sitzen, ich habe elf Jahre gesessen …«
Er fließt über, es geht immer weiter.
Angelockt von dem Lärm naht Seidenzopf. »Was ist denn nun schon wieder? Aber, mein lieber Sohn, mein guter Sohn, das geht nicht. Die anderen Herren wollen arbeiten.«
»Lassen Sie mich raus. Ins Freie. Warum haben Sie mich nicht auf meinem Bett gelassen, ich hätte mich so schön in Schlaf geheult … Lassen Sie mich raus!«
»Aber, Herr Beerboom, Sie sind doch ein großer Mensch, Sie wissen doch, was eine Bestimmung ist. Es ist hier Bestimmung, dass jeder neun Stunden abarbeitet.«
»Und ich will raus! Ich schlage alles …«
»Beerboom, soll ich die Polizei rufen, Sie wissen doch …«
Mergenthal hat etwas in Seidenzopfs Ohr geflüstert, der denkt nach. »Nun gut. Ich will es verantworten. Beerboom, jetzt schreiben Sie noch drei Stunden Adressen, und dann fahren Sie die fertigen Umschläge mit dem Handwagen zur Post. Herr Mergenthal begleitet Sie. Da kommen Sie raus. Nein, jetzt keine Widerreden mehr. Erst fleißig schreiben, sonst erlaube ich es nicht. Sie haben ja noch nichts fertig. Die Schrift muss auch viel besser sein. Wer soll denn das lesen? Einen gefälligen Eindruck müssen unsere Adressen machen, den Empfänger muss es richtig freuen, wenn er so eine Drucksache bekommt. Sehen Sie, Beerboom, wenn Sie jetzt schreiben: ›Herrn Obersekretär‹, da legen Sie ein bisschen Schwung in das ›Ober‹, da freut sich der Mann, dass er es so weit gebracht hat. Adressenschreiben ist eine Kunst, das ist nichts Langweiliges. – So ist es recht, lieber Maack, so einen Tisch sehe ich gerne. Nun vermittle ich Ihnen auch bald eine schöne Stellung.«
»Die haben Sie mir schon vor anderthalb Jahren versprochen, Herr Seidenzopf.«
»Und Sie, mein lieber Kufalt, ja, das ist recht, das ist hübsch, wie das wieder glänzt und gleißt. Das freut Sie, nicht wahr, wenn Unordnung und Unsauberkeit vertilgt werden? Das muss einen rechten Mann freuen.«
»Mach ich das eigentlich im Akkord oder Tagelohn, Herr Seidenzopf?«
»Das ist eine Vorbereitung für Ihre morgige Arbeit, mein lieber Kufalt. Davon haben Sie den Nutzen, da geht es morgen wie geschmiert. – Hähä, es ist ja auch frisch geschmiert.«
»Und wie viel verdiene ich? Meine Hände habe ich mir auch ganz versaut.«
»Wir sind eine Schreibstube, Herr Kufalt. Wir machen Schreibarbeiten für Firmen in Lohn. Adressen bezahlen die uns, aber nicht, wenn Sie eine Maschine reinigen.«
»Ich kann doch nicht einen Tag umsonst arbeiten! Bekomme ich denn heute auch Essen und Schlafen umsonst?«
»Ich hoffe, mein lieber Freund, Sie sind nicht gierig, nicht geldgierig, meine ich.«
»Es hat doch geheißen, hier wird gutbezahlte Arbeit gegeben?«
Aber Seidenzopf ist schon weiter. »Und Sie, lieber Leuben, langsam geht es. Langsam, was?«
Der Lange, Blasse sieht zu Kufalt hinüber, er bewegt den Kopf aufmunternd.
Kufalt springt auf, er steht neben Seidenzopf. »Ich will wissen, was ich für die Dreckarbeit kriege! Fünf Stunden sitze ich jetzt dran. Dreißig Pfennig ist Ihr Stundenlohn.«
Seidenzopf sieht ihn kalt und böse an. »Wir geben Ihnen eine Mark. Kein Wort mehr. Es ist vollkommen unzulässig, dass Sie hier aufspringen und mich bedrängen. Setzen Sie sich auf Ihren Platz. Sie haben mich schwer enttäuscht.« Und mit einem Seufzer, weitergehend, fortgehend: »Es gibt so viele Arbeitslose, nicht wahr?«
Drüben, an seinem Tisch, der blasse Maack nickt unmerklich.
Kufalt ist mit sich zufrieden.
7
Das Abendessen ist erledigt. Es ist Feierabend für Willi Kufalt, der zweite Abend seiner Freiheit, nach rund eintausendachthundert Abenden in der Gefangenschaft.
Er sitzt im Gemeinschaftszimmer des Heims und sieht durch die Scheiben auf die dämmerige Straße. Das Fenster ist groß, hat schöne, klare Scheiben, auf der Außenseite ist ein hübsches Gitterwerk, Kunstschmiedearbeit, na ja.
Leute gehen vorüber, der Abend ist lau, manche gehen nach Haus, und manche gehen von Haus fort. Auch Mädchen sind darunter. Es ist kein solcher Gewinn, wie man es sich im Kittchen geträumt, die Beine dieser Mädchen in den kurzen Röcken zu sehen.
Aber immerhin. Hier in der Nähe soll ein großer Park sein, es wäre ganz hübsch, da umherzugehen. Aber man müsste von Seidenzopf eine feierliche Erlaubnis zu diesem Ausgang erbitten, und Kufalt hat das Gefühl, als hinge ihm dieser Seidenzopf allgemach zum Halse heraus.
