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„Wird sie wieder gesund werden?“, platzte Mira heraus, als sie Veras Zimmertür erreichten. Veras Blick huschte zu Filip, ehe sie zu einer Antwort ansetzte. „Nein. Mira, weißt du …“
Aber Filip fiel ihr ins Wort: „Ich würde einen Themenwechsel sehr willkommen heißen.“ Umständlich dirigierte er die beiden in Veras Zimmer, wo sie sich auf das nicht gemachte Bett setzten. Auch hier waren die Vorhänge nur halb aufgezogen. Im gedämpften Tageslicht sah Mira einen Stapel Schulunterlagen, einen benutzten Teller und ein Paar Socken auf dem Boden liegen. Filip nahm die Unordnung mit gekräuselter Nase zur Kenntnis, sagte jedoch nichts.
„Wie sieht es aus?“, fragte Vera, während Filip weiterhin schweigend auf das Chaos starrte. „Hast du wieder etwas dabei?“
Miras Herz begann schneller zu schlagen, als sie an das Buch dachte, das unter ihrer Kleidung verborgen war. Aber natürlich musste es in Filips Anwesenheit dortbleiben. Genau wie ihr Vater war Filip geradezu besessen von der Verfassung und jedem Gesetz, das seit Staatsgründung erlassen worden war.
Und natürlich meinte Vera auch keineswegs das Buch unter Miras Bluse. „Kekse? Gummitierchen? Ersatzschokolade?“, fuhr sie hoffnungsvoll fort und bekam hinter ihrem zu langen, rotblonden Pony ganz große Augen. Vera liebte Süßes.
„Oh“, machte Mira. „Das habe ich ganz vergessen.“ Ihr Vater machte sich nicht viel aus den Zusatzprodukten, die man nur für die wertvollen Sonderrationskarten bekommen konnte. Für den Großteil der Bevölkerung rückten Dinge wie Süßigkeiten, Schmuck oder Tabak damit in unerreichbare Ferne. Nur Staatsbeamte und Wachmänner verfügten über ein monatliches Kontingent solcher Karten.
Gerald Robins, der von keinem dieser Luxusartikel viel hielt, überließ seine Sonderrationen meist Mira. Und die suchte mit Vorliebe nach etwas, das sie mit ihrer Freundin teilen konnte. Gebackene Kekse mit einer dünnen Schicht Ersatzschokolade, geröstete Sonnenblumenkerne in Honig oder die zähen Gummitierchen, die Vera besonders gerne naschte.
„Wie um alles in der Welt kann man Süßigkeiten vergessen!“, entsetzte sich Vera und schüttelte ungläubig den Kopf. „Wenn wir solche Schätze zu Hause hätten, würde ich den ganzen Tag an nichts anderes denken!“
„Glaub mir“, schaltete Filip sich ein, der stocksteif auf der Bettkante saß, „du würdest nicht nur an sie denken, sondern den lieben, langen Tag nichts anderes tun, als zu essen!“
Er machte ein verdutztes Gesicht, als Mira in Lachen ausbrach, stimmte dann aber sogar ein klein wenig mit ein.
„Du lässt mich von deinen Sonderrationen ja nie Süßigkeiten aussuchen“, schmollte Vera.
„Und gewiss muss ich dir nicht die Gründe dafür darlegen. Mir steht lediglich eine einzige Sonderration im Monat zu, und die benötigen wir für Mutters Tabletten.“
Schuldbewusst senkte Vera den Kopf, und während auch sie so nachdenklich dreinschaute, sah sie ihrem ernsten Bruder sehr ähnlich. Mira konnte es nicht erwarten, Vera von dem Buch zu erzählen. Ein Geheimnis würde Vera aufheitern. Eines, das sogar spannender war als unzugängliche Lebensmittel.
