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Die größte Befreiungstat aller Zeiten, die nie ein Mensch für die Menschheit gefunden hat: Jeder im Staate ohne Ausnahme ist gesichert für Wohnung samt Einrichtung, Nahrung, Kleidung, ärztliche Hilfe und Krankenpflege.
Keine Mutter wird mehr von der Sorge zerfressen werden: Wo nehme ich für den nächsten Tag Brot für meine Kinder; kein alter Arbeiter wird mehr denken: Wohin lege ich mein müdes Haupt, wenn das Asyl für Obdachlose geschlossen ist.
Die allgemeine Nährpflicht wird Selbstverständlichkeit, wird Gesetz geworden sein. Es wird nicht mehr denkbar sein, daß Menschen das, was sie unbedingt zum physischen Leben haben müssen, nicht bekommen sollten.
Popper-Lynkeus wird es erleben. Es wird das Wunder geschehen, daß einer der größten Gedanken, der je von einem der größten Menschen gedacht wurde – verwirklicht werde.
Wie könnte es anders sein! Das wirtschaftliche Programm der Sozialdemokraten, wenn es eines gäbe, führt nicht aus dem Chaos.
Es ist einfach und klar wie der Tag: Nur das Gesetz der allgemeinen Nährpflicht kann Lösung und Heil der Zukunft sein.
Im Zimmer ist es finster geworden. Josef Poppers Augen schauen mich ernsthaft an.
In der Sofaecke lehnt der große Denker und Menschenbeglücker, leuchtet Lynkeus’ blasses Gesicht aus dem Dunkel.
BILDER DES ELENDS. RACHITIS

Neues Wiener Journal, 9. März 1919
Es kann nicht oft genug geschildert werden, in welchem Grade der Not Menschen leben.
Unmenschlich hart ist der Leidensweg einer Mutter mit ihrem rachitischen Kind auf dem Arm!
Die Rachitis ist eine Volkskrankheit, welche der Armut, der Sonnenlosigkeit, der unsozialen Bauart entspringt.
Es gibt viele tausend Häuser mit Kellerwohnungen in allen Bezirken Wiens. Wenn man diese Häuser besucht, fällt vor allem eines auf: Die Ausnutzung des Raumes ist bis ins Fanatische gesteigert. Es gibt Häuser, in denen mehr als hundert Kinder leben. Ich habe vor zwei Tagen in der Brigittenau ein Haus gesehen, es ist das Doppelhaus Rauscherstraße 8/10, in dem nie Stiegen gekehrt werden, ein Hof, in dem vier Fensterfronten von vier Stockwerken gehen, ist ein einziger Kehrichthaufen; alle Parteien des Hauses entladen in diesen Hof – wahrscheinlich durch die Fenster – den Mist. Eine Straßenreinigung gibt es in diesen Gegenden überhaupt nicht, es wurde mir gesagt, der »Mistbauer« komme oft wochenlang nicht. Wie der Gesundheitszustand dieser Menschen aussieht, bei denen die zehn Plagen der alten Ägypter zu Hause sind, läßt sich denken. Von den Kindern aber sind fast alle rachitisch. In den größten Kinderkrankenanstalten, wo ich meine Studien der rachitischen Kinder machte, sagten mir die Ärzte, es gehörte zu den größten Seltenheiten, einmal ein Proletarierkind zu sehen, das ganz ohne Rachitis wäre.
Die Behandlung dieser rachitischen Kinder in den Spitälern ist – das muß gesagt werden – eine Farce, eine Komödie. Man kann es nicht begreifen, wie überhaupt sich Ärzte finden, die sich zu derartigem hergeben; daß nicht alle die Arbeit hinhauen und davonrennen. Ihr ganzes »Ordinieren«, die ganze »Ambulanz« ist für nichts. Die Ärzte können nicht helfen! Sie schauen die Kinder an; sie verschreiben Heilmittel, die nicht zu bekommen sind, Milch, die nicht zu bekommen ist. Sonne, Luft und Nahrung, dies alles ist nicht zu haben. Was also geschieht mit den Kindern? Nichts. Sie sterben auch nicht. Wenn nicht durch ein besonderes glückliches Eingreifen der Natur eine Diphterie oder Lungenentzündung eintritt und rasch einem unglücklichen Leben ein Ende macht, wachsen diese Kinder heran und erreichen sogar ein oft recht hohes Alter. Wie aber sieht das Leben solcher Menschen aus? Mit Ausnahme des Aussätzigen (Lepra) kann man sich keinen körperlich und seelisch unglücklicheren Menschen denken, als einen durch Rachitis in der Kindheit Verunstalteten. Durch äußere Deformation bleibt er für sein ganzes Leben ein Gezeichneter. In der Kindheit die Sorge und Qual der Mutter, wird er im schulpflichtigen Alter das Gespött der Kameraden, das Ziel grausamer Kindertyrannei, unfähig zum frohen Spiel, unfähig zum ernsten Lernen, wächst das Kind in das Jugendalter hinein. Es kann keinen Beruf finden, wo Körperkräfte nötig wären; es ist von vornherein bankrott. Unlust und Menschenscheu treiben es zur Grübelei und zur Schwermut. Es kommt die Zeit der Geschlechtsreife, der klopfenden Herzen, des stürmischen Blutes. Das verunstaltete Geschöpf muß einsam gehen. Das Mädchen oder der Mann, den es liebt, nimmt jemand anderen. Jahre des Grames, der Not, der Verlassenheit bringen vorzeitiges Altern, allgemeine Entkräftung, eine müde Bettlergestalt sucht und findet den einzigen Freund in dem Tod, der spät, aber doch kommt. Dies ist der gewöhnliche Verlauf des Lebens eines Kindes armer Leute, dessen Rachitis nicht zur Heilung kam, und das sein Gebrechen durch ein ganzes Dasein schleppen mußte, jede Stunde ein Fluch, jeder Tag eine Hölle.
