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»Keine Sorge. Das Schlimmste haben Sie überstanden, Herr Mester. Ich komme morgen wieder vorbei. Dann besprechen wir mit Robert2 noch alles für seinen ersten Arbeitstag am Montag. Ich habe Ihnen meine Nummer hinterlassen, wenn Sie mich kontaktieren möchten. Wundern Sie sich nicht, wenn es etwas länger dauern wird, mich zu erreichen. Die Nummer ist nicht auf meinen Namen zugelassen, so dass Ihr Anruf ein paar Umwege machen muss, um mich zu erreichen.«
»Klar«, sagte Robert. »Muss ich noch an etwas denken - ihn betreffend?«
»Nein, er ist kein kleines Kind. Er ist Sie. Er kann alleine zur Toilette gehen und muss nicht zum Schlafengehen zugedeckt werden. Lassen Sie ihn einfach machen. Er wird sich ganz unauffällig verhalten.«
»Natürlich.« Robert grinste unsicher.
»Bis morgen dann.«
»Gut. Und danke.«
Robert ließ Hendrik aus seiner kleinen Wohnung und schloss die Tür ab. Er ging zurück zum Wohnzimmer und setzte sich in einigem Abstand auf die Couch. Robert2 saß auf seinem Lieblingsplatz. Auf seinem Lieblingsplatz. Sollte er ihm das sagen?
Als hätte er seine Gedanken gelesen, fragte Robert2 plötzlich: »O, ich sitze auf deinem Platz. Soll ich mich woanders hinsetzen?«
»Nein, nein. Es macht mir nichts aus. Mir egal, wo ich sitze.«
Robert2 wusste ganz genau, dass es ihm etwas ausmachte, und dass es ihm nicht egal war, wo er saß.
»Sicher?«
»Ja. Bleib ruhig sitzen.« Robert saß steif da und faltete seine Hände. Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.
»Stimmt was nicht?«, fragte sein Klon.
»Nein. Ich sitze nur neben meinem eigenen Klon. Alles ganz normal.«
Robert2 lächelte milde. »Hey, für mich ist das auch merkwürdig.«
»Ach ja?«
»Na sicher. Ich meine, ich weiß, dass ich nicht du bin. Aber dennoch bin ich es. Es fühlt sich jedenfalls so an. Es ist ein wenig verwirrend, findest du nicht auch?«
»Ja, ziemlich verwirrend.«
»Das Einzige, was uns beide voneinander unterscheidet, ist, dass du gehen wirst und ich bleiben werde. Das ist alles«, sagte sein Klon.
»Stimmt. Und das ist in Ordnung für dich?«
»Ja, ist es. Ich kenne deinen Wunsch auszuwandern und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ich teile diesen Wunsch sogar, weil ich genauso denke wie du. Aber ich bin dafür gemacht, zu bleiben und dein altes Leben zu übernehmen.«
»Weil du so..., wie soll ich es sagen, programmiert wurdest?«
»Ich denke schon. Ja.«
Schweigend schauten sie beide zum dreidimensionalen holographischen Fernsehbild. In der Diskussionsrunde ging es wieder einmal um die angebliche Diskriminierung genetisch aufgewerteter Menschen durch Menschen ohne genetische Aufwertung - also durch Menschen wie Robert. Dieser Vorwurf wurde von Parteimitgliedern der Sprung-Evolutionären immer wieder ins Feld geführt. Die Wahrheit war aber eine andere: Genetische Aufwertungen waren mittlerweile in vielen Bereichen möglich. Leistungsfähigkeit des Menschen, Auffassungsgabe, Intelligenz, Stärke, Ausdauer, seelische Belastbarkeit, verbesserte Immunabwehr, soziale Kompetenz - all das und noch viel mehr war durch aufwändige genetische Optimierungen für die Geburt eines Kindes möglich. Allerdings war sie auch noch extrem teuer. Der Staat übernahm nur im Bereich Gesundheit vereinzelte Maßnahmen zur Veränderung des Genoms des Wunschkindes der Eltern. Der Rest war eine Frage des Geldbeutels.
