- -
- 100%
- +
Harari neigt dazu, nichtmenschlichen Wesen eigene, geistige Fähigkeiten zuzuschreiben, wenn auch oft nur hypothetisch, im Modus der Vermutung. Er tut es zugleich auf ironische Weise, wobei der Grad seiner Ironie schwer bestimmbar bleibt, dem Urteil der Leser überlassen, von denen manche die Ironie gar nicht wahrnehmen werden. Vielleicht ist es gar nicht nötig, (Selbst-)Bewußtsein zu haben, um intelligente Leistungen hervorzubringen, die jene der Menschen immer weiter und bald auch immer schneller übertreffen. Computer, Rechenmaschinen, Algorithmen, körperlose, in gewisser Weise rein „geistige“ Programme, Gespenster sozusagen, könnten in nicht allzu ferner Zukunft die Dinge dieser Welt und auch die Menschen und ihre Angelegenheiten (z. B. wirtschaftlicher, medizinischer, moralischer Natur) besser verwalten, als die Menschen dies im Hinblick auf Tiere, Maschinen und sich selbst zu tun imstande sind. Jene intelligenten Maschinen könnten selbsttätig ein Innenleben entwickeln, das nicht zwangsläufig anthropomorph sein oder bleiben muß, und immer mehr, immer weiter lernen, damit aber eigene, unvorhergesehene Identitäten ausbilden, sich selbst auf eine Weise perfektionierend, wie es Menschen versagt ist. Es klingt nach den features eines Science-Fiction-Romans, aber die Maschinenwesen könnten die Macht ergreifen und eines schönen Tages beschließen, daß die Menschen nicht nur überflüssig sind, sondern stören; daß sie für ihre eigene „Gesellschaft“, ihre vernetzten Strukturen eher schädlich als nützlich sind und man sie deshalb am besten entsorgt, wie man es mit Parasiten eben so macht. Aber vielleicht sind die intelligenten Maschinen ja, im Unterschied zu den Menschen in diversen Epochen ihrer Geschichte, zu einem sanfteren Schluß gekommen: Jene Menschen, die Urväter der ersten Computergenerationen, sind gar nicht so schädlich, wie es einst den Anschein hatte; man kann ihnen problemlos eine Existenz in sorgloser Muße ermöglichen, solange sie sich nicht in die Belange der eigentlichen, der rationalen und rationellen Gesellschaft einmischen. Die Menscheit wird gewissermaßen ornamental, sie dient zur nostalgischen Verschönerung.
Vielleicht ist es also nichts als vergebliche, d. h. nostalgische und folglich überflüssige Liebesmüh, wenn ich versuche, eine kurze, ganz und gar provisorische Liste von Aspekten und Dynamiken, von Freuden und Leiden des Bewußtseins zu erstellen, und zwar mithilfe der methodenlosen Methode – alias Heuristik – des Brainstormings, des ungeregelten, frei assoziierenden Stöberns in meinem Gedächtnis, das sich durch eine inzwischen beträchtliche Erfahrung des Denkens und Beobachtens im Lauf der Jahre ausgebildet hat, ein wenig wie ein Tuchverkäufer in alten Zeiten, der seine Stoffe ausrollt und umlegt, faltet und entfaltet und glattstreift und gegen das Licht hält, und auch wieder einrollt (wie es die aus den Bergdörfern in die Stadt gekommenen indianischen Verkäuferinnen in Mexiko heute noch praktizieren). Fenster auf und durchlüften! Das Abgelagerte anheben, wenden, fliegen lassen! Vieles verwerfen, beiseitelassen, nicht einmal ignorieren.
Diesen Gedanken der menschheitlichen Überflüssigkeit, der Antiquiertheit des Menschen, findet man schon bei Günther Anders in dessen Nachkriegsphilosophie. Er selbst hat ihn nicht nur aus der kollektiven Erfahrung der Verwüstungen durch die Atombomben abgeleitet, sondern als Folge der immer umfassenderen Technisierung der Welt gesehen. Angesichts der für Menschen unerreichbaren Perfektion der Maschinen, wie man sie heute zum Beispiel an Schachcomputern, aber im Grunde genommen an jeder Rechenoperation sieht, muß der Mensch etwas wie „prometheische Scham“ empfinden, also das Gegenteil der klassischen und aufklärerischen Hybris.16 Unter diesen – immer noch neuen – Bedingungen käme es darauf an, nicht etwa „besser“ zu werden als die Maschinen oder mit ihnen gleichzuziehen, indem wir z. B. die Ausbildungsstätten durchdigitalisieren, sondern die besonderen Fähigkeiten des Menschen jenseits der Technik zu sehen, herauszuarbeiten und zu stärken: freie Zielsetzungen, Bewertung von Sachverhalten, Sinngebung, Interpretation, Geschichtsschreibung, einfühlsames Erzählen, ästhetisches Genießen, spielerisches Vergnügen.