Aber noch war Filip da und machte ihr das Sprechen unmöglich, obwohl Mira zugeben musste, dass auch er dringend eine Aufmunterung hätte gebrauchen können. Seine Miene versteinerte endgültig, als Vera irgendwann aufstand, um nach ihrer Mutter zu sehen, und Mira fühlte sich unbehaglich, mit ihm alleine zu sein. Filip konnte stundenlang schweigen, und wenn er sprach, dann oft so gewählt und umständlich, dass einem vom bloßen Zuhören schwindlig wurde. Vera sagte, das sei nur der Stress und die viele Verantwortung, aber Mira wurde den Gedanken nicht los, dass ihr Vater und seine Kollegen einen schlechten Einfluss auf Filip hatten. Bevor er in den Staatsdienst getreten war, war er eigentlich recht unbekümmert gewesen, und sie hatten sein breites, zähneblitzendes Lächeln viel öfter zu Gesicht bekommen.
„Kann man denn wirklich gar nichts machen?“, rang Mira sich zu einer Frage durch, weil sie das Gefühl hatte, von Filips eisernem Schweigen geradezu taub zu werden. Aber der schüttelte nur starr den Kopf.
„Ich könnte meinen Vater –“
„Nein, Mira“, unterbrach Filip sie. Wenigstens sprach er jetzt. „Du weißt, ich halte große Stücke auf deinen Vater. Aber in diesem Fall …“ Er stockte. „In diesem Fall sind auch ihm die Hände gebunden. Ich sollte aufbrechen“, fügte er im gleichen Atemzug hinzu und sprang auf, kaum war Vera wieder ins Zimmer getreten. „Ich erwarte, dass du dich um Mutter kümmerst. Ich habe Nachtschicht.“
Egal, wie schweigsam und ernst er war, konnte Mira es sich nur schwerlich vorstellen, dass ausgerechnet Filip einer der Wachmänner sein sollte, die des Nachts durch die Straßen patrouillierten. Sie kamen ihr, wohl auch wegen der regelmäßigen Mahnungen ihres Vaters, Angst einflößend und Respekt heischend vor. Filip, mit seinem rötlichen Haar und der gestelzten Ausdrucksweise, war keines von beidem. Sie hätte ihn sich gut als Rationenverteiler oder als Verwaltungsangestellten vorstellen können. Aber ihr Vater hatte ihm die Stelle in der Rechtsabteilung vermittelt und machte keinen Hehl daraus, dass er Filip, machte dieser seine Sache gut, auch weitere Türen im Staatsdienst öffnen würde. Türen zu höheren Posten, zu wichtigeren Aufgaben und zu größerem Ansehen.
„Jemand muss sich des Jungens annehmen“, wehrte er brüsk ab, wenn seine Frau ihn für sein fürsorgliches Verhalten rühmte. „Sein eigener Vater ist dazu ja nicht imstande.“
Dass ihr Vater so über Herrn Petersen sprach, missfiel Mira. Aber sie war auch froh, dass er zumindest eine so hohe Meinung von einem Mitglied der Familie Petersen – und sei es nur Filip – hatte. Deshalb beschwerte sie sich nicht.
Herr Petersen war vielleicht ein komischer Kauz, aber er war auch einer der nettesten Menschen, denen Mira je begegnet war. Und heute zählte Mira sogar auf seine Zerstreutheit, die sich für ihren Plan als ausgesprochen praktisch erweisen konnte, denn Herr Petersen bekam beinahe ebenso wenig von dem mit, was um ihn herum geschah, wie seine meist schlafende Frau.
Erst einmal war Mira jedoch, nachdem Filip zum Dienst aufgebrochen war, mit Vera alleine. Kaum war die Haustür hinter ihrem Bruder ins Schloss gefallen, fragte diese: „Sagst du mir jetzt, was dir auf der Zunge brennt?“
Mira sog überrascht die Luft ein, und das raue Leder des Buches stieß dabei gegen ihren Bauch. Die meiste Zeit hatte sie es deutlich in seinem Versteck fühlen können.
Vera pustete sich die Ponyfransen aus der Stirn und lachte. „Wusste ich es doch, dass du ein Geheimnis hast! Wenn man dich kennt, bist du ein offenes Buch, Mira.“
Auf dieses Stichwort hin zog Mira ihre Bluse aus der Hose und ließ das kleine Büchlein auf die Bettdecke fallen. Vera sah ihr zuerst verwirrt, dann mit geweiteten Augen dabei zu. „Mira“, wisperte sie. „Ich werd verrückt! Sag nicht, dass das eine der verbotenen Schriften ist!“ Sie schien hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, das Buch zu berühren, und dem Impuls, möglichst weit von dem verbotenen Gegenstand wegzurutschen, der da auf ihrem Bett lag. Sie entschied sich dafür, wie versteinert dazusitzen und ihn anzustarren. „Wo hast du das her?“ Ihr Blick war fest auf das Buch geheftet.
