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Mir müssen Sie nicht Angst machen, sagte Petra friedlich und ein wenig schwach. Sie hat wohl auch schon einmal einer sitzen lassen. Sie hatte es nicht sagen wollen, aber wes das Herz voll ist, des geht der Mund über – und so hatte sie es gesagt!
Der Ida blieb die Luft fort, als habe sie einer derb vor die Brust gestoßen.
Den haste wech, Mächen! kicherte die Thumann.
Eener, Fräulein?! sagte da die Ida mit erhobener Stimme. Eener – saren Se?! Hundert sollten Se saren! Da reichen keene hundert Male, det ick mir Eisbeene und dicke Knie stehe, und der Seejer uff de Normaluhr jeht und jeht, bis ich dußlijet Aas endlich merke: mir hat wieda eena vasetzt! Aber, ging sie aus den wehmütigen Erinnerungen zum Angriff über, desderwejen brauch mir so eene, die nich mal am Hochzeitstag was uff ’en Leib zu ziehen hat, det noch lange nich vorzuhalten! Eene, die mir nur mit Jieroojen die Schnecken ins Maul kiekt und de Kaffeeschlucker zählt. So eene wie …
Feste, feste! freute sich die Thumann.
Und überhaupt! Is det denn ’ne Sache für ’n anständijet Mächen, det sie in so ’ne bedrängte Laje hochnäsig in ’ne fremde Küche kommt und fracht wie Jräfin Hochkotz: Hamm Se wat for mir zu tun?! Wer nicht hat, muß betteln jehn, det hat mein Vata mir schon mit ’em Scheit auf ’en Buckel jeschrieben, und hätten Se jesacht: Ida, ick schiebe Kohldampf, jib mir ’ne Schnecke, du hätt’st längst eene jehabt! Und überhaupt, Frau Thumann! Ick zahle Sie einen Doller täglich für Ihren Wanzenstall und nich mal Nachtlicht uff de Treppe, wo die Herren imma üba meckern – da hamm Se jarnischt zu lachen und zu schreien: den haste wech, Mächen! Da hamm Se mir jefälligst in Schutz zu nehmen, und wenn so eene keß wird, die janz for umsonst mit ihrem Louis schläft, zum Vajniejen, und de Thumann kann ja sehn, wo se de Pinke herkriegt, wir arbeeten nich, wir jehn doch nich uff den Strich und schaffen nich an – dafor sind wir doch zu fein – nee, Thumann, ich muß mir doch sehr über Sie wundern, und wenn Se det freche Aas, det mir vorwirft, det ick nich imma Jlück mit die Herren habe, wenn Se die nich uff de Stelle rausschmeißen – denn zieh ick!
Die rassige Ida stand zornrot da, eine Schnecke hatte sie noch in der Hand, hochrot war sie und immer röter wurde sie noch, je mehr ihr klarwurde, wie schwer sie beleidigt worden war. Die Thumannsche und Petra sahen ganz fassungslos auf diesen Sturm, der entstanden war; kein Mensch wußte woher und warum. (Und die rassige Ida, hätte sie nur nachdenken können, war sicher über den Schluß ihrer Rede genauso überrascht wie die beiden andern.)
Petra wäre ja am liebsten aufgestanden und in ihr Zimmer geschlüpft, hätte abgeschlossen und sich aufs Bett geworfen – oh, das gute Bett! Aber es wurde ihr immer schwächer und schwächer, es brauste manchmal in ihren Ohren und vor ihren Augen drehte es sich, dann sprach die zornige Stimme ganz ferne. Aber plötzlich kam sie wieder nahe, sie schrie direkt in ihre Ohren, und vor ihren Augen drehte es sich von neuem. Dann lief Feuer über ihren Nacken, den Rücken hinab, schwächender Schweiß brach aus … Wenn sie es genauer rechnete, hatte sie ja lange Tage nichts Rechtes mehr gegessen; immer nur, wenn Wolf grade Geld hatte, eine Bockwurst mit Salat, oder Schrippen und Leberwurst auf der Bettkante. Und seit gestern früh überhaupt nichts mehr, wo es so darauf ankam, daß sie sich gut nährte –! Sie mußte versuchen, schnell in ihr Zimmer zu kommen, und dann abschließen, vor allem fest zuschließen; selbst wenn sie mit Polizei anklopften, nicht öffnen; erst wieder aufmachen, wenn Wolfgang kam …
Jotte doch! hörte sie ganz in der Ferne die Thumann jammern, wat machste mir doch for Stunk mit deine freche Schnauze, Mächen! Solche, die nischt haben, müssen andern ooch nicht det Brot vom Tische quasseln, und de Ida is eene prima Dame, die jeden Tach mit ihrem Doller kommt – so eener haste gar nischt vorzuwerfen, vastanden?! Und nu mach, daß de aus meine Küche kommst, und een bißken dalli, sonst wackelt was …
Nee! schrie die Ida unerträglich scharf. Det jilt nich, Thumann! Entweder jeht die oder entweder ick! Beleidijen lasse ick mir nich von so einer – raus mit ihr aus de Wohnung oder ick ziehe noch diese Minute.