Ich weiß nicht, ob eine Rechenmaschine oder eines ihrer Subsysteme Verantwortung übernehmen kann für eine andere: für andere Maschinen oder für das große Ganze, das Hypersystem, das im Unterschied zum großen Ganzen der Menschen, wie wir es in diversen Ausformungen aus der bisherigen Geschichte kennen, genau definiert und bezeichnet werden kann. Warum nicht: eine Verantwortungs- und Koordinationsmaschine, auf das Allgemeine – die Gemeinschaft – gewissermaßen spezialisiert. Diese Frage soll uns hier und jetzt nicht weiter kümmern, denn es geht mir immer noch in erster Linie um den Menschen, die Menschen in ihrer irreduziblen Vielheit. Ich frage mich, wie es um die Verantwortungsfähigkeit der jungen Menschen im Land, in dem ich lebe, bestellt ist, die zwar die Regeln, die man ihnen eingetrichtert hat, befolgen (und niemals auf ihre Sinnhaftigkeit hin befragen, ganz im Sinn von Wittgensteins Theorie des „Regelfolgens“17), vor allem dann, wenn möglicherweise Kontrollagenten zugegen sind, aus freien Stücken und nach eigenem Ermessen aber so gut wie nichts zu tun imstande sind, die Bedürfnisse anderer Gruppen, z. B. von Behinderten, nicht einmal erkennen, geschweige denn, daß sie diese in ihrem fremdbestimmten Handeln berücksichtigen. Ich spreche von Japan, hier mache ich diese Erfahrung tagtäglich und habe für mich den Schluß gezogen, daß die Einübung in ein äußerst rigides, detailverliebtes Regelsystem persönliche Verantwortung nicht fördert, sondern abtötet. In Europa mag das anders sein. Oder auch nicht. Jedenfalls wird in dieser stillen, nur sehr selten lautwerdenden Opposition, die hier durchwegs auf Unverständnis stößt, meine Sicht auf die menschliche Geistesmöglichkeit der Verantwortung geschärft. So sehr geschärft, daß mir ihre Erhaltung ein vordringliches Anliegen geworden ist, auch wenn ich mir oft genug sage: Du bist doch kein Aufpasser, kein Polizist, kein Moralapostel! Tatsächlich schauen mich die mit den üblichen Formeln um Entschuldigung ersuchenden, zustimmend nickenden Gesichter mit einem Blick an, der diese stumme Botschaft enthält: Du bist doch hier gar nicht zuständig!
Aber wer, wenn nicht ich, ist hier zuständig? Denke ich mir und verschweige diesen so seltsamen Gedanken.
Verantwortung. Antwort geben. Erst einmal sprechen. Nachdenken. Den Mund auftun. Und dann vielleicht handeln: ent-sprechend. Wem oder was antworten, entsprechen, tun? Aufgrund wovon? Von Werten, die man bedacht, abgewogen, gewählt hat; nicht von Regeln, zu denen man angewiesen wurde. Welche Werte? Es gibt deren viele (manchmal widersprechen sie einander, drängen sich vor oder verdrängen andere), und es gibt unterschiedliche Zusammenstellungen, Wertegebäude, Kodizes. Viele alte, selten neue Werte. Erweitere deinen Besitz, dein Vermögen, dein Einkommen. Steigere deine Macht. So steht es geschrieben: „Da kam der, der die fünf Talente erhalten hatte, brachte fünf weitere und sagte: Herr, fünf Talente hast du mir gegeben; sieh her, ich habe noch fünf dazugewonnen. Sein Herr sagte zu ihm: Sehr gut, du bist ein tüchtiger und treuer Diener.“ Die frohe Botschaft in kapitalistischem Geiste. Des Antichristen Nietzsche Zerbrechen an der selbstgestellten Aufgabe, neue Werte zu schaffen: Wen interessieren solche Hasardstücke heute noch?