Eltern, die keine hohen Summen in komplizierte Genveränderungen investieren konnten, um ihrem Kind im späteren Leben Vorteile und Erleichterungen zu verschaffen, mussten sich entweder damit abfinden und im besten Fall ein normal begabtes Kind zur Welt bringen. Doch wer wie Robert oder auch Hendrik genetisch nicht optimiert wurde, hatte es insbesondere in der Arbeitswelt sehr schwer, sich gegen die aufgewerteten Menschen zu behaupten. Neben den finanziellen Aspekten war auch dies ein weiterer Grund, warum so wenige Menschen der B-Gesellschaft Kinder haben wollten.
Immer wieder wurde daher darüber debattiert, ob genetische Aufwertungen nicht allen zur Verfügung stehen müssten, oder niemandem. Denn das System, so wie es jetzt war, sei ungerecht. Die Sprung-Evolutionären nahmen diese Kritik immer wieder zum Anlass, ihre Klientel - die genetisch Aufgewerteten - als diskriminiert zu betrachten. Es sei eine reine Neid-Debatte, so auch der Vertreter jener Partei, den die beiden Roberts gerade im Holoprojektor sahen.
Die Sprung-Evolutionären waren zunächst als reine Populisten abgestempelt worden, gewannen jedoch über die Jahre hinweg immer mehr Befürworter und einflussreiche Gönner. Bei den letzten Wahlen waren sie bereits drittstärkste Kraft, obwohl ihre Zielgruppe quantitativ klein war. Die Grundthese der Partei der Sprung-Evolutionären war, dass die aufgewerteten Menschen mittlerweile so weit 'optimiert' waren, dass sie quasi einen Sprung in der Evolution gemacht hatten; daher der Parteiname.
Ihre Kritik am jetzigen politischen System und der Gesellschaft richtete sich vornehmlich gegen die angebliche Besserstellung und Bevorzugung nicht optimierter Menschen, die sich hauptsächlich in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen befänden und durch ihre zahlreichen Beschränkungen das Land und seine Wirtschaft in ihrer Entwicklung hemmen würden.
Sie forderten mehr oder weniger die weitgehende Kontrolle wesentlicher Funktionsbereiche in Politik und Wirtschaft durch genetisch optimierte Menschen. Einige besonders radikale Vertreter der Partei schreckten auch nicht davor zurück, nicht aufgewertete Menschen als genetisch behindert zu bezeichnen. Stoff für harte Auseinandersetzungen und eine idiotensichere Methode, als Partei immer im Gespräch zu bleiben.
»Ich hasse diese Sprung-Evolutionären«, sagten Robert und Robert2 auf einmal wie aus einem Munde, nachdem sie der Diskussion eine Weile zugehört hatten. Erstaunt sahen sie sich an. Sie hatten dasselbe gedacht, zur gleichen Zeit.
»Das ist irgendwie unheimlich«, sagte Robert und musterte sein Ebenbild skeptisch.
»Das ist es. Aber wir müssen uns ja nicht lange gegenseitig mit unserer Anwesenheit gruseln. Bald wirst du deinen Chip bekommen, dann wird uns unsere gemeinsame Zeit wie ein konfuser Traum vorkommen.«
Robert grinste und entspannte sich. Er musste sich nicht unwohl fühlen. Neben ihm saß kein Fremder, sondern er selbst. Vor sich selbst brauchte man sich doch nicht zu fürchten. Oder?
»Was Nicole wohl dazu sagen würde«, murmelte Robert2, während er die Talk-Show weiter verfolgte.
»Was?« Bei dem Namen 'Nicole' gingen bei Robert die Alarmglocken an; er konnte es nicht verhindern.
»Ich meinte nur, wenn Nicole uns hier sehen könnte. Der doppelte Robert, im Zwiegespräch mit sich selbst.«
»Sie würde in Ohnmacht fallen«, sagte Robert.
»Ja, genau«, lachte Robert2.
Lass bloß die Finger von ihr!, hörte sich Robert in Gedanken sagen und war überrascht über seine Reaktion. War er jetzt neidisch auf seinen Klon? Dazu gab es überhaupt keinen Grund. Hendrik hatte ihm versichert, dass Robert2 keine Liaison mit irgendjemandem eingehen würde. Also auch nicht mit Nicole.