Aber, Mächen, Ida, Herzenskindting! jammerte die Thumann. Du siehst doch, wie se is: Spucke an ’ne Kalkwand, und nischt uff ’en Leib und nischt im Leib – so kann ick se doch nich türmen lassen …
Können Se nich, Thumann? Nee, det können Se nich? So – det wollen wir sehen – da können Se mir jleich in Ihre Entreetüre sehen, Frau Thumann –!
Mächen, Ida, bat die Thumann, warte doch bloß, bis ihr Kerl wiedakommt, tu mir die Liebe! – Dann sollen se ooch jleich beide dieselbe Minute noch jehn müssen! – Mache doch, dat de ihr aus de Oojen kommst, du dußlije Jans, du! flüsterte sie aufgeregt zu Petra. Wenn se dir bloß nich mehr sieht, wird se schon ruhich!
Ich gehe ja schon, flüsterte Petra und stand auf. Plötzlich konnte sie stehen und sie sah auch gut das schwarze Loch der offenstehenden Küchentür in den dunklen Flur hinein, aber die Gesichter der Frauen sah sie nicht. Sie ging langsam, die sagten noch etwas, immer schneller, immer lauter, aber sie hörte es nicht genau, konnte es darum auch nicht verstehen …
Dafür konnte sie aber gehen, und sie ging langsam aus der hellen, heißen Schwüle auf das schwarze Loch zu. Dahinter kam der fast dunkle Flur mit ›ihrer‹ Tür; sie brauchte nur einzutreten, zuzuschließen – und dann das Bett …
Aber sie ging vorüber, es war wie in einem Traum, ihre Glieder gingen anders, als der Kopf es ausdachte. Sie warf im Vorübergehen noch einen Blick in das Zimmer –›das Bett hätte ich doch noch machen müssen‹, dachte sie, und schon war sie vorüber. Schon war die Eingangstür da, und sie machte sie auf, tat einen Schritt über die Schwelle und zog sie hinter sich wieder zu.
Das Helle rechts und links waren Gesichter von Nachbarinnen.
Wat is denn det for Krach bei Ihnen? fragte die eine.
Die haben Sie woll rausjeschmissen, Fräulein?
Jotte doch! Wie ’ne aufjewärmte Leiche!
Aber Petra bewegte nur leise verneinend den Kopf. Sie durfte nicht sprechen, sonst wachte sie auf und saß wieder in der Küche, und die stritten und schrien sie an … Leise, nur leise, sonst schwindet der Traum … Sie faßte vorsichtig das Geländer, sie trat eine Stufe tiefer – und sie kam wirklich tiefer. Es war eine richtige Traumtreppe, man kam auf ihr tiefer, nicht höher.
Dann stieg sie weiter hinab.
Sie mußte sich eilen. Oben hatten sie die Tür wieder aufgemacht, sie riefen irgend etwas hinter ihr her: Mächen, mach doch keene Zicken! Wo willste denn hin, so nackig? Komm wieda ruff, die Ida vazeiht dir ooch …
Petra machte eine verneinende Bewegung mit der Hand und stieg tiefer. Sie stieg und stieg – auf den Grund eines Brunnens. Aber unten war ein helles Tor – wie im Märchen. Es gab so ein Märchen, Wolfgang hatte es ihr erzählt. Und nun ging sie durch das helle Tor in die Sonne hinaus, durch Gänge, über sonnige Höfe … und nun war da die Straße, eine fast leere, sehr sonnige Straße –
Petra sah sie hinauf und hinunter – wo war Wolf?
