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Vera stieß die Luft aus, als wollte sie ein sarkastisches „Wem sagen Sie das?“ loswerden. Doch außer dem Schnauben kam kein Laut über ihre Lippen. Überhaupt sah sie so aus, als wäre sie nicht fähig, jemals wieder ein Wort zu sagen.
„Uns zu helfen war ebenfalls sehr gefährlich.“ Mira straffte die Schultern. Edmund Porter hatte ihnen nicht den Hals gerettet, um sie nun ans Messer zu liefern. Und auch seine Ermahnung schien nicht wirklich von Herzen zu kommen. Mira wurde das Gefühl nicht los, dass er sie erwartet hatte. Vielleicht nicht jetzt, nicht mitten in der Nacht … aber doch erwartet.
Sie nestelte am Bund ihrer Bluse herum und zog schließlich das ledergebundene Buch hervor. „Es tut mir leid“, sagte sie aufrichtig. „Ich habe das hier gestern mitgenommen.“
„Ich weiß.“ Edmund Porter war nun dazu übergegangen, seine Pfeife zu stopfen. „Ich wusste, dass du dir kein Buch entgehen lassen würdest, das du noch nicht kennst. Schon gar keines voller Abenteuer und Weisheit.“ In seinen Augen glitzerte die Heiterkeit. Mira konnte es nicht fassen, wie gelassen er es hinnahm, dass sie mitten in der Nacht in seinem Laden stand und zugab, eines seiner Bücher gestohlen zu haben. Noch dazu ein so gefährliches.
„Es ist verboten“, würgte Vera schließlich heraus. „Dieses Buch müsste gemeldet werden!“ In ihrer Stimme vibrierte die Angst.
Edmund Porter nahm den ersten Zug von seiner Pfeife. „Zwei Mädchen, die des Nachts durch die Straßen wandern, müssten auch gemeldet werden.“
Vera sog die Luft ein und sah sich panisch um, als suche sie einen Fluchtweg.
„Ich habe kein Interesse daran, jemanden in Schwierigkeiten zu bringen. Aber dass ihr hier seid – noch dazu um diese Zeit –, zeigt mir, dass ihr das Risiko nicht scheut.“ Er stieß den Rauch aus. Nach wie vor machte er keine Anstalten, Mira das Buch abzunehmen. „Das ist gut. Dieses Buch bringt viele Probleme mit sich.“
Das erinnerte Mira an den eigentlichen Grund ihres Kommens. Sie holte tief Luft und fragte geradeheraus: „Wo ist der Rest der Geschichte?“
Vera neben ihr keuchte erschrocken. Wie zwei grüne Laternen flackerten ihre angsterfüllten Augen im Kerzenlicht.
„Ich konnte es nicht zu Ende lesen, weil die Seiten herausgerissen wurden. Das Ende fehlt.“
Edmund Porter nahm einen weiteren tiefen Zug von seiner Pfeife. „Ah. Ja.“ Er lächelte. „Matthäus. Du hast längst nicht alles herausgefunden.“
Es ärgerte Mira, dass er sie vergnügt anlächelte, so als wäre ihr etwas ungemein Wichtiges entgangen. Vera stand immer noch wie versteinert da und war auch keine besonders große Hilfe. „Das Ende“, fuhr Edmund Porter jetzt fort, „fehlt nur bei Matthäus.“
„Die anderen Geschichten interessieren mich nicht“, entgegnete Mira ärgerlich. Die Anspannung in ihr stieg ins Unermessliche. Sie war so kurz davor, das Geheimnis zu lüften und den Rest der Geschichte zu erfahren. „Ich will wissen, was mit seinen Freunden passiert. Können Sie es mir erzählen? Bitte“, fügte sie hastig hinzu, weil sie feststellte, dass ihre Frage mehr wie ein Befehl geklungen hatte.
„Natürlich kann ich. Aber ich bin fast ein wenig enttäuscht, dass du nach Matthäus aufgegeben hast. Markus und Lukas hätten dir alles verraten. Und Johannes.“
„Sie meinen, die gleiche Geschichte ist mehr als einmal in diesem Buch?“, fragte Mira.
„Viermal, um genau zu sein.“
Ein Kribbeln machte sich in Miras Bauch bemerkbar. Nun war auch bei Vera die Neugier der Angst über den Kopf gewachsen. „Aber wie können vier Schriftsteller die gleiche Geschichte aufschreiben?“, fragte sie.