Auch wenn er für den Rest des Wochenendes versuchte, sich abzulenken, ließ ihn der Gedanke nicht mehr los, dass Robert2 sich fortan mit Nicole jede Woche treffen würde. Es missfiel ihm zutiefst. Er redete sich ein, dass er es bald vergessen haben würde, wenn er erst einmal in seiner neuen Heimat lebte. Und dennoch konnte er sich eines intensiven kaum abzuschüttelnden Eindrucks nicht erwehren:
Er mochte Robert2 nicht.
Kapitel 6: Der Schatten des Zweifels
Das Wochenende verging ohne besondere Vorkommnisse. Robert ging seinem Klon die meiste Zeit aus dem Weg, auch wenn das in seiner kleinen Wohnung nicht gerade einfach war. Robert hatte viel geschlafen, weil er sich nach dem Eingriff immer noch müde und erschöpft gefühlt hatte.
Wie versprochen kam Hendrik am Sonntag noch einmal vorbei. Zu dritt besprachen sie den kommenden ersten Arbeitstag für Robert2. Dem musste aber eigentlich nichts erklärt werden, da sein Wissen und seine Erinnerungen lückenlos und vollumfänglich mit denen von Robert übereinstimmten.
»Das Wichtigste ist, dass Sie sich nicht in der ersten Arbeitswoche überanstrengen«, sagte Hendrik zum Klon. »Ihr transplantierter Chip und Ihr Gehirnimplantat sind neu in Ihren Organismus integriert. Ihr Körper selbst ist auch brandneu und muss sich erst daran gewöhnen, auch wenn Sie jetzt nichts davon merken. Überanstrengung kann negative Auswirkungen haben. Also übertreiben Sie es nicht.«
»In Ordnung. Nach meinem letzten Schwächeanfall und dem anschließenden Besuch bei der Betriebspsychologin-KI werde ich garantiert keine Risiken eingehen«, antwortete Robert2, als er seinen Irrtum bemerkte. »Ich meine, nach deinem letzten Schwächeanfall«, korrigierte er sich und sah Robert entschuldigend an.
Hendrik machte für einen kurzen, kaum wahrnehmbaren Moment ein ernstes Gesicht, entspannte sich dann aber sofort und sagte zu Robert2: »Das kann schon für Sie beide verwirrend sein, nicht wahr? Wer jetzt wer ist, meine ich. Aber letztlich sind Sie ja ab heute Robert Mester. Und es sind keine fremden Erinnerungen an vergangene Ereignisse, sondern ab sofort Ihre eigenen, das müssen Sie sich immer wieder klarmachen. Wenn Sie nach draußen gehen, sind Sie von nun an der echte Robert Mester.« Dann wandte er sich an Robert. »Und Sie werden schon bald eine neue Identität bekommen. Und zwar so lange, wie wir brauchen, um Sie nach Kamtschatka zu bekommen.«
Robert nickte. »Wird schon schiefgehen.«
»Gut. Ich melde mich Ende der Woche wieder.« Hendrik verabschiedete sich und ging.
»Na schön. Dann viel Glück morgen«, sagte Robert zu seinem Klon, nachdem er die Wohnungstür hinter Hendrik verriegelt hatte.
»Glück brauche ich nicht. Ich will nur, dass uns nichts dazwischen kommt.«
»Das meinte ich.« In Gegenwart seines Klons fühlte sich Robert nach wie vor unsicher. Er würde die Stunden zählen, bis Hendrik endlich mit seinem neuen Überwachungschip aufkreuzen und ihm sagen würde, dass sie endlich aufbrechen könnten.
Der erste Arbeitstag verlief für Robert2 völlig problemlos. Wie empfohlen, versuchte er, alles ruhig angehen zu lassen, ohne dabei der ständigen Arbeitskontrolle negativ aufzufallen. Auch seine Kollegen schöpften nicht den geringsten Verdacht. Im Gegenteil: Er hatte sogar den Eindruck, dass man ihn mehr als üblich ignorierte. Wahrscheinlich wollte keiner von Roberts schlechten Bewertungen in Mitleidenschaft gezogen werden. Nichts steigerte die Arbeitsmoral mehr als das stetig über einem schwebende Damoklesschwert namens Kündigung.