Mira senkte die Stimme. Nur für den Fall, dass jemand sie belauschte. „Das kann ich dir hier nicht sagen.“ Mira konnte an Veras Reaktion ablesen, dass ihr Misstrauen sie verletzte, deshalb fuhr sie hastig fort. „Aber ich kann es dir zeigen. Ich muss noch einmal dorthin. Die letzten Seiten der Geschichte fehlen.“
Vera nickte langsam, und Mira fügte schnell den Rest ihres Plans hinzu: „Heute Nacht.“ Sie konnte Edmund Porter nicht auf ein verbotenes Buch ansprechen, während ein Wachmann in der Buchhandlung herumlungerte.
„Und da willst du, dass ich … nein, Mira. Ich kann nicht mitkommen!“ Vera wandte sich von dem Buch ab und sah Mira mit aufgerissenen Augen an. „Was ist mit der Ausgangssperre? Was ist mit meinen Eltern? Und meinem Bruder?“
„Filip arbeitet.“ Mira hatte sich alles genau überlegt. „Deine Mutter wird schlafen wie ein Stein, und dein Vater …“ Sie verstummte.
Vera nickte grimmig und sah wieder das Buch an. „Mein Vater interessiert sich kein bisschen dafür, ob wir uns nachts rausschleichen. Sag es ruhig. Es stimmt ja. Er wird es nicht einmal bemerken.“ Sie stieß die Luft aus. „Aber trotzdem, Mira, was ist mit den Wachposten? Es ist verboten, nachts draußen herumzuschleichen. Weißt du, was sie mit Leuten machen, die nach Ausgangssperre draußen erwischt werden?“
Es war kein Geheimnis, dass Vera nicht mutig war. Aber sie war auch eine zu treue Freundin, um Mira allein gehen zu lassen.
„Mit diesem Buch spielt es keine große Rolle, ob wir am Tag oder in der Nacht erwischt werden“, erwiderte Mira brüsk, aber auch ihr Herz klopfte bei dem Gedanken an die nächtlichen Straßen wie wild. Sie war, abgesehen von wenigen, kaum nennenswerten Minuten, noch nie innerhalb der Sperrstunde draußen gewesen. „Es ist eine der alten Geschichten. Du müsstest sie lesen! Sie ist …“
„ … so was von verboten!“, ergänzte Vera und hielt sich die Ohren zu, als Mira Luft holte. „Nein! Nein, nein, nein! Du musst mir wenigstens die Wahl lassen, ehe du mich da mit hineinziehst!“
Mira verstummte. „Oh … okay. Ähm … möchtest du mit hineingezogen werden?“, fragte sie leichthin.
„Mira!“, rief Vera aus – ein bisschen belustigt, aber größtenteils entsetzt. „Du redest darüber, als ginge es nur um verbotene Ersatzschokoladenkekse!“
Sie hatte recht: Mira versuchte, die Angelegenheit so harmlos wie möglich klingen zu lassen. Vera musste einfach mitkommen. Mira war nicht sicher, ob sie alleine den Mut aufbringen würde.
„Das ist viel besser als verbotene Kekse“, beharrte sie, immer noch flüsternd.
„Und gefährlich ist es obendrein“, entgegnete Vera. „Dein Vater würde …“
„Mein Vater hat damit überhaupt nichts zu tun“, fiel Mira ihr ins Wort. Sie wollte, während sie hier mit Vera und einem verbotenen Buch auf einem zerwühlten Bett saß, nicht einmal an ihn denken. Er hielt nichts von Büchern jedweder Art, und obwohl er wusste, wie gerne seine Tochter las, würde er sie nie für fähig halten, den Staat so zu hintergehen. Er wäre maßlos von ihr enttäuscht. Und wütend. Mira wusste nicht, was schlimmer war.