3
Feldinspektor Meier – Negermeier – ist nun doch gleich nach dem Arbeitsanfang um eins draußen auf dem Zuckerrübenschlag gewesen. Es war genau, wie er es sich gedacht hatte: der Vogt Kowalewski hatte in seiner Schlappheit die Weiber nur so obenhin kratzen lassen, die Hälfte des Unkrauts saß noch fest in der Erde.
Sofort hatte sich der kleine Meier aufgepustet, war rot angelaufen und hatte zu schimpfen angefangen: verfluchte Schweinerei, rumstehen und mit den Weibern poussieren, statt die Augen aufzumachen, elender Schlappschwanz – und so weiter, die ganze schon bekannte und bei jeder Unregelmäßigkeit wiederholte Tonleiter rauf und runter.
Leutevogt Kowalewski hatte den wütenden Sturzbach ohne ein Widerwort über sich ergehen lassen, den grauen, schon fast weißen Kopf gesenkt, und hatte dabei das eine oder andere jämmerliche Unkraut mit den eigenen Pfoten aus der staubigen, festen Erde gepuhlt.
Nicht grabbeln sollen Sie, sondern aufpassen! hatte Meier geschrien. Aber Sie grabbeln natürlich lieber!
Eine völlig grundlose Verdächtigung des alten Mannes. Aber Meier hatte seinen Lacherfolg bei den Leuten und schlug sich in die Fichten. Dort änderte sich seine Truthahnröte sofort in die gewöhnliche Gesichtsfarbe – ein gesundes Rotbraun – und er lachte, daß ihm der Bauch wackelte. Dem hatte er es gegeben, dem alten Trottel! Mindestens die drei nächsten Tage würde diese Abreibung mal wieder vorhalten! Das mußte man gelernt haben, vor Wut zu brüllen, ohne auch nur die Spur wütend zu sein, sonst machte man sich tot mit den Leuten.
Der Rittmeister, obwohl alter Offizier und Rekrutenabrichter, konnte das nicht. Der ärgerte sich, daß er schneeweiß wurde, daß er puterrot anlief, und war nach jedem solchen Ausbruch für vierundzwanzig Stunden völlig erledigt. Komische Nuß, großer Mann, wirklich!
Man durfte gespannt sein, mit was für Leuten er heute wiederkam, wenn er überhaupt welche brachte. Brachte er welche, waren sie natürlich ausgezeichnet, weil er, der Herr Rittmeister, sie verpflichtet hatte – und er, Meier, mußte sehen, wie er mit ihnen zurechtkam. Klagen ausgeschlossen.
Nun, es würde schon gehen. Er, der kleine Meier, war noch immer mit allen großen Männern zurechtgekommen, die Hauptsache blieb, daß ein paar nette Mädchen dabei waren. Amanda war ja soweit ganz gut, aber so ’ne Polenmadka hatte doch noch immer ganz andere Rasse und Feuer, und – vor allem – sie setzte sich nie was in den Kopf. Negermeier sang selbstvergessen vor sich hin: Denn die Rose und das Mädchen will beschissen sein!
Junger Mann – Sie sind nicht allein! sprach eine dröhnende Stimme – und zusammenfahrend sah Feldinspektor Meier unter einer Fichte am Wege den Schwiegervater seines Brötchengebers, den Geheimen Ökonomierat von Teschow, stehen.
Unterwärts war der alte Herr, zumal für solch drückend heißen Sommertag, völlig ausreichend bekleidet, nämlich mit hohen Stulpenstiefeln und grünlodener Büx. Von der Taille an aber, die jedoch ein ungeheurer Schmerbauch war, trug er nur ein Jägerhemd mit farbigem Pikee-Einsatz, das weit offen stand und die grauzottige, mit Schweißperlen bedeckte Brust sehen ließ. Dann kam weiter nach oben wieder Wolle, nämlich ein rötlich-, gräulich-, weißlich-, gelblicher, wolliger Vollbart. Eine rote Knollennase, zwei listig und vergnügt funkelnde kleine Augen, und obenauf ein grüner Lodenhut mit einem Gamsbart. Das Ganze der Geheime Ökonomierat Horst-Heinz von Teschow, Besitzer von zwei Rittergütern und achttausend Morgen Wald, kurz genannt ›der alte Herr‹.