„Ja, das scheint ungewöhnlich“, erwiderte Edmund Porter immer noch völlig entspannt. Wie er da in seinem Sessel lehnte, hätte man leicht meinen können, es wäre nicht mitten in der Nacht und sie sprächen nicht bei einem äußerst verbotenen Treffen über eine äußerst verbotene Geschichte.
Mira atmete tief ein. Die Luft roch nach süßem Tabak und der Kälte der Nacht. „Das alles ist wirklich passiert, nicht wahr?“ Irgendwie hatte sie es die ganze Zeit geahnt. Schon als sie tränenüberströmt die letzte grausige Szene gelesen hatte.
Edmund Porter löschte sorgfältig seine Pfeife, legte sie weg und stand auf. Jede Heiterkeit war aus seinem Gesicht gewichen. Seine Stirn lag in sorgenvollen Falten. „Wäre diese Geschichte ein Märchen“, sagte er, als er dicht vor ihnen stand, „hätte man sie nie verboten. Der Staat könnte nicht tun, was er tut, wenn die Leute um die Wahrheiten in diesem Buch wüssten.“
Vera gab ein Wimmern von sich, und auch in Mira regte sich bei diesen Worten Unbehagen. Beide waren sie dazu erzogen worden, den Staat und das, was er tat, nicht zu hinterfragen oder gar zu kritisieren. Man hatte es ihnen in den Erziehungshäusern, zu Hause und im Unterricht regelrecht eingeimpft.
Edmund Porter sah nicht aus wie ein Rebell. Natürlich, er besaß einen ganzen Laden voller Bücher, und das machte ihn nicht gerade zu einem vorbildlichen Staatsbürger. Aber ansonsten erschien er Mira recht friedlich. Er war doch nur ein ergrauter Mann mit rundem Bauch und Brille. Mira wollte hören, was er zu sagen hatte. Sie wollte das Ende der Geschichte erfahren. Deshalb schluckte sie ihre Beklommenheit hinunter.
„Du hast gelesen, wie Jesus starb?“
Mira nickte angespannt.
„Dann will ich dir erzählen, wie er auferstand“, sagte Edmund Porter.
„Aufer- was?“, fragte Vera.
Mira griff nach der zur Faust verkrampften Hand ihrer Freundin und drückte sie fest. Veras Panik durfte Edmund Porter nicht davon abhalten, die Geschichte zu Ende zu erzählen. „Das ist, wenn jemand Gestorbenes wieder ins Leben zurückkommt“, flüsterte sie hastig.
Vera starrte Mira an und stieß dann ein nervöses Lachen aus. „Das glaubst du aber nicht wirklich, oder?“
Sie sahen beide zu Edmund Porter, über dessen Gesicht ein Lächeln huschte. Ihr Entsetzen schien ihn zu amüsieren. „Es war am dritten Tag nach der Kreuzigung“, ergriff er wieder das Wort „als zwei Frauen zu seinem Grab kamen. Es war leer.“
„Vielleicht hat ihn einfach jemand gestohlen“, sagte Vera schnell. Sie hatte ihre Bewegungslosigkeit überwunden und zerrte an Miras Arm. „Komm schon, jetzt lass uns endlich gehen. Diese ganze Sache ist zu gefährlich! Nur wegen einer blöden Geschichte …“
„Gestohlen“, wiederholte Edmund Porter nachdenklich. „Ja, das haben einige böse Zungen damals auch behauptet. Aber die beiden Frauen berichteten des Weiteren, sie wären ihm begegnet. Und was deine ursprüngliche Frage angeht, Mira: Jesus traf auch noch einmal seine Freunde und sprach mit ihnen. Dann ging er zu Gott zurück.“
„Gott?“, echote Vera. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und schien einem hysterischen Anfall nahe.
„Das ist sein Vater“, erklärte Mira. „Und er ist wohl so was wie ein … König?“ Sie sah mit gehobenen Brauen zu Edmund Porter.
Er lächelte. „Es ist doch alles recht viel, um es sofort zu begreifen“, sagte er ruhig. „Ich will nicht, dass auch nur eine eurer Fragen unbeantwortet bleibt. Aber dafür gibt es einen besseren Ort und ganz gewiss einen besseren Zeitpunkt als mitten in der Nacht.“
Nun schließlich nahm er Mira das Buch doch noch ab, und mehr denn je schmerzte es sie. Sie wollte es festhalten, es ihm nicht geben. Aber es glitt aus ihrer Hand, ohne dass sie Widerstand leistete.