Wir träumen von der Gleichheit aller Menschen, wenn einmal der kämpfende Sozialismus der siegende wird.
Von Geburt sind wir alle gleich. Alle waren einmal nackte, hilflose Kindlein. Von der Wiege bis zum Grabe ist nur eines für den Menschen entscheidend: Lebt er in der Atmosphäre des Kapitals oder in der Atmosphäre des Elends. In der Atmosphäre des Kapitals bedeutet: Es ist genug Geld da, dem Menschen durch die Zuführung von Nährwerten die Gesundheit seines Körpers zu geben und zu erhalten; Bildungsmöglichkeiten sind da, eine Fülle der Freude, des Vergnügens, der Feste; hat es eine Begabung, es kann sie in Ruhe ausbilden, ist es ehrgeizig, die höchsten Stellen stehen ihm offen.
Wie ganz anders der Arme, dessen Kindheit schon korrumpiert ist, der, von Hunger und Kälte gequält, im Lasterpfuhl heranwächst, nichts anderes kennt, als sich zu verlaufen, seine Seele, sein Herz, seine Lungen, das Mark seiner Knochen und – wohin verlaufen? –, um immer für den nächsten Tag den ärgsten Hunger stillen zu können. So leben Millionen Menschen auf der ganzen Erde. Freudlos, hoffnungslos. Ihre Kindheit ist angefüllt mit Prügel, ihre Jugend mit Schreckensträumen, ihre Mannheit mit harter Arbeit, mit der planmäßigen Ausnutzung ihres Leibes, mit der Schändung ihres Menschentums; ihr Alter ist Gram und Sorge; wenn Krankheit dazu kommt, wohl die scheußlichste Tragödie Mensch, die sich denken läßt. So werden Millionen Menschen auf der ganzen Welt dem Kapitalismus geopfert.
Die dynastischen Regierungen der Jahrhunderte haben die Menschheit verwüstet; die Eroberungssucht und Raubgier der Monarchen haben die nationalen Schranken aufgerichtet; der Haß der Länder untereinander ist erwacht.
Der Glanz und die Macht des Thrones haben den Ehrgeiz der Schurken geweckt. Das Geld hat regiert! Man konnte sich Würden und Orden kaufen; man hatte einen Titel und war wer! Man konnte auf den anderen herabsehen: Wer bist du eigentlich?!
Und die Massen mußten für die einzelnen die Reichtümer erarbeiten. Mit den Opfern ihres Lebens und des Lebens ihrer Kinder. Von allen Staaten am schlechtesten bestellt war es um den österreichischen.
Einem Greis mit getrübtem Verstande war das Schicksal der Millionen bedenkenlos in die Hand gegeben. Die Rührseligkeit, die man einem verkalkten alten Mann durch Jahre entgegenbrachte, die Sucht, in seine Nähe zu gelangen, ihm zu gefallen, ihm zu dienen, sengte alle Energien auf, die an die Völker gewandt werden sollten. Jubiläumsfestzüge, eucharistische Kongresse, Jagdausstellungen (im Rahmen des allerhöchsten Jagdherrn) mit ihrer Unmenge von Kosten waren die größten Sorgen, die man hatte, während die Massen des Volkes wie in einem Kerker lebten.
Die Sozialdemokratie war noch jung und zaghaft. Sie hatte erst ein Lichtlein gesehen.
Es soll anders werden. Heute rückt der Sozialismus immer mehr mitten in die strahlende Sonne. Und der Sozialismus verlangt menschliche Wohnungen für alle, ein bißchen Freude, ein bißchen Ausruhen, ein bißchen Glück für alle! Und es muß endlich der Anfang gemacht werden.
Es gibt kranke, verkrüppelte Kinder, aus denen kranke, verkrüppelte Menschen werden, weil sie ohne Hilfe bleiben.
Wir haben das Schloß Schönbrunn, das das Projekt eines Unternehmens für Kinder ist. (Man denke an die herrliche Sonne der Tirolwiese.) Schönbrunn könnte eine geeignete Heilstätte für rachitische Kinder werden.