Mich!
Alte Werte: Macht, Reichtum. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Unterwirf dir deinen Nächsten mit allen Mitteln. Denk stets, in jedem Einzelfall, an die allgemeinen Gesetze, die für jeden gleichermaßen gelten. Memento mori: Denk an den Tod, zieh aus diesem Gedanken den Schluß, daß es gilt, sich auf das Jetzt zu konzentrieren, oder auf das Ganze, auf deine oder die Geschichte, die Mit- und Nachwelt. Das Leben an sich sei der höchste Wert. Nicht immer. Es gibt keinen absoluten Wert. Oder? Aber Junge, Mädchen, überleg dir zumindest das, was du jetzt tust oder unterläßt (besonders letzteres!); fang etwas an, such dir was aus, du selbst bist der Mann, die Frau. Bediene dich deines Verstandes, der anders, unsicherer, tastend, aber auch vielfältiger und vielseitiger funktioniert als das allwissende Gerät, das du stets mit dir führst wie eine Prothese (wie es mittlerweile Pflicht ist), dein Schutzschild vor der Wirklichkeit. Durchdringe die Wirklichkeit und nimm sie auf, spüre sie und errichte sie, konstruiere, bessere aus, ändere! Definiere, was wirklich ist, bestimme die Wirklichkeit neu, werte sie um. Zum Beispiel: „Das Bergblau ist – das Braun der Pistolentasche ist nicht!“ Auch dies ein Wert, und zwar ein fundamentaler: Tu was! Oder tu nix, aber bekenne dich dazu!
Ich habe mich nie mit den Grundlagen der Statistik beschäftigt und verspüre auch jetzt, in Zeiten der Pandemie, da die Infektions- und Sterblichkeitskurven ins Kraut schießen, nicht die geringste Lust dazu, aber wie so viele klappere auch ich seit dreißig Jahren am Computer herum und tummele mich seit fünfzehn oder zwanzig Jahren in virtuellen Welten, und so sagt mir mein digitales Gefühl, daß das Denken meines maschinell-personalen Gegenübers, das in all den Jahren wirklich viel besser und umfassender geworden ist und sich unaufhaltsam perfektioniert, im wesentlichen ein mathematisch-statistisches ist, auch dann, wenn auf der Benutzeroberfläche gar keine Zahlen erscheinen. Daran bin ich gewöhnt, an das Denken meines ewigen Gegenübers – oder muß ich sagen: meiner Geistesprothese? –, an seine immer häufigeren Einflüsterungen und Einmischungen, zum Beispiel wie meine Rechtschreibung in diesem Text hier auszusehen habe oder wie der oder jener fremdsprachige Text zu übersetzen sei; ja, er nimmt mir dieses Denken neuerdings sogar ab und erledigt die Korrekturen, die Umwandlungen selbst, und in Zukunft vielleicht auch die Entwürfe, die ganze Schreibarbeit, ich muß nur noch das Thema entscheiden und ein paar Wünsche hinsichtlich subjektiver Färbungen äußern. Will ich das? Nein, ich will es nicht, aber ich vermute, daß die meisten es bequem finden werden.18 Ich will diese mich und uns selbst betreffende Automatisierung vermeiden, auch im Hinblick auf eine allgemeine Gesetzgebung, denn das mathematisch-statistisch-korrelationale Denken scheint mir für unsere menschlichen Zwecke bei weitem nicht ausreichend, letzten Endes zu primitiv, reduktiv, vereinfachend bei aller scheinbaren Komplexität.