„Lass mich dir davon erzählen.“ Mira schob den Gedanken an ihren Vater so weit weg wie irgendwie möglich. „Dieses Buch ist …“
Doch Vera sollte vorerst nicht herausfinden, was an diesem Buch so besonders war und warum ihre Freundin dafür Kopf und Kragen riskieren wollte, denn Mira verstummte schlagartig, als sich ein schütterer, grauer Haarschopf und Bart samt dem dazugehörigen Kopf durch den Türspalt schoben. Der Körper, zu dem dieser Kopf gehörte, blieb hinter der Tür verborgen, war aber vermutlich genauso nachlässig gekleidet wie immer. Was Flecken, Risse und andere Makel an seiner Kleidung anging, schien Herr Petersen mit Blindheit geschlagen.
„Hallo, Mira“, begrüßte er sie. Im Gegensatz zu ihren eigenen Eltern nannte Herr Petersen Mira bei dem Namen, den sie sich selbst gewählt hatte. Mira gefiel das, und obwohl sie insgeheim vermutete, dass die Petersens schlichtweg nicht wussten, dass sie eigentlich Miriam hieß, erfüllte es sie mit dem warmen, heimeligen Gefühl des Willkommenseins.
„Ihr habt nicht rein zufällig meine Brille gesehen?“ Herr Petersen rieb sich die Nasenwurzel.
Vera schüttelte den Kopf und versuchte unauffällig so weit nach rechts zu rutschen, dass sie auf dem Buch saß, das immer noch zwischen ihnen auf der Bettdecke lag.
Herr Petersen zuckte die Schultern. „Sie ist nicht im Badezimmer, auch nicht im Kühlfach, und sie sitzt nicht auf meiner Nase“, zählte er auf. „Aber unter diesen Umständen will ich eure hochgeheimen Mädchengespräche nicht weiter stören.“ Er gluckste, und Vera sprang auf.
„Komm, Mira, lass uns meinem Vater helfen, seine Brille zu suchen. Sie könnte ja auch im Schlüsselkasten hängen. Da war sie letztes Mal“, plapperte sie, ohne auch nur ein einziges Mal Luft zu holen.
„Oh, lasst nur“, winkte Herr Petersen ab und zog schon den Kopf durch den Türspalt zurück. „Im Schlüsselkasten habe ich zuallererst nachgesehen. Aber weit kann sie nicht sein. So ein Haus verliert nichts.“ Seine Stimme entfernte sich bereits.
Vera stand noch einen Moment mit am ganzen Körper angespannten Muskeln in der Zimmermitte, ehe sie sich neben Mira und das verbotene Buch auf das Bett fallen ließ und sich den Pony aus der Stirn wischte. „Meine Güte, ich weiß noch nicht einmal, was in diesem Ding steht, und schon bringt es mich in Schwierigkeiten!“
„Dann lass mich dir die Geschichte erzählen“, nutzte Mira ihre Chance. „Bitte, Vera. Danach kannst du immer noch entscheiden, ob sie das Risiko wert ist.“
„Nichts ist dieses Risiko wert“, erwiderte Vera. Aber sie verschränkte die Arme vor der Brust und bedeutete Mira, zu erzählen.
Zum Abendessen setzte Herr Petersen ihnen gebratenes Brot und lauwarme Milch vor. Mira war nicht sicher, ob das ein Zeichen für die beschränkten Möglichkeiten einer Familie ohne nennenswerte Sonderrationen war oder schlicht darauf hinwies, dass es früher Frau Petersen gewesen war, die gekocht hatte.
Vera und Mira verschlangen das leicht angebrannte Mahl ohne Beschwerden und erklärten sich nur allzu übereifrig dazu bereit, den Abwasch zu übernehmen, damit Herr Petersen sich in sein Büro zurückziehen konnte. Keiner wusste so recht, was er darin eigentlich tat, aber Vera konnte versichern, dass er am Abend für gewöhnlich an seinem Schreibtisch einschlief.
