Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Kufalt macht eine Bewegung. »Es spielt keine Rolle. Jedenfalls danke.« Dann: »Wie ist das hier eigentlich? Dürfen wir nur mit Ihnen aus dem Haus?«
»Nein, natürlich auch allein. Immerhin empfiehlt es sich, namentlich abends … wissen Sie, ich gehe überall mit Ihnen hin.«
Leise, mit Fältchen um den Augen: »Ich tanze auch gerne.«
»Was machen wir am Sonntag?«
»Wir können ja mal zum Hafen gehen. Und nachher in ein nettes Lokal, wo es nicht so teuer ist. Zum Abendessen lassen wir uns Brote mitgeben.«
»Ich habe eine Verabredung am Sonntagabend. Sie müssen mich eine Stunde weglassen. Ich verspreche Ihnen, ich bin pünktlich wieder da.«
Der Student sagt: »Sie können allein gehen. Es kann Ihnen keiner verbieten.«
»Nein«, sagt Kufalt. »Nicht allein. Ich will offiziell, für die hier, bei Ihnen gewesen sein …«
Petersen steht auf und geht hin und her. Verlegen sagt er: »Lieber Herr Kufalt, nein, das möchte ich lieber nicht. Ich könnte Unannehmlichkeiten haben.«
»Schön«, sagt Kufalt. »Es war keine wichtige Verabredung. Im Grunde war es gar keine Verabredung. Ich wollte nur Bescheid wissen über Sie. Gute Nacht, Herr Petersen.«
8
Kufalt sitzt an seiner Schreibmaschine und schreibt Adressen. Es ist nun der zweite Tag, dass er das tut. Gestern hat er siebenhundert geschafft, heute muss es besser werden. Es geht schon einigermaßen, er vertippt sich noch ein bisschen viel, aber das rutscht so durch unter den vielen hundert Adressen. Alle paar Stunden kommt Herr Mergenthal, notiert, was fertig ist, bündelt es und trägt es hinaus.
Kufalt kann von seinem Platz aus Beerboom nicht sehen, aber in den Pausen, in denen er die neue Adresse in der Liste sucht, hört er ihn rascheln. Beerboom hat heute wieder einen schlimmen Tag, dreimal schon ist er aufgesprungen und wollte aus der Schreibstube fortlaufen. Er hört ständig Bertholds Stimme. Mergenthal hat ihn dann abgefangen und ihn mit Zureden und Schieben auf seinen Platz zurückgeführt. Aber auch heute wird Beerboom keine tausend Adressen schreiben, seine Leistung wird von Tag zu Tag niedriger.
Nun kommt Seidenzopf ins Büro und ruft Kufalt. Der erhebt sich mit Wut. Sicher hat er nicht schön genug gebohnert, er hat es eilig gehabt, wieder an die Arbeit zu kommen.
Aber diesmal ist es nicht das Bohnern. »Herr Pastor Marcetus möchte Sie sprechen. Gehen Sie dort hinein.«
Kufalt klopft, eine Stimme ruft: »Herein«, und er tritt ein.
Hinter dem Schreibtisch sitzt im vollen Licht ein großer schwerer Mann mit schönem, weißem Haar, einem blühenden Gesicht, die Nase ist fleischig, die Mundpartie sehr ausgebildet, kein Bart. Weiße große Hände.
An der Schmalseite des Schreibtisches sitzt eine Dame mit Stenogrammblock, neben ihr die Schreibmaschine. Vor dem Tisch steht einladend für die Besucher ein großer Stuhl, aber Kufalt wird nicht aufgefordert, sich zu setzen.
Der Pastor blättert in Papieren, Kufalt kennt dies Konvolut, er erkennt es wieder, es ist ihm nachgereist, es ist sein Aktenstück aus dem Zentralgefängnis.
Der Pastor lässt sich Zeit. Kufalts »Guten Morgen« hat er mit einem kurzen Brummen erwidert.
Nun schlägt er eine Seite in dem Aktenstück auf und sagt, ohne hochzusehen: »Sie heißen Willi, das heißt Wilhelm Kufalt, von Beruf Buchhalter, mit fünf Jahren Gefängnis wegen Unterschlagung und schwerer Urkundenfälschung bestraft …«
»Ja«, sagt Kufalt.