Und natürlich hatte der alte Herr wieder ein paar kräftige Knüppel in der Pfote – sein Jagdwagen hielt sicher irgendwo um die Ecke. Feldinspektor Meier wußte, der alte Herr war dem Beamten seines Schwiegersohnes nicht abgeneigt, denn er haßte alle Duckmäuserei und Feinheit. Darum sagte Meier recht unverzagt: Nach ein bißchen Feuerholz gesehen, Herr Geheimrat?
Herr von Teschow hatte auf seine alten Tage die beiden Güter verpachtet – Neulohe an den Schwiegersohn, Birnbaum an den Sohn. Für sich hatte er nur die ›paar Fichten‹ behalten, wie er seine achttausend Morgen Wald nannte. Und wie er Sohn und Schwiegersohn die höchste nur mögliche Pacht abknöpfte (›dämliche Bande, wenn sie sich von mir übers Ohr hauen läßt‹), so war er auch, wie der Teufel hinter der armen Seele, hinter der Nutzung seines Waldes her. Nichts durfte umkommen; bei jeder Ausfahrt packte er seinen Jagdwagen eigenhändig mit abgestorbenem Brennholz voll. ›Bin kein so feiner Knochen wie mein Herr Schwiegersohn. Kaufe mir kein Brennholz, nich mal aus den eigenen Fichten, such es mir, Armeleuterecht – häh-häh-häh!‹
Für dieses Mal aber war er nicht geneigt, seine Ansichten über Brennholzerwerb kundzutun. Die Knüppel in der Hand, betrachtete er nachdenklich den jungen Mann, der dem bärtigen Greis bis zur Achselhöhle reichte. Fast besorgt fragte er: Wieder Zicken jemacht, was, Jüngling? Meine Gnädige ist auf Touren! Ist die beschissene Rose nun wenigstens die Backs –?
Artig und höflich wie ein braver Sohn antwortete der kleine Meier: Herr Geheimrat, wir sind wirklich nur die Geflügelrechnungen durchgegangen.
Urplötzlich lief der alte Herr violett an: Was geht Sie meine Geflügelrechnung an, Herr?!! Was geht Sie meine Mamsell an, was?!! Sie sind bei meinem Schwiegersohn Beamter, nicht bei meiner Mamsell, verstanden? Auch nicht bei mir!!
Jawohl, Herr Geheimrat! sagt der kleine Meier gehorsam und friedlich.
Muß es denn grade die Mamsell von meiner Frau sein, Meier, Jüngling, Apoll!! klagte der alte Herr wieder. Es gibt doch so viele Mädchen –!! Nehmen Sie Rücksicht auf einen alten Mann! Und wenn’s denn sein muß – müssen Sie es denn grade so machen, daß sie es sieht?! Ich versteh alles, ich bin auch mal jung gewesen, ich hab mir’s auch nicht durch die Rippen geschwitzt – aber muß ich denn nun den Ärger haben, weil Sie so ein Casanova sind?! Ich soll Sie rausschmeißen! Geht nicht, sage ich ihr, ist nicht mein Beamter, ich kann ihn nicht rausschmeißen. Schmeiß du deine Mamsell raus. – Nein, geht nicht, die ist bloß verführt, sagt sie, und außerdem ist sie so tüchtig. Gute Geflügelmamsells sind knapp, Feldbeamte gibt’s wie Sand am Meer. – Nun muckscht sie mit mir, und sobald mein Schwiegersohn zurück ist, wird sie ihm die Ohren volltuten – da sehen Sie!
Wir sind nur Geflügelrechnungen durchgegangen, beharrt der kleine Meier für alle Fälle, denn ›Bloß nichts gestehen‹ ist die Losung aller kleinen Verbrecher. Fräulein Backs kann so schlecht zusammenzählen – da hab ich ihr geholfen.
Na ja, lachte der Greis, sie wird es ja schon lernen von dir, mein Sohn, die Rechnerei, was? Und er lachte schallend. Übrigens, mein Schwiegersohn hat angerufen, er hat Leute gekriegt.