„Und ihr kommt wirklich ganz und gar alleine zurecht?“, fragte er, nahm seine Brille – er hatte sie im Brotkorb wiedergefunden – ab und drehte sie in den Händen. Seine Nachfrage entsprang purer Freundlichkeit: Niemand hätte beim Anblick des sich türmenden Geschirrs von scheinbar mehreren Tagen Hilfe abgelehnt. Niemand, außer zwei Mädchen, die nur zu offensichtlich etwas im Schilde führten. Doch Herr Petersen atmete nur erleichtert auf, fischte ihnen einen frischen Lappen aus dem Putzschrank und stahl sich in sein Büro davon.
Kapitel 3
Porters Höhle
„Wir werden erwischt, wir werden erwischt, wir werden erwischt“, flüsterte Vera unablässig, während sie um kurz nach zwölf in dieser Nacht die Straße vor Veras Haus hinabschlichen.
Mira war vor Aufregung ganz schlecht, und sie war nicht in der Stimmung, Vera zu beruhigen. „Wenn du noch ein bisschen lauter sprichst, dann ganz bestimmt“, zischte sie nur und presste das Buch, das wieder unter ihrer Bluse steckte, so fest an sich, wie sie nur konnte. Sie war sich nicht mehr so sicher, ob es das Risiko wirklich wert war. Es schien ihr nahezu unmöglich, ungesehen zu „Porters Höhle“ zu gelangen.
Veras Flüstern ging in ein ängstliches Wimmern über, das einzige Geräusch, das, abgesehen von ihren verdächtig lauten Schritten, noch zu hören war. Mira hatte geglaubt, ihr Vorhaben sehr sorgfältig geplant zu haben, doch nun, da sie tatsächlich unterwegs waren, musste sie sich eingestehen, dass sie das größte Hindernis gründlich unterschätzt hatte. Sie hatte sich so sorgsam überlegt, wie sie sich aus dem Haus schleichen konnten und was sie Edmund Porter fragen wollte, wenn sie ihm schließlich gegenüberstand, dass ihr der Weg dorthin wie das geringste Problem erschienen war.
„Warum gehen wir noch einmal mitten in der Nacht?“, wisperte Vera, die Mira ganz nervös machte, indem sie sich alle zwei Schritte nach links und rechts und hinten umsah.
„Weil sie die Buchhandlung überwachen“, gab Mira wie die beiden vorangegangenen Male zur Antwort. „Sie dürfen uns nicht belauschen. Sonst wissen sie, dass Herr Porter eine verbotene Schrift besitzt und dass ich sie gelesen habe.“ Es war nicht erlaubt, während der Ausgangssperre draußen unterwegs zu sein. Wen sie erwischten, den stellten sie unter Arrest oder kürzten seine Rationen. Aber eine verbotene Schrift zu besitzen oder auch nur gelesen zu haben war schlimmer. Mit einer Gefängnisstrafe oder einer Rationskürzung käme man dabei nicht davon.
„Es wird schon gut gehen“, versicherte Mira ihnen beiden leise.
Sich aus dem Haus der Petersens zu schleichen war beinahe lächerlich einfach gewesen. Veras Mutter hatten sie den ganzen Abend nicht zu Gesicht bekommen, und ihr Vater war lange vor Mitternacht über seinen Unterlagen eingenickt. Vera hatte nach ihm gesehen und das Licht gelöscht, ihn aber schlafen lassen. Er hatte nichts von alledem – und auch nichts von ihrem Gehen – mitbekommen.
Obwohl ihnen beiden das Herz bis zum Hals schlug, kamen sie ohne größere Zwischenfälle bis in den Kern der Innenstadt. Sie begegneten niemandem, nur einmal hörten sie in der Ferne die Schritte eines Wachpostens. Als sie „Porters Höhle“ schon am jenseitigen Straßenende sehen konnten, hatten sie sich ein wenig entspannt und waren vielleicht auch ein bisschen unvorsichtig geworden.
Sie beschleunigten ihre Schritte, die hämmernd wie ein Herzschlag von den Wänden der umstehenden Häuser widerhallten. Erst im letzten Moment sahen sie den Lichtkegel der Taschenlampe, der sich aus einer Seitengasse näherte, während der Rest der Stadt in tiefster Dunkelheit lag, nachdem der Strom in den Privathaushalten schon vor Stunden für die Nacht abgeschaltet worden war. Eine Stimme bellte in die Stille der Nacht: „Wer ist da?“
Vera fuhr zusammen und bremste ihre Schritte, aber Mira erfasste die Situation schneller. Innerhalb von Sekunden packte sie Vera am Arm und rannte blindlings geradeaus los.