»Sie sind aus guter Familie. Wie kamen Sie dazu? Weiber? Suff? Spiel?«
Es ist ein kalter, geschäftsmäßiger Ton, in dem zu Kufalt geredet wird. Kufalt kennt diesen Ton. Der Mann da am Schreibtisch hat ihn nicht eine Sekunde angesehen, er braucht den Mann Kufalt nicht anzusehen, er hat das Aktenstück Kufalt.
Der kennt den Ton, der kennt das Echo auch, er zittert am ganzen Leibe, es ist die alte Welt, sie sollte versunken sein, es sind die Jahre, es sind fünf Jahre, es geht so weiter. Soll es immer so weitergehen?
Die Seidenzöpfe mögen mit ihm reden, wie sie wollen, die Beerbooms, wie sie wollen – aber der hier, der müsste es besser wissen, der darf nicht. Der darf nicht!
Der Mann Kufalt zittert am ganzen Leibe, er fühlt, wie sein Gesicht weiß und kalt geworden ist, aber er fragt im gleichen Ton wie der Pastor: »Muss in Gegenwart der Dame verhandelt werden?«
Pastor Marcetus sieht zum ersten Male hoch. Er hat einen langsamen, gleichgültigen Blick, der sich festsetzt auf Kufalts Gesicht. »Fräulein Matzke ist meine Sekretärin. Durch ihre Hände geht alles. Sie weiß alles.«
»Ist die Dame vereidigt?«
»Was heißt das? Sind Sie hier, um zu fragen? Die Dame ist meine Angestellte.«
»Ich frage darum, weil ich nicht weiß, ob Privatpersonen meine Strafakten lesen dürfen.«
»Fräulein Matzke ist vollständig zuverlässig.«
»Trotzdem. Ich weiß nicht, ob es gesetzlich zulässig ist.«
»Sie sehen, Ihre Gefängnisverwaltung hat mir Ihre Akten zugeschickt.«
»Ja, Ihnen. – Die Dame ist vorbestraft?«
Der Mann hinter dem Schreibtisch macht einen Ruck. »Bürschchen …«, sagt er.
»Ich frage darum: Wenn es eine Kollegin wäre, wäre es nicht so schlimm.«
Einen Augenblick ist Stille. Dann sagt der Pastor: »Also bitte, Fräulein Matzke, warten Sie draußen.«
Die Dame entschwindet, Kufalt steht mit gesenktem Kopf vor dem Schreibtisch.
»Der Bericht Ihres Anstaltsgeistlichen lautet nicht günstig über Sie.«
»Nein«, antwortet Kufalt. »Ich will nämlich aus der Kirche austreten.«
»Das hat damit gar nichts zu tun.«
»Vielleicht doch.«
Pastor Marcetus setzt von neuem an: »Auch was Herr Seidenzopf mir über Ihre Führung und Leistung sagt, klingt nicht sehr ermutigend.«
»Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.«
»Sie brauchen ständig Widerworte.«
»Ständig? Ich habe einmal dagegen protestiert, einen ganzen Tag ohne Lohn zu arbeiten.«
»In Ihrer Lage ist man demütig.«
»Bei Demütigen ist es nicht schwer, demütig zu sein.«
»Sie können nichts. Ihre Handschrift ist miserabel …«
»Ich war kein Schreiber.«
»Auch auf der Schreibmaschine fehlt viel. Sie vertippen sich ständig und schaffen nichts.«
»Man muss sich nach der langen Haft auch wieder einarbeiten.«
»Das sind Ausreden. Maschineschreiben verlernt man nicht, man ist in zwei Stunden wieder in Gang.«
»Nicht, wenn man die Nachwirkungen von fünf Jahren Haft verspürt.«
»Die meisten Gefangenen sind Stümper in ihrem Beruf. Deswegen sind sie in der Welt nicht vorwärtsgekommen und auf den falschen Weg geraten.«
»Vielleicht sehen sich der Herr Pastor einmal meine Zeugnisse an.«
»Wozu? Ich sehe Ihre Leistungen. Wirkliche Qualitätsarbeit findet man nur unter den Affektverbrechern. Wer wegen Eigentumsvergehen bestraft ist, konnte nichts. Tüchtige Arbeit findet in der Freiheit immer ihren Lohn.«
»Fünf Millionen Arbeitslose beweisen das.«
Rede und Gegenrede sind sich immer schneller gefolgt. Der fleischige Pastor hat nicht mehr seine milden, fröhlichen Farben, er ist dunkelrot angelaufen. Kufalts Gesicht ist fahl, es zuckt und zerrt.