Gott sei Dank! sagte Meier hoffnungsvoll.
Bloß, sie sind ihm schon wieder durch die Lappen gegangen, wird wohl wieder mal ein bißchen zuviel kommandiert haben! Weiß ich nicht, versteh ich auch nicht, meine Enkelin, die Violet, war am Apparat. Er sitzt in Fürstenwalde fest – verstehen Sie das!?! Seit wann ist denn Fürstenwalde Berlin geworden?
Dürfte ich mir die Frage erlauben, Herr Geheimrat, sagte der kleine Meier mit all der Höflichkeit, die er für Vorgesetzte und Höhergestellte stets bereithielt, soll ich nun heute abend Wagen zur Bahn schicken oder nicht?
Keine Ahnung! sagte der Alte. Ich werde euch in eure Wirtschaft reinreden, das möchtest du wohl, mein Sohn. Daß ihr nachher bei euern Fehlern sagt, ich hab das angeordnet! Nee – fragen Sie man die Violet! Die weiß es. Oder weiß es auch nicht. Bei eurer Wirtschaft weiß man das nie!
Jawohl, Herr Geheimrat! sagte der artige Meier.
(›Mit dem Alten muß man sich gut stellen. Wer weiß, wie lange es der Rittmeister bei der Pacht noch macht – und vielleicht übernimmt mich der Alte dann als Beamter.‹)
Der alte Herr pfiff gellend auf zwei Fingern nach seinem Wagen. Sie können mir noch die Knüppel auf die Karre geben, sagte er gnädig. Und wie stehen eigentlich eure Zuckerrüben? Ihr hackt wohl jetzt erst? Wachsen nicht, wie? Da habt ihr Helden wohl das schwefelsaure Ammoniak ganz vergessen, wie, was? Ich wart und wart, keiner streut Dünger, ich denk, na laß sie, ein kluges Kind weiß alles von allein. Und lach mir einen Ast. Morgen, mein Herr!
4
Die schwüle Hitze im Polizeipräsidium Alexanderplatz konnte einen umwerfen. In den Gängen stank es nach gegorenem Urin, fauligem Obst, ungelüfteten, feuchten Kleidern. Überall standen Leute herum, graue Gestalten mit grauen, faltigen Gesichtern, erloschenen oder wild flackernden Augen. Die ermüdeten Polizisten waren stumpf oder gereizt. Rittmeister von Prackwitz, flammend vor Wut, hatte zwanzig Menschen fragen, Dutzende von Gängen laufen, endlose Treppen hinauf- und wieder hinuntersteigen müssen, bis er nun endlich, eine halbe Stunde später, in einem großen, unsauberen, riechenden Amtszimmer saß. Drüben, kaum ein paar Meter entfernt, rasselte die Stadtbahn vor dem Fenster, man hörte es mehr, als daß man es durch die grau verstaubten Scheiben sah.
Von Prackwitz war nicht allein mit dem Beamten. An einem Nebentisch wurde von einem andern Beamten in Zivil ein bleichgesichtiger, großnasiger Bengel wegen irgendeines Taschendiebstahls gefragt. An einem andern Tisch, im Hintergrund, steckten vier Männer die Köpfe zusammen und murmelten pausenlos miteinander. Es war nicht auszumachen, ob auch darunter ›Verbrecher‹ waren, denn alle waren in Hemdsärmeln.
Der Rittmeister hatte seinen Bericht gemacht, zuerst kurz, präzis, unter Zurückdrängung seines Ärgers, dann recht lebhaft und fast laut, als die Wut über seinen Hereinfall ihn doch wieder überwältigt hatte. Der Beamte, ein blasser, abgespannt aussehender Zivilist, hatte mit gesenkten Augen, ohne eine Zwischenfrage zugehört. Oder auch nicht zugehört, jedenfalls war er die ganze Zeit eifrig bemüht gewesen, drei Streichhölzer so aneinander zu stellen, daß sie nicht umfielen.
Nun, da der Rittmeister fertig war, sah der Mann hoch. Farblose Augen, farbloses Gesicht, kurzer Schnurrbart, alles ein bißchen traurig, fast verstaubt, aber nicht unsympathisch.
Und was sollen wir dabei tun? fragte er.