„Stehen bleiben!“, schrie die Stimme, und die Schritte ihres Verfolgers waren nun, da sie ihn bemerkt hatten, auf dem harten Kopfsteinpflaster deutlich zu hören. Sie kamen rasend schnell näher.
Die Eingangstür zu „Porters Höhle“ war verschlossen, die Fenster allesamt stockfinster. Das heißt … nein, in einem Fenster, das auf den Hinterhof hinausblickte, schimmerte ein blasses Lichtchen. Ein kleiner, tastender Lichtkegel, wie der, der Mira schon so oft hätte verraten können, wenn sie heimlich in ihrem dunklen Zimmer gelesen hatte.
„Hier rüber!“, flüsterte sie so laut, wie ihre zugeschnürte Kehle es zuließ. Sie zerrte Vera über das Mäuerchen und sprang mehr gegen die Fensterscheibe, als dass sie dagegenklopfte. Den heimlichen Leser dahinter erschreckte sie wahrscheinlich halb zu Tode. Die Taschenlampe erlosch schlagartig.
Der andere Lichtkegel hingegen hatte sie fast erreicht. Vera und Mira blieb keine andere Wahl, als sich bäuchlings hinter dem Mäuerchen auf den Boden zu pressen. Zwischen dem staubigen Pflaster und ihrem hämmernden Herzen spürte Mira das Buch, das ihr das alles eingebrockt hatte. Es drückte seine Lederstruktur in ihre schweißnasse Haut und erinnerte sie daran, wie schlecht es um sie stand, wenn der Mann mit den schweren Stiefeln, die nun unweit von ihnen innehielten, sie bemerkte. Sie waren keine normalen Ausreißer oder Leute, die verbotenerweise nach der Sperrstunde draußen herumwanderten. Mit einem Buch wie dem unter Miras Bluse kam man nicht mit einem Arrest oder einer Verwarnung davon.
Die Stiefel des Mannes knirschten bei jedem nun vorsichtiger gesetzten Schritt auf dem steinernen Grund. Der Lichtkegel tastete weiter über die Straße und in die Hauseingänge. Die weiße Wand von „Porters Höhle“ warf den Schein zurück auf den Mann, und Vera entfuhr ein Quieken.
Miras Hand schnellte über die Schulter ihrer Freundin und legte sich über deren Mund, während ihr Arm sie fest auf den Boden presste. Sie hatte gesehen, was Vera gesehen hatte: Es war Filip. Aber heute, hier, in dieser Situation änderte diese Tatsache rein gar nichts. Er war ein Wachmann, und sie waren Straftäter – Bruder und Schwester hin oder her.
Filip musste Vera gehört haben, denn er schnellte herum und hob die Taschenlampe höher, sodass sie nun über sie hinweg den hinteren Teil des Hofes beleuchtete. Mira glaubte fast, die Hitze des Lichts zu spüren, während es sich näher und näher tastete. Es hatte die beiden im Schmutz liegenden Mädchen fast erreicht.
Ein jähes Geräusch, nicht weit von ihnen, ließ den Lichtkegel zurückjagen. Mira hatte keine Ahnung, was Filip darin sah, aber es schien von größerem Interesse zu sein als der Rest des Hinterhofes.
„Hoppla“, ertönte ein tiefer Bass hinter ihr, und der Geruch von süßem Tabak ließ Mira das Herz in die Hose sinken. Nun war das Chaos komplett. Edmund Porter hatte sein Haus verlassen und stand nur wenige Meter hinter ihnen. Ihm allein musste sich die ganze Szene auf einen Blick erschließen. Filip mit Uniform, Abzeichen und Taschenlampe und zwei Mädchen, die sich in der Dunkelheit seines Hinterhofes auf den Boden pressten, als hinge ihr Leben davon ab. „Mir war doch, als hätte ich hier draußen einen Lichtschein gesehen“, sagte er nach kurzem Zögern.
„Edmund Porter.“ Filip tippte sich an den Hut. „Es ist spät. Sie sollten das Haus nicht verlassen.“ Seine knappen Feststellungen erinnerten nicht einmal entfernt an die umständliche Ausdrucksweise, die Mira von ihm kannte.