Nach einer Pause des Atemholens sagt der Pastor böse: »Ich überlegte eben, ob ich Sie nicht am besten sofort der Polizei übergebe …«
Kufalt sagt wütend: »Bitte! Tun Sie es doch! Das Ganze nennt man Entlassenenfürsorge.«
Aber in ihm warnt etwas: Das sagt der nicht nur so, der hat was auf dem Kieker. Was hab ich denn ausgefressen? Nichts. Aber – dumm ist der nicht.
Der Pastor sagt: »In den sechs Stunden von Ihrer Entlassung bis zu Ihrem Eintreffen hier haben Sie sich bereits eines Eigentumsvergehens schuldig gemacht.«
»Ich hab geklaut …? Nun, Herr Pastor werden ja nicht lügen. Geistliche lügen nicht. Aber jedenfalls muss ich da geschlafen haben, wie ich geklaut habe.«
»Sie sind«, sagt der Pastor und hängt seine Augen ganz fest in Kufalts Gesicht, »mit hundert Mark mehr hier eingetroffen, als Ihnen im Zentralgefängnis ausgehändigt worden sind.«
In Kufalt jagt es, dreizehn Möglichkeiten und zwölf schon ausgeschieden, aber er hat längst gesagt: »Das stimmt. Und die hab ich natürlich geklaut. Fragt sich nur, wem?«
»Sie wollen mir keine Angaben über die Herkunft des Geldes machen?«
»Warum? Wo Herr Pastor doch schon wissen, dass ich es geklaut habe.«
»Also rufe ich die Polizei.« Und der Geistliche fasst gegen das Telefon, hebt aber den Hörer nicht, wie Kufalt befriedigt feststellt.
»Telefonieren Sie ruhig, Herr Pastor«, sagt Kufalt. »Mir macht es nichts. Ihr Amtsbruder im Zentralgefängnis wird Ihnen gerne von dem verlorenen Einschreibebrief meines Schwagers erzählen. Er oder der Hauptwachtmeister haben ihn verschusselt. Das wird er vor Gericht zugeben müssen.«
»Was ist das?«
»Das sind so Geschichten, Herr Pastor. Es ist nicht alles klar, was in den Akten ist. Na, jedenfalls bestellen Sie, die sollen in meiner Zelle sich mal das Gitter anschauen, da ist der Brief angebunden.«
»Ich denke, der Brief ist verschusselt?«
»Und Ihr Herr Amtsbruder soll von jetzt an bei der Briefkontrolle auch das Futter im Briefumschlag ansehen, darin steckte das Geld. Meine Schwester hatte es reingesteckt. Heimlich.«
»Was ist das alles!« sagt der Pastor unwillig. »Märchen sind das.«
»Alles findet sich wieder an«, sagt Kufalt ungerührt. »Wenn manche auch das Geld gerne beiseite brächten.«
»Ich versteh kein Wort. Ich denke, Herr Pastor Zumpe hat es gerade nicht im Briefumschlag gefunden? Die Sache scheint mir völlig dunkel.«
»Rufen Sie die Polizei, dann wird sie schon hell werden. Oder, noch ein Vorschlag, schreiben Sie Herrn Zumpe. Der wird Ihnen antworten: Der Kufalt ist ein ekelhafter Kerl, aber diesmal funkt der Laden.«
»Funkt der Laden …?«
»Hat er die Wahrheit gesagt, heißt das.«
»Also gut, ich werde schreiben, und wehe Ihnen, wenn nicht jedes Wort wahr ist! Ich rufe unnachsichtlich die Polizei.«
»Und ich schiebe wieder Knast, gewiss doch, Herr Pastor.«
Der Pastor macht eine mutlose Bewegung. »Also führen Sie sich wenigstens solange gut.«
Kufalt beugt sich über den Schreibtisch. Jetzt ist er wirklich böse. Und hat keine Angst mehr.
Er flüstert dem erstaunten Geistlichen ins Gesicht: »Wenn Sie das nächste Mal mit einem alten Knastschieber reden, dann sagen Sie ihm guten Morgen. Dann fragen Sie ihn nicht in Gegenwart von hübschen jungen Mädchen, ob er wegen Weibergeschichten ins Kittchen kam. Dann bieten Sie ihm lieber noch einen Stuhl an. Dann kotzen Sie ihn nicht an. Das Angekotztwerden, das sind wir gewöhnt, Herr Pastor, das macht uns munter und scharf, das ist das Salz in unserer Suppe, Herr Pastor. Das nächste Mal versuchen Sie es vielleicht mal mit der anderen Tonart, Moll statt Dur, Freundschaft statt Feindschaft. Guten Morgen, Herr Pastor …«
»Halt!« brüllt der Pastor. »Sie können auf der Stelle …«
»Das Friedensheim verlassen …?« fragt Kufalt.