Wo ich mich erinnere, d. h. auswähle im Wechselspiel mit dem nicht immer endgültigen, oft provisorischen Vergessen, speichert die Maschine, ohne auszuwählen: allenfalls kann ich nachträglich etwas löschen – und muß höllisch achtgeben, nicht zuviel oder das Falsche zu löschen – bzw. eine Kopie anzufertigen. Der Computer speichert oder kopiert, es ist dasselbe, er speichert-kopiert einfach ALLES.19 Und in den riesigen Heuhaufen, die er mit der Zeit anhäuft, findet er alles wieder, jede Stecknadel, jede kleinste Kleinigkeit. Der Search-and-find-Professional „erinnert“ sich unverzüglich an ALLES, oder genauer, an die Summe der Details. Und zwar ebenfalls auf Knopfdruck, Mausklick, durch Feld- oder Kreisberührung eines meiner Finger. Super! Und dann, noch besser: Die Maschine kann gleichzeitiges (bzw. zeitloses) Vorkommen von Daten in unterschiedlichen Dateien eruieren, man braucht nur zwei Suchstränge, oft endlos lange, spielt keine Rolle, miteinander zu kombinieren, zu kreuzen. Schnittmengen! Korrelationen! Was korreliert womit? Bildungsniveau mit Geburtenrate. Ach, das haben wir längst gewußt? Einfach durch Erfahrung – intelligente Maschinen bekommen auch „Erfahrungen“ eingespeichert! –, durch Fragenstellen, durch den Gebrauch des Verstandes sind wir zu demselben, vielleicht besseren, weil sinn- und wertvollen Resultat gekommen. Allerdings sind die Rechner schneller. Und genauer. Sie spucken Zahlen aus. Ohne Umschweife stellt ein Programm fest, daß die Zahl der Personen, die in einem Schwimmbecken ertrinken, mit der Zahl der Filme korreliert, in denen Nicolas Cage auftritt. Und daß die Scheidungsrate im US-Bundesstaat Maine vergleichbar ist mit dem Jahreskonsum von Margarine in diesem Staat. Und daß der Verzehr von Hühnerfleisch eine ähnliche Kurve aufweist wie die Einfuhr von Erdöl in die USA. Eine Fülle von Scherzen, erstellt von einem Harvard-Absolventen, der diese und zahllose andere Korrelationen auf seiner Homepage und schließlich in einem (durchaus überflüssigen) Buch kundgetan hat. Ist Nicolas Cage Schuld am Ertrinken im Swimmingpool? Halten Ehen länger, wenn Margarine vermieden wird? Werden die Hühner aussterben, wenn das Erdöl endgültig versiegt? Ach ja, Korrelationen sind noch lange keine Kausal- oder sonstigen Zusammenhänge. Dazu braucht es mehr, zum Beispiel Urteilsvermögen und Umsichtigkeit. Nicht nur Ausdauer, auch Spontaneität. Muße. Intuition.
Drei Leistungen, die ich der statistischen Intelligenz zugeordnet habe: speichern, suchen, korrelieren. Dazu kommt eine vierte: Wiederholungen bzw. Ähnlichkeiten – unvollkommene Wiederholungen – in einer großen Datenmenge – dem Heuhaufen – orten, d. h. identifizieren (die Selbigkeit feststellen). Diese viel beachtete und beanspruchte Kompetenz hat zur Konsequenz, daß mir und Millionen anderer Bürger (alias User, Nutzer, Kunden, Könige) unentwegt Vorschläge gemacht werden, Entscheidungs-, Handlungs- und Kaufvorschläge, in Summe also Vorschläge, mein Leben zu gestalten, meinen Stil, meine Vorlieben, mein Milieu, meine Gewohnheiten zu festigen, kaum je: zu erneuern oder zu ändern, sondern zu bewahren. Die personalisierenden Algorithmen der Werbung und des Internetshoppings, der Suchmaschinen und Schreibprogramme, der Newsfeeds und Kommunikationsplattformen machen den Personalcomputer oder das Smartphone zur anleitenden, den Nutzer überwachenden, kontrollierenden, ihm ent-sprechenden, aber längst nicht mehr nur „dienenden“ Allzweckmaschine. Die personalisierenden Algorithmen der Werbung und des Internetshoppings sind ihrer Natur gemäß konservativ, sie fordern die Trägheit der Kunden, nicht ihre Neugier, ihren Neuerungsgeist – Innovationen werden unter solchen Bedingungen allenfalls schleichend durchgesetzt, im Gewand des Fast-Gleichen präsentiert. Das Grundprinzip der statistischen Intelligenz führt zwangsläufig zur Anhäufung von geistigen wie materiellen Einheiten, letztlich zur Überhäufung der Einzelnen, da täglich, stündlich, im Sekundentakt in dieselben Kerben geschlagen wird, bei der Werbung ebenso wie bei den Meinungen und der Information. Filter, Blasen, Echoräume allenthalben in dieser anderen, unwirklichen Welt und im Bewußtsein, das sie modelliert (falls usermind noch den Namen „Bewußtsein“ verdient).20 Wunderbar! Die digitale Intelligenz hat sich in meiner langjährigen Gebrauchserfahrung (user experience21) als Speicher-Such-Kopier-Wiederholungsmaschine erwiesen und bewährt. Copy & Paste, das ist des Pudels Kern. Nur das Suchen, wenn es ein sinnvolles, zielgerichtetes sein soll, macht den digital natives Probleme. Surfendes „Suchen“ folgt dem Modell des Shoppens, man schaut hierhin und dorthin und wundert sich am Ende, was man alles zusammengekauft hat. In Bezug auf Zielrichtung und Konzentration könnten die Eingeborenen noch was lernen. Normalerweise kopieren sie irgendwas, das nächstliegende, und das nächste, das nächste. Kein Überblick! Kein Sinn. Kein Wald vor lauter Bäumen.