„Oh, das hatte ich doch nicht vor“, versicherte Edmund Porter ruhig. Vielleicht, überlegte Mira, konnte er sie gar nicht sehen. Vielleicht verbarg der Schatten des Mäuerchens sie auch vor ihm. „Ich bin nur ein neugieriger alter Mann, der nicht schlafen kann und beim Lesen einen Lichtschein in seinem Hof gesehen hat.“
„Das war ich. Sie können wieder hineingehen“, sagte Filip schroff. „Ich habe etwas gehört.“
„Und das wiederum könnte dann wohl ich gewesen sein“, erwiderte Edmund Porter, der keineswegs wieder nach drinnen gegangen war. „Sehen Sie, ich füttere die streunenden Katzen in der Nachbarschaft, und erst eben habe ich ihnen diese Schüssel nach draußen gestellt.“
Der Lichtkegel bewegte sich. Vermutlich leuchtete Filip in die von Edmund Porter gewiesene Richtung, und aufgeschreckt von der Helligkeit, stoben in der Tat zwei oder drei Straßenkatzen davon.
Filip zuckte zurück und richtete den Lichtkegel wieder auf Edmund Porter. „Streuner also.“ Seiner Stimme fehlte jede Herzlichkeit. „Ich schlage vor, dass Sie trotzdem wieder nach drinnen gehen. Und sich den Straßenkatzen in Zukunft besser am Tage erkenntlich zeigen. Sie bringen sich noch in ernste Schwierigkeiten.“
„Verzeihung“, sagte Edmund Porter, und dann herrschte Stille. Die Tür fiel ins Schloss, der Lichtkegel erzitterte ein wenig, dann zog er sich zurück und begleitete Filip die Straße hinab.
Als Vera sie zwickte, wurde Mira sich bewusst, dass sie ihr immer noch mit aller Kraft die Hand auf den Mund presste. Rasch ließ sie los und spürte, wie ein Kribbeln durch ihren vor Anspannung steif gewordenen Arm wanderte. Ihr ganzer Körper fühlte sich verkrampft an, und plötzlich war sie furchtbar erschöpft.
Ein Klicken ließ sie beide zusammenfahren. Die Tür hinter ihnen war aufgesprungen. „Schsch“, ertönte eine tiefe Stimme aus der Dunkelheit dahinter. „Hier rein. Schnell.“
Das ließen sich die Mädchen nicht zweimal sagen.
Mira hatte noch nie das Gesetz gebrochen. Mit einem Staatsbeamten zum Vater hatte sie dazu auch reichlich wenig Gelegenheit gehabt. Gerald Robins hatte stets zwei besonders wachsame Augen darauf gehabt, dass seine Tochter auf dem rechten Weg war und blieb.
Aber nach dem Diebstahl des Buches hatte eines zum anderen geführt. Innerhalb von kaum mehr als vierundzwanzig Stunden hatte sie gestohlen, eine verbotene Schrift gelesen, ihre Freundin zu einer Straftat angestiftet und die Ausgangssperre missachtet. Im blassen Licht einer Taschenlampe inmitten der Regale von „Porters Höhle“ zu stehen erinnerte sie einmal mehr daran, wie verboten es war, hier zu sein. Und wie unfassbar gefährlich.
Die Beleuchtung reichte gerade einmal aus, die Konturen der Einrichtung sichtbar zu machen und ihre Gesichter zu erhellen. Mira fragte sich, ob sie genauso verängstigt aussah wie Vera, deren Miene schreckensstarr war. Ihr Haar war staubig, und der Abdruck des Kiesbodens prangte auf ihrer Wange. Das Ausweisbändchen an ihrem Arm hatte auch ordentlich etwas abbekommen: Mitten durch den neunstelligen Code zog sich ein scharfer Knick.
Edmund Porter war die Ruhe selbst. Er zog die Vorhänge zu, zündete eine Kerze an, verstaute die Taschenlampe in einer Schublade und setzte sich in seinen Ohrensessel. „Es ist gefährlich“, sagte er dann, „um diese Zeit unterwegs zu sein.“