Am Abend erstattete er Robert ausführlich Bericht. Robert selbst erging es in den Stunden, in denen er allein in seiner Wohnung ausharren musste, wesentlich schlechter. Ständig waren ihm Gedanken gekommen, dass sein Klon auffliegen könnte, und die Polizei jede Minute seine Wohnung stürmen könnte. Er fragte sich, wie er das noch wochenlang aushalten sollte. Robert2 beruhigte ihn, so gut es ging. Er machte sich weniger Sorgen, zeigte aber für Roberts Ängste - gleich, ob sie denn real oder eingebildet waren - Verständnis.
»Mach dir nicht so viele Gedanken. Es läuft doch alles nach Plan.«
»Hm.« Robert sah aus dem Fenster. Einige Flugtaxis sausten in der Ferne vorbei. Der Gedanke, nicht herausgehen zu können, war nur schwer zu ertragen. Und er hatte noch nicht einmal einen Tag geschafft.
Der Dienstag verlief ebenso wie der Vortag reibungslos. Robert machte sich weniger Sorgen. Er fühlte sich schon deutlich besser. Am Mittwoch wunderte er sich am Nachmittag zunächst, dass sein Klon zu spät von der Arbeit kam, bis ihm dann wieder einfiel, dass er sich mit Nicole treffen würde. Eine unangenehme Vorstellung, die ihn bis zum Abend, als Robert2 wieder nach Hause kam, nicht mehr losließ.
»Und?«, überfiel er seinen Klon, als dieser endlich in die Wohnung trat und erschöpft wirkte.
»Und was?«
»Wie lief das Essen mit Nicole?«
Robert2 zuckte leicht mit den Achseln. »So wie immer. Sie hat sich wieder ziemlich aufgeregt über ihren neuen Maschinen-Kollegen, der alles so viel besser macht als sie. Sie tut mir leid, weißt du? Schade, dass sie nicht mit dir mitgehen wird. Das wäre besser für sie gewesen.«
»Ich weiß. Ich habe alles versucht, sie zu überzeugen, aber es hat nicht geklappt.«
»Was hast du denn schon versucht?«, warf ihm Robert2 überraschend vor, während er seine Jacke aufhing und danach zum Bad ging, um sich die Hände zu waschen.
»Wie bitte?« Robert folgte ihm wütend.
»Na, ich an deiner Stelle hätte nicht so ein großes Geheimnis aus deinem Vorhaben gemacht. Du hättest ihr von dem Erbe erzählen sollen. Du hättest ihr sagen sollen, dass du gehen wirst. Du hättest sie vor vollendete Tatsachen stellen sollen. Dann wäre sie auch mit dir gegangen.«
Robert konnte nicht glauben, was sein Klon ihm vorwarf. »Du an meiner Stelle? Das ist wohl ein Witz! Du bist ich, schon vergessen?«
»Nein. Aber behaupte doch bitte nicht, du hättest alles getan. Das ist doch Schwachsinn. Du hast dich nicht getraut, das ist alles. Ich weiß das. Und du weißt das. Du willst es dir nur nicht eingestehen.«
Robert schwieg. Er war empört, weil er insgeheim wusste, dass sein Klon recht hatte.
»Verzeih mir. Ich wollte dich nicht wütend machen. Aber ich betrachte das eben aus einer anderen Perspektive. Im Nachhinein würde ich sagen, dass du dich falsch verhalten hast. Aber jetzt ist es leider zu spät.«
»Ja, allerdings. Danke für den Klugscheißer-Kommentar. Ich weiß selber, dass es anders hätte laufen können. Aber denk bitte auch mal an das Risiko, das ich eingegangen wäre, wenn ich ihr von dem Erbe und dem Klon erzählt hätte.«
»Was denn für ein Risiko? Sie hätte niemandem etwas gesagt, selbst wenn sie es gewusst hätte.«
»Ja, aber falls irgendetwas schiefgeht, kann man auch gegen ihren Willen nichts aus ihr herauskriegen, wenn sie nichts weiß. Und zwar nur, wenn sie nichts weiß. Das ist daher auch zu ihrer eigenen Sicherheit, dass ich mich so entschieden habe.«
Robert2 hob die Augenbrauen, was soviel sagen sollte wie: Deine Meinung.