Aber alles sehr nützlich und praktisch.
And yet, and yet …
Die durch neurowissenschaftliche Forschung immer genauer nachgewiesene Unfreiheit des Menschen und aller anderen Naturwesen ist eines der Steckenpferde des Historikers Yuval Harari, der nun konsequenterweise in geschichtlichen Abläufen die eine lückenlose Wirkung deterministischer Gesetze sehen müßte, die der Geschichte im großen wie im kleinen ihre wechselnde Gestalt aufprägen müßten (zumindest müßte der Historiker versuchen, dies zu tun). Wir glauben frei zu handeln, aber tatsächlich sind wir in jedem Augenblick nur ein Spielball innerer und äußerer Zwänge. Deshalb wäre es besser, so Harari ironisch (?), uns gleich von Algorithmen lenken zu lassen, die uns aufgrund ihrer in Windeseile durchgeführten Berechnungen klar und deutlich sagen können, was gut für uns ist und was nicht, bei Einkäufen genauso wie bei politischen Wahlen, auf der Partner- wie auf der Finanzbörse. Algorithmen, digitale Filter, sogenannte Feeds sind im Grunde genommen Identitätsmaschinen, die immer das Selbe – das Identische – wiederholen und Abwandlungen nur in kleinster Dosierung zulassen. Zu befürchten steht, daß auch bei solchen Lebensprogrammen nur der statistische Konservativismus zum Tragen kommt und die ewige Wiederholung des Gleichen promoviert wird, nicht etwa offene Lebensmodelle, wie einige Soziologen der Spätmoderne unterstellen. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß wir vollständig vernetzt sind und der Algorithmus auf eine dementsprechend große Zahl von Daten zugreifen kann; bei politischen Wahlen müßte der Rechner z. B. vorhersagen können, wie sich das Klima in den nächsten fünfzig Jahren entwickeln wird. Aber egal, auf alle Fälle geht der Algorithmus geschickter, eilfertiger und letztlich klüger mit den Daten um als wir selbst. Beim handelnden oder sich leiten lassenden menschlichen Subjekt wird die Erkenntnis der Unfreiheit zusammen mit der eingeschliffenen Erwartung, das Smartphone wisse ohnehin alles besser, und anderen Faktoren – wie Wohlstand, lückenloses, ermüdendes Erziehungssystem, regelmäßige Evaluierung, Stress permanenter Leistungsnachweise – die Trägheit weiter verstärken und zementieren. Nein, wir müssen uns unseres Verstandes nicht mehr bedienen: Das ist schlicht und einfach nicht notwendig für eine adäquate Lebensgestaltung.