»Ach was! Gehen Sie an Ihre Arbeit. Sie sind es alle nicht wert …«
»Natürlich sind wir alle die Arbeit von Herrn Pastor nicht wert. Guten Morgen, Herr Pastor.«
»Machen Sie, dass Sie wegkommen. Fräulein Matzke soll wieder reinkommen.«
»Guten Morgen, Herr Pastor!«
»Na, meinethalben guten Morgen.«
9
An diesem Abend, es ist Sonnabend, sagt beim Essen der Student plötzlich: »Ich geh noch ein bisschen spazieren. Wenn einer von den Herren Lust hat …?«
So weit sind sie doch schon, dass sie erst einmal unschlüssig zu Seidenzopf hinsehen, der aber sehr friedlich sagt: »Aber gewiss doch. So ein schöner, lieblicher Abend …«
Und Frau Seidenzopf: »Aber Punkt zehn wird das Haus geschlossen und nicht wieder aufgemacht.«
»Dann wollen wir also die Uhren vergleichen«, sagt Petersen.
»Es ist sieben Uhr zwanzig …«
Und Beerboom: »Ich gehe nur mit, wenn Herr Seidenzopf mir Geld gibt. Ohne Geld gehe ich nicht auf die Straße, da kommt man ja an keinem Hund vorbei.«
»Ich rechne also mit den Herren noch rasch ab, Herr Petersen.«
Aber es geht dann nicht so rasch. Kufalt steht am Gangfenster und sieht in den langsam dämmerig werdenden Garten, während drüben im Büro die Stimmen gegeneinander anschwellen und wieder leise werden. Die Büsche verschwimmen sachte gegen die dunklen Gartenmauern, die äußersten Spitzen der Baumkronen reichen noch in die Sonne, Beerboom drinnen jammert flehend, Seidenzopfs Bass grollt – und schließlich geht die Tür auf, und Seidenzopf schreit: »Gehen Sie raus, Sie Mensch, Sie! Ein Ärgernis sind Sie! Keinen Pfennig mehr gebe ich. – Kommen Sie rein, mein lieber Kufalt.«
Kufalt kommt rein.
»Na, Sie haben ja erst drei Arbeitstage. Für den Donnerstag Maschinereinigen – na, sagen wir, fünfzig Pfennig …«
»Eine Mark ist ausgemacht.«
Langer Blick. »Meinethalben eine Mark. Freitag und Sonnabend je siebenhundert Adressen – sehr wenig, Herr Kufalt, und recht liederlich geschrieben –, fürs Tausend sechs Mark, macht acht vierzig, alles in allem Arbeitsverdienst neun Mark vierzig. Sie haben zu zahlen fünf Tage Kost und Logis je zwei Mark fünfzig, macht zwölf Mark fünfzig, bleiben Sie uns schuldig drei Mark zehn, die von Ihrem Depot gekürzt werden. Alles klar?«
»Ach nee«, sagt Kufalt und holt tief Atem, »das ging ja furchtbar einfach. Wieso erst mal fünf Tage Kost?«
»Der Ankunftstag rechnet voll.«
»Ich habe nur das Abendessen gehabt.«
»Das macht nichts, das sind unsere Bestimmungen so, die haben Sie unterschrieben.«
»Und der fünfte Tag?«
»Ist morgen der Sonntag.«
»Den bezahle ich im Voraus? Auch nach Ihren Bestimmungen?«
»Dann geht er bei der nächsten Abrechnung nicht ab. Das ist doch nur Ihr Vorteil.«
»Ich verdiene hier also nicht so viel, wie ich ausgebe?«
»Das kommt noch, mein junger Freund, das kommt alles noch.«
»Viel mehr kann ich nicht schaffen auf der Maschine.«
»O doch, das kann man schon. Machen Sie das nur erst ein halbes Jahr.«
»Ich brauche auch noch Geld für die nächste Woche.«
Seidenzopfs Stirn verdunkelt sich. »Ich habe Ihnen am Mittwoch erst drei Mark gegeben. Wie viel wollen Sie schon wieder?«
»Zehn Mark.«
»Das ist ganz ausgeschlossen. Das gestattet Pastor Marcetus nie. Zehn Mark Taschengeld in der Woche! Da erzögen wir Sie ja zum Verschwender!«