»Außerdem wäre sie nicht mitgekommen, selbst wenn ich es so gemacht hätte, wie du gesagt hast. Sie sagte, sie sei nicht bereit, mit dem Risiko zu leben, verfolgt zu werden. Hast du das vergessen?«
»Schon gut. Ich meinte ja nur. Lassen wir das Thema.« Robert2 ging in die Küche und holte sich etwas zu trinken aus dem Kühlschrank.
Robert empfand seine Reaktion als maßlos arrogant. Sein Klon wollte bestimmen, wann die Diskussion beendet war? Für wen hielt er sich? Robert wollte sich aber nicht weiter aufregen. Er müsste ja nicht ewig mit ihm zusammenleben. Er ging seinem Klon für den Rest des Abends aus dem Weg.
Nachts konnte er nicht einschlafen, weil er sich so ärgerte. War mit dem Klon wirklich alles in Ordnung? Er würde Hendrik bei seinem nächsten Besuch darauf ansprechen.
Kapitel 7: Das eigene Ich
Hendrik besuchte Robert erst über eine Woche später. Robert war allein zuhause. Sein Klon verspätete sich - schon wieder. Also waren sie allein.
»Ist der neue Ortungschip für mich schon fertig?«
»Noch nicht. Die meisten Anpassungen für Ihren Organismus sind schon vorgenommen. Eine Woche noch, vielleicht auch zwei.«
»Geht es dann auch endlich los?«
»Nein, Ihr Chip muss sich erst noch anpassen, ehe wir mit Ihnen nach draußen gehen können. Außerdem hängt Ihre Flucht aus dem Land noch von einer Reihe anderer Faktoren ab. Haben Sie Geduld. Es soll doch alles glattgehen.«
»Ja, sicher. Ich habe nur das Gefühl, es mit meinem Klon nicht mehr lange auszuhalten.«
»Wieso? Ist irgendetwas passiert?«
»Nichts Ernstes. Er warf mir vor, mich in der Vergangenheit falsch verhalten zu haben, obwohl ich davon überzeugt bin, das Richtige getan zu haben. Wenn er doch absolut identisch mit mir sein soll, warum stellt er mein Tun dann infrage?«
»Das ist nichts Ungewöhnliches. Der Klon weiß, dass er ist, was er ist. Also kann es schon mal vorkommen, dass er sich einbildet, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel beurteilen zu können.«
»Er verhält sich letztlich also nur so, weil er mit mir zusammenlebt? Wenn er allein leben würde, würde er dann so denken wie ich?«
»Vermutlich. Er ist dann ein Individuum, was er jetzt ja in gewisser Weise nicht ist. Im Augenblick muss er tun, was wir oder Sie ihm sagen. Das gefällt ihm unterbewusst vielleicht nicht. Das bedeutet aber nicht, dass er aufsässig werden könnte. Oder gar gegen Sie rebellieren würde.«
»Verstehe.«
Hendrik bemerkte, dass Roberts Zweifel nicht beiseite geräumt waren. »Sehen Sie, Herr Mester, er ist natürlich Sie, aber er ist auch ein Mensch mit eigenen Gedanken. Selbst wenn Sie beide vollkommen identisch sind, kann es vorkommen, dass Sie beide unterschiedliche Entscheidungen bezüglich derselben Angelegenheit treffen.«
»Ja, das klingt einleuchtend.« Robert war mit dieser Erklärung schon eher zufrieden. Er war nervös angesichts seiner bevorstehenden Ausreise. Er hatte sich da wohl zu sehr hineingesteigert.