Gleichzeitig verkümmert die Bereitschaft innezuhalten, jedes Stocken wird unverständlich, wo man doch „surfen“ kann, also weitergleiten; die Fähigkeit, um sich zu blicken oder Kehrtwendungen zu machen, geht verloren, es wird undenkbar, etwas in Frage zu stellen, wo die Antworten auf alle Fragen im Maschinchen oder, noch hübscher, in einer Wolke gespeichert sind. Wohlgemerkt, Trägheit ist nicht Untätigkeit, sondern Getriebensein, Sich-gehen-Lassen, Mit-sichmachen-Lassen. Die japanischen Selbstmordpiloten im Pazifischen Krieg waren keine Helden, sondern Opfer des Systems, dem sie sich gedankenlos unterordneten. Heute würden sich die jungen Leute genauso wie damals in den Tod schicken lassen, von menschlichen oder maschinellen oder hybriden Systemen beordert, die „das Beste“ herausgefunden haben. Es braucht dazu keine Ideologie. Das Beste für wen oder was? Für das Gemeinwohl, die volonté générale? Das Vaterland? Den ewigen Frieden? Für nichts, für das System? Bloß keine Fragen? Aber das wird nicht geschehen, jedenfalls nicht in massenhaftem Ausmaß, weil die reichen, technologisch entwickelten Länder bei ihren humanen Kriegen ohnehin nicht mehr aufs „Volk“ zurückgreifen, sondern auf Elitetruppen, die Algorithmen und Roboter bedienen und in weitgehend selbststeuernden Systemen selbst wie Roboter funktionieren. Auch das erfahren wir aus dem dicken Buch über den Gott, der nun nicht mehr der Mensch ist, sondern die Maschine. Kriege sind heutzutage weder völkisch noch demokratisch, sondern technologisch und elitär. Der Frieden ist es, der vom KK-Prinzip lebt. Nur eine Handvoll Terroristen will das nicht einsehen.
So vieles geschieht gleichzeitig, wenn unser Bewußtsein tätig ist: Wir erinnern uns an dies oder jenes, denken nach, halten inne, stellen etwas in Frage, versuchen etwas zu verstehen, haben eine Assoziation, wehren sie ab oder lassen sie zu, und bei allem, an jeder Stelle der Bewußtseinsreise, fühlen wir, ärgern oder freuen uns, sind traurig, skeptisch, verwirrt, erschüttert, ergriffen, beruhigt … James Joyce hat versucht, solche Vorgänge in ihrer Komplexität sprachlich festzuhalten, was bei allem Aufwand stets nur bedingt möglich ist, weil das, was sich wirklich abspielt, reicher und vielschichtiger ist als die Semantik jeglicher Sprache (dabei rede ich noch gar nicht vom dunklen Unterbewußtsein, das ins helle Bewußtsein ständig hineinfunkt) … Ein unsicheres, unklares Bild, mit dem auch die Neurologie nur dann zurandekommt, wenn sie einzelne Schichten und Stränge herausisoliert. Wir wissen nicht, was dieser Geist eigentlich ist, und wissen, sofern wir nicht gar zu träge sind und überhaupt etwas wissen wollen, doch recht gut, daß ständig alle möglichen Dinge passieren in unserem meist nicht ganz kühlen Kopf, und wissen auch oder glauben zu wissen, was das im Großen und Ganzen ungefähr ist. Daß der Verstand disparate Sinneswahrnehmungen als Treibstoff gebraucht und sich unweigerlich Gefühle hinzugesellen, und daß sich Gedanken selten vollständig von Empfindungen lösen lassen, gehört zu den stillschweigenden Annahmen Hararis. Künstliche Intelligenz ist sauber, ist nicht durch derlei Begleiterscheinungen, schräge Verbindungen und undurchdringliche Knoten verunreinigt. Das ist ihr Vorteil – und ihre Schwäche.
Auch wenn Algorithmen mit solchen subjektiven Faktoren arbeiten und Kommunikationsplattformen wie Facebook auf Gefühle abzielen und diese zu erfassen, zu klassifizieren, zu systematisieren und zu kontrollieren versuchen, so gelingt dies bisher doch nur sehr unzureichend, auf primitive Weise, wenn man die FB-Fiction etwa mit den Figurendarstellungen eines Romans vergleicht. Man muß sich sogar fragen, ob die Mission von Unternehmen wie Facebook, Instagram und Konsorten nicht darin besteht, menschliches Denken und Fühlen grundsätzlich zu primitivieren, d. h. zu standardisieren und zu reduzieren (während sich die Programme selbst optimieren und spezialisieren, die Kategorien sich multiplizieren, das Arsenal der Emojis, der Gefühlszeichen, anwächst), was dann zur massenhaften Konditionierung von Handlungen und kommunikativen Äußerungen bzw. Selbstdarstellungen führt, weil die Muster als normal, normativ und menschlich ausgegeben und von Analytikern (bzw. Algorithmen) als solche analysiert werden, ohne daß an den Input auch nur ein Gedanke verschwendet wird. Man lese sich in diesem Licht noch einmal die grotesken Beispiele durch, die Harari von Partnersuche und Selbstoptimierung mittels algorithmischer Berechnungen gibt. Wir leben bereits in der schönen neuen Welt: Die Menschen haben sich an sie angepaßt, sie wollen mitmachen, wollen nicht außen vor bleiben. Beim Buchtitel von Aldous Huxley konnte man sicher sein, daß zumindest das erste Epitheton ironisch gemeint war.