Kufalt sagt finster: »Ich will Ihnen mal was sagen, Herr Seidenzopf. Das ist mein Geld, um das ich Sie bitte. Das ekelt mich hier. Sie haben mir gesagt, am Mittwoch, ich kann jederzeit Geld haben. Sie lügen doch nicht, Herr Seidenzopf?«
»Wozu brauchen Sie denn das Geld? Sagen Sie mir einen vernünftigen Zweck!«
»Erst mal brauche ich Porto.«
»Porto? Wozu denn Porto? Ihre Verwandten wollen doch nichts mehr von Ihnen wissen – wem wollen Sie denn schreiben?«
»Stellenbewerbungen.«
»Das ist nur rausgeworfenes Geld, das lassen Sie lieber. Wer nimmt Sie denn? Da warten Sie, bis wir Sie kennen und empfehlen können. – Wozu brauchen Sie noch Geld?«
»Ich muss meine Wäsche waschen lassen.«
»Für zehn Mark? Was müssen Sie denn waschen lassen? Ein Hemd und einen Kragen! Die Unterwäsche können Sie ruhig vierzehn Tage tragen, ich wechsle meine auch nicht öfter. Macht achtzig Pfennig. Wozu brauchen Sie noch Geld?«
Die Stimmen schwellen an und sinken dann wieder. Nach einer Viertelstunde ist Kufalt besiegt, trotzdem er zweimal gebrüllt und auf den Tisch geschlagen hat. Er verlässt mit fünf Mark Auszahlung das Büro.
»Auf diese Weise werden Sie mit Ihrer Rücklage ja schnell alle werden, mein lieber Kufalt«, schilt Seidenzopf hinter ihm her.
Aber dann hängt in den Straßen eine fast leuchtende Dämmerung.
Am tiefen Nachthimmel glüht die Schnur der Bogenlampen sanft und hell. Viele Menschen sind unterwegs. Sie schlendern. Man hört sie sprechen, leise oder lauter, dann lacht einmal ein Mädchen.
Nebenher die beiden reden eifrig, Petersen und Beerboom. Beerboom ist voll Gift und Galle, neun Mark dreißig hat er draufzahlen müssen. Petersen versucht ihn zu besänftigen.
Kufalt bummelt langsam daneben her. In den Lauben vor den Cafés sitzen die Leute, trinken und essen. Man hört Musik. Löffelchen klappern gegen Teller. Die beiden anderen überlegen, ob man sich in ein Café setzen soll. Aber es wird zu teuer. Besser, man geht in den Hammer Park, wo gratis Musik zu hören ist.
Beerboom beweist jetzt dem Petersen, dass sein Leben völlig verpfuscht ist, dass es ebenso gut wäre, gleich heute Schluss zu machen, Petersen beweist dem Beerboom das Gegenteil.
Nun taucht es dunkel und massig vor ihnen auf, die Luft wird kühler und feuchter, Bäume, viele hohe Bäume, der Hammer Park.
Erst gehen sie einmal rundum durch die schwachbeleuchteten Wege voller Pärchen. Dann landen sie in der Mitte bei einem strahlend beleuchteten Kaffeehaus. Dort musiziert in einem muschelförmigen Pavillon eine Kapelle, Tische sind aufgestellt, und viele Menschen sitzen daran. Die nichts verzehren, sind abgesperrt durch Seile.
Auch die drei bleiben eine Weile unter dem Volk stehen und lauschen. Das Hören hat man nicht absperren können, so gerne man es wohl getan hätte. Es geht fröhlich zu bei den Zaungästen, ganze Büschel junger Mädchen hängen dort herum. Jungens jagen sich mit Mädeln, viele lachen. Kufalt wird von einer Kette junger Leute beinahe umgelaufen. Er drängt in die dunklen Wege zurück, die anderen wollen im Licht bleiben. So zeigt er auf einen Weg. »Da sitze ich irgendwo. Holen Sie mich dann.«
Er findet im Dunkeln eine Bank, auf der nur ein Paar sitzt.
Hockt sich auf eine Ecke, dreht sich eine Zigarette, lehnt sich bequem zurück und sieht vor sich hin.