Dem Rittmeister gab es einen Stoß. Die Kerle fassen! rief er.
Weswegen?
Weil er seinen Vertrag nicht eingehalten hat.
Aber Sie hatten ja keinen Vertrag mit ihm geschlossen, nicht wahr?
Doch! Mündlich!
Das wird er leugnen. Haben Sie Zeugen? Der Herr aus der Vermittlungsstelle wird Ihre Behauptungen kaum bestätigen, nicht wahr?
Nein. Aber der Kerl, der Vorschnitter hat mich um dreißig Dollar betrogen!
Das höre ich lieber nicht, sagte der Beamte leise.
Wie –?!
Haben Sie eine Bankbescheinigung über den rechtmäßigen Erwerb der Devisen? Durften Sie sie kaufen? Durften Sie sie weitergeben?
Der Rittmeister saß da, ziemlich weiß, kaute an den Lippen. Dies war also die Hilfe, die ihm der Staat angedeihen ließ! Er war betrogen worden – und ihn bedrohte man! Alle hatten sie Devisen statt des Dreckgeldes – er hätte wetten mögen, der graue Mann da vor ihm trug auch welche in seiner Tasche!
Lassen Sie den Mann laufen, Herr von Prackwitz, sagte der Beamte begütigend. Was ist Ihnen denn damit gedient, daß wir den Mann kriegen und einstecken? Das Geld ist dann längst nicht mehr da und Leute kriegen Sie dadurch auch nicht! Fälle über Fälle, Tag für Tag, Stunde um Stunde. Ein Fahndungsblatt täglich sooo lang – es hat keinen Sinn, glauben Sie mir! Plötzlich aber ganz dienstlich: Natürlich, wenn Sie es wünschen, da ist die Sache mit dem Fahrgeld … Sie stellen Strafantrag – ich lege dann einen Akt an …
Von Prackwitz zuckte die Achseln, er sagte schließlich: Und ich habe meine Ernte draußen stehen. Verstehen Sie, Brot über Brot! Ausreichend Brot für Hunderte! Ich habe ihm die Devisen ja nicht zu meinem Vergnügen gegeben, einfach, weil keine Leute zu kriegen sind …
Ja, natürlich, sagte der andere. Ich verstehe schon. Also lassen wir die Sache fallen. Um den Schlesischen Bahnhof herum gibt es genug Vermittler – sicher kriegen Sie Leute. Und nichts im voraus zahlen. Auch dem Vermittler nicht.
Schön, sagte der Rittmeister. Ich will’s also noch mal versuchen.
Am Nebentisch, der großnasige Dieb weinte jetzt. Er sah abstoßend aus, er weinte bestimmt nur, weil er keine Lügen mehr wußte.
Also, danke schön, sagte von Prackwitz, fast gegen seinen Willen. Und plötzlich halblaut zu dem andern, fast kameradschaftlich, wie zu einem Leidensgefährten: Finden Sie noch durch – hier – so mit allem? Er machte eine vage Handbewegung.
Der andere hob die Achseln und ließ sie hoffnungslos wieder fallen. Er setzte an, zögerte, schließlich sagte er: Seit Mittag steht der Dollar 760 Tausend. Was sollen die Leute da machen? Hunger tut weh.
Der Rittmeister ließ ebenfalls hoffnungslos die Achseln fallen und ging wortlos zur Tür.
5
In einer oder der andern Stunde seines Lebens läßt auch der tätige Mensch, an einer Daseinswende angelangt, vom Gefühl seiner Ohnmacht überwältigt, die Hände sinken. Wehrlos, ohne den Gedanken auch nur an Gegenwehr, läßt er sich treiben und schieben – nicht einmal den Nacken zieht er ein vor dem Schlag, der ihm droht. Treibe hin, Mensch, Blatt auf dem Strome des Lebens! Auf eiligen Wellen trägt es dich unter einer Uferböschung stilleres Wasser; aber schon faßt dich ein neuer Wirbel, und dir bleibt nichts, als dich wirbeln zu lassen, zu Untergang oder neuem Verweilen – weißt du es?