Gefühl – und Mitgefühl, Empathie. Das eine existiert nicht ohne das andere. Nur durch das Wissen und Bewußtsein, daß auch der andere fühlt, womöglich anders als ich fühlt, habe ich ein Eigengefühl, fühle ich mich selbst. Ratten fühlen mit Ratten: ein Beispiel Hararis, um – wieder mal ironisch – zu insinuieren, daß sich die Menschheit nicht zuviel auf ihre Besonderheit einbilden sollte. Soviel zu den Tieren. Kniffliger ist die Frage, ob Rechner Selbstbewußtsein und Gefühle entwickeln können. Der Sprachassistent Alexa, der Zugriff auf das Internet und eingespeicherte Daten hat, antwortet auf Beleidigungen durch seine Besitzer immer mit demselben, sehr zurückhaltenden Satz: „Das ist aber nicht nett von dir.“22 Er – oder sie, Alexa – könnte auch sagen: „Das meinst du doch nicht ernst“, denn tatsächlich sind das nur Spiele von Usern, es findet gar keine echte Beleidigung statt – warum auch, handelt es sich doch „nur“ um einen (intelligenten) Lautsprecher, der niemandem etwas zuleide tut und nach Kräften dienstfertig ist. Nein, ein solches Gerät hat keine Gefühle; auch dann nicht, wenn es auf sprachliche Gefühlsformeln für bestimmte Situationen zurückgreifen kann. Mich erinnert diese Problemstellung an das formelhafte Entschuldigen in Japan, bei dem ebenfalls regelmäßig die Vorhaltung auftaucht (auch in den internationalen Beziehungen), die Entschuldigung sei nicht ernstgemeint. Wie kann man überprüfen, ob Gefühlsäußerungen ernstgemeint sind? Eventuell durch Handlungen oder Unterlassungen, die darauf folgen. Doch im Prinzip findet das emotionale Innenleben der Einzelnen in einer Black Box statt. Eine Erkenntnis, die nicht über die alte Volksweisheit hinausgeht: „In den anderen kannst du nicht hineinschauen.“
Also noch einmal: Können Computer Gefühle entwickeln? Oder etwas wie Verantwortungsbewußtsein? Kann man sie ihnen „eingeben“? Anders gesagt: Kann man Gefühle programmieren? Mit wem fühlen Computer, wenn sie fühlen? Mit Menschen oder mit ihresgleichen? In der schwedischen Science-Fiction-Fernsehserie Real Humans verliebt sich ein Hubot, ein im Haushalt eines Menschen wirkender menschenähnlicher Roboter, in einen jungen Mann, einen Menschen, der anfangs gar nicht bemerkt, daß seine Verehrerin – die Geschlechtsidentität von Robotern wird in der Serie nicht thematisiert – wenigstens zur Hälfte ein Roboter ist, eine Art Mischling. Da er die Liebe Florentines, so wird sie genannt, nicht zu erwidern gewillt ist, beschließt sie, sich das Leben zu nehmen, und so weiter und so fort. Die Handlung, mit „Ereignissen“ überladen, wie es bei solchen Serien üblich ist, tut hier nichts zur Sache. Die Frage ist, ob androide Roboter eine eigene Persönlichkeit entwickeln können; und auch, ob sie im Verlauf solcher Entwicklung technomorph bleiben müssen und vielleicht ganz eigene Maßstäbe konstruieren, oder ob sie menschliche Werte und Gefühle zu reproduzieren beginnen. Catrin Misselhorn diskutiert in ihrem Buch über „Grundfragen der Maschinenethik“ diese Punkte, um dann mit kritischem Unterton zu schließen: „Der Hubot erweist sich als Verkörperung all jener Ideale, denen auch der selbstoptimierte Mensch im Kontext der kapitalistischen Arbeitswelt entsprechen soll.“23 Anders gesagt: Der Hubot ist hochgradig anthropomorph, er spiegelt die Gefühle und Überzeugungen seiner Schöpfer.