Manchmal bewegt der Nachtwind ein wenig die Zweige, das rauscht ferne an, kommt näher mit tausend einzelnen Geräuschen und verliert sich wieder fern mit einem allgemeinen Rauschen.
Der Mann und die Frau auf der Bank reden miteinander. Kufalt hört halb hin. Es wird von einem Garten geredet, von einer alten Mutter, die immer schwieriger wird … Verliebte sind es nicht, denkt Kufalt. Er hätte gerne ein Mädchen, mit dem er sitzen und schwatzen könnte. Über was aber könnte er mit ihr schwatzen …?
Es gehen viele Menschen vorüber, manche halten sich an den Händen. Nein, nicht einmal im Gefängnis hat Willi Kufalt das Gefühl gehabt, wie sehr er sich außerhalb von all dem gestellt hat. Er ist draußen aus all diesem Leben – kommt er je wieder hinein? Von all dem, was ihm in den letzten fünf Jahren geschehen ist, wird er nie reden dürfen.
Das Mädchen ist aufgestanden und macht ein paar Schritte auf und ab. »Es ist doch kühl. Mir wird fröstelig«, sagt sie. Der Mann antwortet nicht. Sie spricht das spitze »S« der Hamburger, nun kommt sie in den Lichtschein der Laterne – eine zierliche, rasche Figur, ein Herzgesicht, blondes Haar. Wieder im Schatten.
»Gehen wir«, sagt das Mädchen.
Der Mann steht auf.
Petersen und Beerboom kommen. »Gehen wir dort entlang«, sagt Kufalt und folgt dem Paar. »War die Musik noch nett?«
Die beiden erzählen, Kufalt behält sein Paar im Auge. »Nein, wir wollen hier entlanggehen. Sie haben ja keine Ahnung, was ich für einen Ortssinn habe. Ich führe Sie glatt nach Haus.«
»Aber wir gehen in der falschen Richtung!«
»Gar nicht. Wir gehen nachher rum. Wetten, dass ich Sie richtig führe?«
»Um was?«
»Zehn Zigaretten.«
»Abgemacht. Hauen Sie durch, Beerboom!«
Es ist nicht ganz leicht, ohne Auffallen dem Paar zu folgen. Kufalt hält sich auf der anderen Straßenseite und macht manchmal Bemerkungen, die seinen suchenden Ortssinn beweisen sollen: »Nein, nun gehen wir besser hier um die Ecke. – Jetzt wieder geradeaus – nein, doch besser links.«
»Ihr Ortssinn, Kufalt«, sagt Beerboom.
Hinter einer Bahnunterführung biegt das Paar überraschend nach links ab, und im Augenblick, da Kufalt seine beiden Begleiter mit Mühe und Not in diese unerwartete Kurve gebracht hat, ist es in irgendeinem Hauseingang verschwunden.
Kufalt bleibt aufatmend stehen. »Nun bin ich doch ganz wirr geworden. Wo sind wir eigentlich? Wie heißt denn die Straße?«
»Sie sind gut«, sagt der Student Petersen. »Jetzt, wo Sie endlich die rechte Richtung gefasst haben … Das ist die Marienthaler Straße, in einer Viertelstunde sind wir im Heim.«
Und nach einem Blick auf die Uhr: »O Gott, wir haben nur noch neun Minuten. Nun aber Trab, so schnell es geht!«
»So gefährlich wird es doch nicht sein«, sagt Kufalt im Laufen. »Fünf Minuten werden die schon auf uns warten.«
»Der wirft jeden raus, der nur drei Minuten zu spät kommt. Lässt ihn gar nicht erst ins Haus, die Tür bleibt zu, und am nächsten Morgen Sachen packen, weg!«
»Wir sollen eben durchaus nicht an die Mädchen«, keucht Beerboom. »O Gott, ich kann nicht mehr, lasst uns einen Augenblick Schritt gehen.«
»Öder Quatsch«, schilt Kufalt. »Wenn Sie dabei sind, gilt es doch nicht, Herr Petersen.«
»Ich ändere auch nichts«, keucht Petersen. »Ich bin nach außen gut, als Aushängeschild. Los, Beerboom, wieder traben! Nur noch vier Minuten!«
In der Haustür entspinnt sich eine heftige Debatte mit Minna, ob es eine Minute nach oder Punkt zehn ist. Jedenfalls wird sie es Herrn Seidenzopf melden.