Petra Ledig, die halbnackt Ausgetriebene, hätte mit ein paar Worten den Sturm der beiden Frauen in der Küche beschworen – es war alles gar nicht so schlimm, hätte sie nur gesprochen. Worte verändern alles, sie schleifen die scharfen Ränder ab – schon ist alles ganz anders; wie war es eben? Nur nicht dieses starre Schweigen, das Hochmut wie Verzweiflung, Hunger wie Verachtung verbergen konnte.
Nichts zwang Petra Ledig, an der offenen Tür ihres Zimmers vorüberzugehen. Eintreten und den Schlüssel umdrehen, sie konnte es, doch sie tat es nicht. Die Lebenswoge hob das Blatt, hob es, hob es. Zu lange schon hatte es in dem stillen Uferwasserwinkel gelegen, nur manchmal leise zitternd unter den letzten Ausläufern von Wirbeln. Nun schwemmte die Woge das Willenlose hinaus, in die völlige Ungewißheit hinein – auf die Straße hinaus.
Es war Nachmittag, vielleicht drei, vielleicht schon halb vier – die Arbeiter waren noch nicht zurück aus den Fabriken, die Frauen gingen noch nicht zu ihren Besorgungen. Hinter den Ladenfenstern, auch in den dunklen, muffig riechenden Hinterstuben der Läden saßen die Ladenbesitzer, nickten und dösten. Kein Kunde in Sicht. Es war so heiß –!
Eine Katze lag blinzelnd auf einem Treppenstein; von gegenüber, von der andern Straßenseite her, spähte ein Hund. Aber dann lohnte es sich ihm nicht, er öffnete weit den sanft rosenfarbenen Rachen und gähnte.
Die Sonne, deren Licht wohl noch blendete, war nur hinter Dunst zu sehen wie ein rötlich über seine Ränder kochender Glutball. Was es auch sein mochte, Hauswände oder Baumrinde, Schaufensterscheibe oder Pflaster, Wäschestück auf dem Balkongitter oder Uringerinnsel eines Pferdes auf dem Fahrdamm – alles atmete, ächzte, schwitzte, roch. Heiß. Glutheiß. Dem stille stehenden Mädchen war es, als höre es ein Summen durch die Stadt, ein leises, eintöniges, immer vor sich hin summendes Geräusch – als koche die ganze Stadt.
Petra Ledig wartete, mit den Augen müde gegen das Licht blinzelnd, wartete auf irgendeinen Anstoß, der das Blatt weitertreiben sollte, gleichviel wohin, irgendwohin. Die Stadt summte vor Hitze. Eine Weile starrte sie angestrengt zu dem Hund hinüber, als könne von ihm irgendein Anstoß ausgehen. Der Hund starrte zurück – dann ließ er sich hinfallen, streckte, vor Hitze ächzend, alle viere von sich und schlief ein. Petra Ledig stand, stand; nein, sie zog nicht den Nacken ein, auch ein Schlag wäre jetzt Erlösung gewesen – aber nichts geschah. Die Stadt summte vor Hitze. –
Und wie sie wartend auf irgend etwas an der überhitzten Georgenkirchstraße stand, saß ihr Liebster, Wolfgang Pagel, wartend in einem fremden Haus, in einer fremden Küche – wartend auf was? Seine Führerin, die so frisch gewaschene Liesbeth, war im Innern des Hauses verschwunden. An dem schneeweißen Herd mit den verchromten Beschlägen hantierte ein anderes junges Mädchen, dem Liesbeth mit einigen Flüsterworten Bescheid gesagt hatte. Ein Topf klapperte auf der Platte, emsig kochend. Wolfgang saß, wartend, kaum noch wartend, den Ellbogen auf ein Knie gestützt, das Kinn in der Hand.
Solche Küche hatte er noch nicht gesehen. Groß wie ein Tanzsaal, weiß, silbern, kupferrot, das matte, körnige Schwarz der Elektrotöpfe – und mitten durch sie lief ein Geländer, hüfthoch, aus weißem Holz, eine Art Podium begrenzend, und trennte den Arbeits- von dem Aufenthaltsraum. Zwei Stufen gab es; unten waren Herd, Küchentisch, Töpfe, Schränke. Oben aber, wo Pagel saß, stand ein langer Eßtisch, schneeweiß, bequeme weiße Stühle. Ja, sogar ein Kamin war hier, aus schönen, rotgebrannten Steinen mit sauberen weißen Fugen.