»Außerdem ist es oft so, dass Leute, die mit ihrem Klon konfrontiert werden, Dinge an diesem sehen, die sie selbst an sich gar nicht mögen und entsprechend ablehnend reagieren.«
»Schon klar.«
»Ich werde nächste Woche wiederkommen. Vielleicht bringe ich dann schon den neuen Chip mit.«
»Das wäre schön.«
Robert war wieder allein. Sein Klon kam erst spät abends nachhause. Es war Donnerstag, und am Donnerstag kam Robert nie so spät nachhause.
»Was war denn los?«, überfiel er Robert2, als dieser die Wohnungstür mittels Gesichtserkennung entriegelte und in die Wohnung eintrat.
»Nichts. Was bist du denn so aufgeregt?«
Robert schüttelte verständnislos den Kopf. »Weil ich an diesem Wochentag in der Regel nie so spät nachhause komme.«
»Nun reg dich mal nicht so auf. Ich war nur mit Nicole im Kino, sonst nichts.«
Robert fiel die Kinnlade runter. »Und du hältst es nicht für nötig, mir das zu sagen? Ich sitze hier und male mir die schlimmsten Dinge aus, was dir passiert sein könnte, und du gehst mit Nicole ins Kino?«
»Ist das verboten? Du warst doch auch schon öfter mit ihr aus.«
»Ja, aber das letzte Mal, dass wir etwas zusammen unternommen haben, außer dem gemeinsamen Essen, ist schon bestimmt ein dreiviertel Jahr her.«
»Na ja. Dann wurde es ja wieder mal Zeit.«
Robert war wütend, ob dieser schnippischen Antwort. Er erkannte sich in seinem eigenen Klon kein Stückchen wieder.
»Das nächste Mal sagst du mir gefälligst Bescheid, wenn du später kommst, klar?«
Robert2 reagierte nicht und ging zur Küche. Robert ging ihm hinterher, packte ihn erbost an der Schulter und drehte ihn herum. »Ich rede mit dir!«
»Du meine Güte, jetzt komm wieder runter!« Robert2 schaute ihn entschlossen an, erwiderte Roberts Zorn in seinem eigenen Blick aber nicht, was Robert nur noch zorniger machte. Er unternahm auch keinen Versuch, die Hand von seiner Schulter abzustreifen, sondern blieb gefasst. »Es war nur ein Kinobesuch. Wenn mir irgendetwas passiert wäre, hättest du längst ungebetenen Besuch bekommen, meinst du nicht auch? Ich denke, du bist einfach zu empfindlich.«
»Du sollst dich an unsere Vereinbarung halten! Was du über mich denkst, interessiert mich doch einen Scheiß! Informiere mich, wenn du etwas Außerplanmäßiges unternimmst! Ist das so schwer?«
»Ich bin nicht dein Schoßhündchen, das angerannt kommt, wenn du mit dem Stöckchen wedelst.«
»Du existiert nur, weil ich es wollte, merk dir das! Und solange wir beide unter einem Dach leben, habe ich das Sagen. Ist das klar? Danach kannst du machen, was du willst.«
»Ich mache nichts, was deine Ausreise gefährden könnte, so viel Vertrauen solltest du mir schon entgegenbringen. Ich bin du - eine Tatsache, mit der du offensichtlich nicht klarkommst.«
»Ich komme sehr gut damit klar. Im Gegensatz zu dir, verhalte ich mich jedoch in diesem Bewusstsein auch verantwortungsvoll.«
»Ha, das ist doch lächerlich! Du bist neidisch, das ist alles.«
»Wie bitte?«
»Na sicher. Du bist neidisch, weil ich mit Nicole ausgehe. Du brauchst gar nicht so empört zu gucken, ich weiß, dass es so ist. Ich wäre an deiner Stelle auch neidisch. Aber dafür gibt es überhaupt keinen Grund - wie oft muss ich es noch sagen? Ich kann doch jetzt nicht einfach die Beziehungen zu allen Menschen, die du kennst, abbrechen, nur weil es dir nicht in den Kram passt. Du bist derjenige, der sich verantwortungslos verhält, weil du mit deinen Gefühlen nicht zurechtkommst.