Beerboom streicht wie ein ruheloser Geist durch das Haus, oben, unten, an den Fenstern, an den Türen, aber alles ist gut gesichert. Armer Beerboom, er wartet auf die erste Gewinnbeteiligung aus seinen drei Mark. Wenig Wahrscheinlichkeit, dass Berthold damit überkommt. Nun, wenn es ganz dunkel geworden und die Hoffnung zergangen ist, wird er sich auf sein Bett legen und heulen. Das erleichtert, das tränkt das Gehirn mit Müdigkeit und macht es doof und schläfrig.
Kufalt schaltet das Licht ein und geht an den Bücherschrank. Es sieht unerfreulich in den Fächern aus, die Bücher liegen halb schräg, manche stecken mit dem Schnitt nach vorn. Kufalt zieht ein Buch heraus. »Unsere U-Boot-Helden.« Er zieht den dunklen Nachbarn des Heldenbuchs heraus: »Hamburgisches Gesangbuch.«
Nun will ich noch ein drittes Mal …
In der Tür erscheint Minna. »Für einen Herrn brennen wir hier aber kein Licht«, sagt sie spitz, schaltet das Licht aus und verschwindet.
»Gottverdammich!« brüllt Kufalt und schaltet das Licht wieder ein.
Er zieht ein neues Buch aus dem Schrank. »Die Sünde wider den Geist« von Artur Dinter. Er schlägt das Buch wahllos auf und beginnt zu lesen.
Von der Tür erklingt die weinerliche Stimme Frau Seidenzopfs. »Hier darf aber nicht Licht gebrannt werden am frühen Abend. Es ist ja noch ganz hell draußen. Einer brennt oben Licht, einer brennt unten Licht. Was soll denn das für eine Lichtrechnung werden?«
Frau Seidenzopf schaltet das Licht aus und geht fort. Die Tür lässt sie offen. Kufalt legt das Buch fein sachte in den Schrank zurück, schließt die Tür und setzt sich auf einen Stuhl am Fenster.
Es ist fast ganz dunkel draußen.
Plötzlich wird es hell im Zimmer. Der sittlich hochstehende und innerlich gefestigte junge Mann ist eingetreten, der Student Petersen, vielleicht sechsundzwanzig Jahre alt, der Berater der Strafentlassenen.
»Sitzen Sie hier im Dunkeln? Mögen Sie das?« fragt er.
»Das mag ich«, sagt Kufalt und sieht blinzelnd zu dem langen blonden jungen Menschen hinüber.
Petersen zieht die Gardinen zu. Er setzt sich behaglich stöhnend in einen Sessel und streckt die Beine von sich. »Gott, was bin ich müde! Was bin ich herumgelaufen!«
»Ist die Universität weitab?«
»Ja, auch. Aber ich war nicht auf der Uni. Ich bin bei einem Herrn gewesen, der früher auf die Schreibstube kam.«
Kufalt sieht fragend.
Petersen erzählt bereitwillig: »Er wohnt mit einem Mädchen zusammen. Und nun will sie weg von ihm.«
»Nicht halten, was laufen will«, sagt Kufalt.
»Sie erwartet aber …«
»Und was haben Sie gemacht? Was haben Sie gesagt?«
»Was soll man sagen? Ich habe mich hingesetzt. Erst haben sie sich gefreut, dass ich kam. Ich hab ihnen auch ’ne Unterstützung gebracht von uns hier. Dann sind sie ins Streiten gekommen.«
»Worüber haben sie denn gestritten?«
»Über eine Eau-de-Cologne-Flasche, fast leer. Wissen Sie, er ist so ein ordentlicher Mensch, es muss alles an seinem Platz liegen. Und nun hat er die Eau-de-Cologne-Flasche im Küchenschrank gefunden. Und sie gehört doch auf den Waschtisch. Darüber haben sie gestritten.«
»Blech.«
»Ziemlich heftig haben sie gestritten. Schließlich schrien sie. Als sie fertig waren, waren sie auch fertig. Dann haben sie geweint.«
»Es ist«, sagt Kufalt, »ja nicht die Eau-de-Cologne-Flasche, es ist, weil es ihnen dreckig geht. Wenn es einem dreckig geht, wird alles schwer. Ich hab mich im Kittchen auch über jeden Dreck aufgeregt.«
»Ja«, sagt der Student. »Ja, das ist wohl so. Aber was soll man machen?«
»Wovon leben sie denn?«
»Er war früher auf der Schreibstube. Er hat gut geschrieben. Aber dann plötzlich hat er gesagt, er kann nicht mehr über die Straße gehen. Das ist bei manchen so. Wenn sie rauskommen, merkt man ihnen nichts an. Dann ist alles neu. Aber dann kriegen sie es plötzlich …«
»Dann fangen sie an zu spinnen, ja. Der Beerboom spinnt auch schon. Bei dem passen Sie bloß auf.«
»Ja, man muss mal sehen«, sagt Petersen unsicher, »man kann so wenig machen.«
»Sie sollten mit Herrn Seidenzopf reden. Das ist ein Unsinn, solchen Spinner neun Stunden aufs Büro zu setzen, da dreht er noch ganz durch.«
»Es ist Vorschrift, wissen Sie, Hausordnung, dass jeder neun Stunden absitzen muss.«
»Absitzen, ja.«
Die Tür geht auf. Minna ruft giftig, die Hand am Schalter: »Frau Seidenzopf lässt Ihnen sagen, Herr Kufalt, das Licht …«
»Was ist denn los, Minna?« fragt Petersen.
»Ach, Sie sind auch hier«, sagt Minna. »Eine Stunde Licht wird Ihnen von Ihrem Lohn abgezogen, Herr Kufalt«, verkündet Minna und zieht sich zurück.
Petersen und Kufalt sehen einander an.
»Ich werde mit Herrn Seidenzopf sprechen«, sagt Petersen. »Das Licht wird Ihnen nicht abgesetzt.«