10
Am Vormittag – es ist nun Sonntag geworden – haben sie zur Kirche gemusst, denn nach der Hausordnung hat jeder Heiminsasse den Gottesdienst seiner Konfession zu besuchen. Dann spielten Kufalt und Petersen bis zum Mittagessen Schach, während Beerboom seine Hosen über einer Stuhllehne mit einem flachen Brett »bügelte«. Als sie dann am Nachmittag losgingen, hatte er zwei Bügelfalten nebeneinander und wurde weinerlich. Alles ging ihm quer.
Der Hafen ermunterte sie, und eine Weile stolperten sie an den Bollwerken entlang. Aber dann wurden sie müde. Beerboom klagte über Hunger und Durst. Das Essen hielt rein nichts vor, was das für Portionen seien, im Zet …
Sie gerieten in die Anlagen beim Bismarck und setzten sich dort unter Bäume. Eine Seltersbude war dicht dabei, Beerboom trank Zitronenlimonade, Himbeerlimonade, aß die Stullen, die fürs Abendessen bestimmt waren, klagte eine Weile und schlief ein.
Die beiden anderen, müde und zufrieden, sahen schläfrig auf den Strom der Vorbeiziehenden und flüsterten ab und zu ein paar Bemerkungen über Beerboom, mit dem es nicht gut ablaufen könne. »Aber Seidenzopf hört nicht, und Marcetus weiß alles über Entlassenenfürsorge. Dem kann man nichts erzählen.«
Sie sehen sich weiter die Vorübergehenden an. Von Zeit zu Zeit setzen sie Beerboom zurecht, der von der Bank rutscht.
Als der aufwacht, ist es schon gegen sechs. Er ist wütend, dass sie ihn so lange haben schlafen lassen, um zehn müssen sie schon wieder im Friedensheim sein, da kann er schlafen, aber doch nicht hier!
Dann kauft er sich eine Bockwurst mit Kartoffelsalat und zum Abschluss einen kalten Kuss.[59] Er steht auf und sagt: »Gehen wir.«
Die Reeperbahn, die Kleine und die Große Freiheit helfen über eine Stunde weg. Aber sie sind Leute ohne Geld, außerdem erklärt Petersen, dass er unmöglich mit ihnen hier in ein Lokal gehen könne, dann sei er seinen Posten los. Zur Not könne man in der Nähe des Hauptbahnhofs in ein Konzertcafé. Sie müssten aber den Mund halten.
Schließlich sitzen sie dort in einem halbleeren Café. Es ist die unglückliche Stunde zwischen sieben und acht, in der die Kapelle pausiert. Beerboom schimpft und trinkt Bier, Kufalt grübelt und trinkt ein Kännchen Kaffee, Petersen sieht sich mit seinen schnellen Augen unter den jungen Mädchen um. Er trinkt Tee.
Als Kufalt sich eine Zigarette dreht, flüstert er: »Ich weiß nicht, ob das hier üblich ist. Vielleicht kaufen Sie sich welche. Wir fallen sonst auf. Ich würde Ihnen die fünfzig Pfennig unserer Wette erlassen.«
»Na schön«, sagt Kufalt und steht auf. »Ich hole sie mir dann drüben im Hauptbahnhof. Hier deren Apothekerpreise bezahle ich nicht.«
Kufalt geht. Seinen Hut lässt er hängen. Es ist kurz vor acht. Unten fragt er, wo der Rathausmarkt ist. – Dort die Ecke, die Mönckebergstraße hinunter, kaum fünf Minuten.
Kufalt läuft.
Da ist schon der Rathausmarkt, die Uhr schlägt eben acht, er sieht sich nach dem Denkmal, nach dem Pferdeschweif um.
Nichts.
Er fragt. »Ja, das war mal hier. Aber jetzt nicht mehr. Wie lange waren Sie denn nicht hier?«
Kufalt umrundet den Rathausmarkt. Er geht kreuz und quer. Immer glaubt er, zwanzig Meter weiter Batzke zu sehen. Manchmal erreicht er ihn, dann ist es jemand anders, manchmal entschwindet der andere, dann war er es vielleicht doch. Außerdem kann er sich nicht recht vorstellen, wie Batzke eigentlich aussieht, immer wieder stellt er sich einen Menschen in blauer Kittchenkluft mit Lederpantoffeln vor.