Wach auf, Robert! Du lebst dieses Leben nicht mehr. Du hast es gegen ein anderes eingetauscht, und du bist dir dessen offenbar noch gar nicht bewusst. Du existierst offiziell nicht mehr. Also schlage ich vor, du kommst mir nicht mehr mit deinem kindischen Benehmen in die Quere und lässt mich meine Arbeit machen, damit du deinen Traum leben kannst.« Robert2 ging ins Bad, knallte die Tür hinter sich zu und verriegelte sie.
Er ließ Robert völlig perplex stehen. Minutenlang. In dieser Zeit glaubte er, mit der Entscheidung zur Erschaffung seines Klons, den schlimmsten Fehler seines Lebens begangen zu haben.
Kapitel 8: Außer Kontrolle
Eine weitere Woche verging, die Robert nur schwer durchstand. Die Isolation von der Außenwelt machte ihm immer mehr zu schaffen. Er sah viel fern, schaute sich alte Serien an, die er sich immer schon ansehen wollte. Aber während er sie sah, konnte er sich nicht auf die Handlung einlassen. Es interessierte ihn nicht mehr. Er musste sich eingestehen, dass sein Klon Recht hatte, als er sagte, er müsse sich der Realität stellen. Das war nicht mehr sein Leben, nicht seine Arbeit, nicht seine Wohnung, nicht sein soziales Umfeld. Er war längst fort. Und nun war es an der Zeit, sich endgültig von diesem alten Leben zu verabschieden.
Hendrik kam wieder zu Besuch.
»Er ist fertig«, sagte er grinsend. Stolz hielt er ein kleines Glasröhrchen hoch, das den winzigen neuen Ortungschip enthielt.
»Gott sei Dank! Ich dachte schon, ich würde wahnsinnig werden, wenn ich noch eine weitere Woche auf ihn warten muss.«
»Ich werde Ihnen eine lokale Betäubung verabreichen und dann implantieren.«
»Ausgezeichnet. Und wer bin ich jetzt?«
»Laut Ihrem Chip sind Sie von nun an Marvin Winkel. Sie haben eine eigene Sozialversicherungsnummer, eine Steuernummer, eine Unfallversicherung und sogar ein eigenes Bankkonto und eine Geburtsurkunde.«
»Wie das? Gibt es diesen Marvin Winkel in echt? Oder hat es ihn gegeben?«
»Nein. Er ist reine Fiktion. Ein Gespenst, wenn Sie so wollen.« Hendrik verabreichte Robert eine Spritze in den Nacken und wartete dann die Wirkung ab.
»Wie ist das denn möglich? Sie haben einfach eine Person erfunden und ein Konto für sie eröffnet, ohne dass sich jemals jemand ausweisen musste, um seine Identität zu bestätigen?«
»Ganz genau. Wir haben ein paar brillante Hacker, die für uns arbeiten. Man muss nur wissen, wie man unbemerkt Zugang zu den entsprechenden Datenbanken erlangt, und dann kann man einfach einen neuen Eintrag für eine fiktive Person machen. Ganz so einfach ist es natürlich nicht, aber man kann nahezu alles eintragen. Inklusive einer nachvollziehbaren Vergangenheit.«
»Wie meinen Sie das mit Vergangenheit?«
»Nun, jeder Menschen hinterlässt jeden Tag irgendwo digitale Spuren. Wenn Sie im Internet unterwegs sind, wenn Ihr Chip am Bahnhof von einem Ortungssensor erfasst wurde. Sie entgehen dem all-sehenden Auge nicht. Genau diese Spuren setzen wir in die entsprechenden Datenbanken ein. Ein Leben voller Spuren, die es nie gegeben hat.«
»Aber das müssten ja hunderttausende Einträge und Erfassungen sein. Das kann doch kein Mensch alles einprogrammieren.«
»Stimmt. Kein Mensch kann das. Aber unsere Informatiker haben eine komplexe KI-gestützte Software entwickelt, welche diese Einträge in einer logischen Abfolge in die Datenbanken hinein schummelt. Den Betrug würde man erst entdecken, wenn man systematisch den Spuren nachgeht und Personen befragt, die Kontakt mit unserem fiktiven Marvin Winkel hatten. Das Dumme ist nur, auch diese Kontaktpersonen existieren nicht.«