Die Ausrede, es wären keine Mittel da, gilt nicht. Es gibt angehäufte Millionen. Ohne Anarchie und ohne Bruderkrieg, bloß aus innerster Überzeungung, auf dem Wege der Vernunft, haben die Besitzer der Millionen zu einer entsprechenden Vermögensabgabe verpflichtet zu werden. In aller Güte und Freundschaft sei ihnen nur das Beispiel hingestellt: die Mutter aus der feuchten Kellerwohnung – eine von Tausenden – in grenzenlosem Hunger und Elend und ein Millionär im Übermut des Überflusses – ist das nicht ein elementares Beispiel? Müßte der Millionär sich nicht schämen seines Geldes, wenn er erführe, daß er in derselben Stadt mit verhungerten, kranken Menschen zusammenwohne, die Menschen sind, von einer Mutter geboren, wie er!
Wir haben Schönbrunn, wir haben Besitzer angehäufter Vermögen, wir haben Arbeitslose, die auf Arbeit warten; wir haben rachitische Kinder, deren kranke, erweichte Knochen nach der Sonne lechzen: Wie nahe läge da die Tat!
ZWEI DICHTER

Neues Wiener Journal, 20. März 1919
Ich war acht Jahre und ging in die Volksschule. Eines Tages kam der Herr Oberlehrer in unsere Klasse und sagte: Morgen kommt ein Dichter und wird euch Geschichten erzählen. Zieht eure Sonntagskleider an. Die Reichen haben fünf Kreuzer zu zahlen, die Ärmeren drei, die noch Ärmeren zwei und die ganz Armen brauchen gar nichts zu zahlen.
Sonntagskleid hatte ich keines. Dafür wurde mir der Ärmel geflickt. Ich weinte von sieben bis acht Uhr früh um die zwei Kreuzer, die ich dem Dichter geben wollte. Endlich bekam ich sie und lief noch mit dem letzten Schluchzen davon.
Eben gingen die Klassen hinunter in den Turnsaal, ich kam noch gerade zurecht, um mich anzuschließen.
Mehr als zweihundert Kinder waren versammelt, viele in Sonntagskleidern, aber manche nur ausgeflickt, wie ich.
Der Herr Oberlehrer selbst ging absammeln. Ich gab fiebernd vor Scham meine zwei Kreuzer her; ich hätte dem Dichter so gern drei Kreuzer gegeben. Damals fühlte ich zum erstenmal, wie schmachvoll es ist, arm zu sein.
Der Dichter war schon da. Man hatte einen Tisch in den Saal tragen lassen, einen Sessel, ein Glas Wasser.
Ja, ja: So sah ein Dichter aus, ich stand weit rückwärts und mußte auf den Fußspitzen stehen, um ihn zu sehen; aber nach und nach schlich ich näher, an der Wand hin, bis ich knapp vor ihm in der allerersten Reihe stand, bei den Großen der fünften Klasse.
Ich sah, wie der Herr Oberlehrer das Geld aus dem Hut nahm und es dem Dichter mit einer Verbeugung überreichte. Es waren lauter Kupferkreuzer. Der Dichter zog einen Lederbeutel aus der Tasche, der aussah wie ein Tabakbeutel, und tat das Geld hinein – dann begann er, uns Geschichten zu erzählen. Es kam mir wunderschön vor und ich weinte vor Rührung. An die Geschichte von dem Löwen, der im dunklen Walde, vom Hunger getrieben, für sich und seine Kinder – er sagte nicht Junge, sondern Kinder – die nichtsahnenden Schafe bei der Tränke überfiel und zerriß – an diese Geschichte erinnere ich mich noch heute; und es klang wie Glockengeläute, wenn er sagte: »Und es erschallte durch den dunklen Wald das Brüllen des Löwen, der die friedlichen Schäfchen überfallen und getötet hatte, um seinen Kindern – er sagte immer nur Kindern – den Raub in die Höhle nach Hause – er sagte nach Hause – zu bringen, damit sie ihren Hunger stillten.
Dann kam etwas Heiteres: von einem schlimmen Buben, der seinem armen kranken Nachbarn, der ihn verlangend ansah, nicht die Hälfte von seinem Mohnstrudel geben wollte. Was geschieht? Die Katze kommt und schnappt das ganze große Stück weg. Das war in Versen erzählt.
Auf mich machten diese »Dichtungen« einen mächtigen Eindruck, und damals kam es mir zum erstenmal in den Sinn, selbst kleine Erzählungen zu erfinden; die Phantasie war geweckt.
Ich sehe noch heute den Dichter vor mir, wie er dastand, sein trauriges Gesicht glänzte vor Blässe, die langen, schwarzen, angefetteten Haare und der lang herabhängende Schnurrbart gaben ihm das Aussehen eines Zigeuners aus einem Bilderbuch. Er trug ein ziemlich abgetragenes, schwarzes Feiertagsgewand mit langem Gehrock und schwarzer, fliegender Halsbinde.
Wenngleich ein Dichter war er eine recht klägliche Figur mit seinem zerknüllten alten Hut, in dem die Kreuzer eingesammelt wurden.
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