„Du wirst alles erfahren“, versicherte Edmund Porter mit seiner ruhigen, fast trägen Stimme. „Kommt am Montag wieder, dann lasse ich euch Zeit und Treffpunkt wissen. Ich denke, ich brauche euch nicht zu sagen, dass alles, was wir innerhalb dieser vier Wände besprochen haben, unter uns bleiben muss. Das habt ihr verstanden, nicht wahr?“
Mira bejahte und sah zu Vera, die zögerlich nickte.
„Und jetzt geht. Nehmt den Weg durch die Kirschgasse – dort gibt es keinen Wachposten.“ Sie fragten nicht, woher er das wusste. Wenn sie eines begriffen hatten, dann dass der freundliche Buchladenbesitzer nicht der gesetzestreue und harmlose Mann war, der er zu sein vorgab.
Am Montag im Unterricht saß Mira wie auf Kohlen. Eigentlich hätte sie von den vergangenen Nächten übermüdet sein müssen, doch sie war hellwach und aufgedreht wie eine Spieluhr. Allerdings fiel es ihr schwer, diese Wachheit in Konzentration auf Staatswirtschaft umzuwandeln.
Professor Winkelbauer ließ sie Essays über die Fortschritte der Landwirtschaft schreiben. Während sie über ihren Heften brüteten, ging er mit kritischer Miene durch die Reihen und brachte die Schüler aus dem Konzept, indem er über ihre Schulter starrte und mitlas.
Staatswirtschaft war nicht gerade Miras Lieblingsfach, aber sie schlug sich doch ganz gut. Nur heute kam sie nicht recht voran, und während Professor Winkelbauer ihr zusah, konnte sie ihre Hand kaum dazu bewegen, auch nur ein einziges Wort zu Papier zu bringen. Minutenlang starrte sie auf ihren halb fertigen Satz: „Obwohl die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln derzeit noch nicht zu hundert Prozent gewährleistet ist, machen sich auch in der Landwirtschaft die positiven Auswirkungen von König Auttenbergs Gesetz zur Einstellung des Imports bemerkbar, wo die Erträge dank der Reduktion minderwertiger Fremdware und …“
Vera hatte wohl etwas Ähnliches geschrieben. Allerdings hatte sie nicht ein ganz so glückliches Händchen für klangvolle Formulierungen wie Mira. Bei ihr hinterließ die ganze Geschichte einen etwas anderen Eindruck.
„ … gibt es seit dem Importverbot nach wie vor nicht genug Essen für die Bevölkerung.“ Professor Winkelbauer war einen Platz weitergegangen und las über Veras Schulter hinweg mit gekräuselten Lippen laut vor. „Obwohl alle Lebensmittel rationiert wurden, ist es den Landwirten bisher nicht gelungen, genug anzubauen, um alle Bürger zu versorgen. Was, wenn ich fragen darf, soll das heißen, Frau Petersen?“
Vera starrte auf ihr Heft und drückte den Kugelschreiber in ihrer Hand so fest, dass Mira befürchtete, er könnte jeden Moment zerspringen und seine Feder quer durch den Klassenraum schießen.
„Frau Petersen“, wiederholte Professor Winkelbauer. „Was wollen Sie damit sagen? Etwa, dass unser Staat nicht imstande ist, seine Bürger zu versorgen?“
„Nein, Professor“, murmelte Vera, aber der Lehrer hörte ihr gar nicht zu.
„Oder dass unsere Landwirte nicht hart genug arbeiten?“, fuhr er fort. „Ist es das, was Sie mit Ihrer kleinen Hetzschrift zum Ausdruck bringen wollen?“
„Nein, Professor Winkelbauer“, quiekte Vera ängstlich. Sie war in sich zusammengesunken und schon halb hinter der Tischplatte verschwunden. Mittlerweile hörte die ganze Klasse zu; manche betroffen, andere erleichtert, dass es nicht sie getroffen hatte, und wieder andere hämisch grinsend. Daphné Baron hatte ihren Stift weggelegt und sich zurückgelehnt, um ja nichts zu verpassen – eine Dreistigkeit, die abgesehen von ihr keiner gewagt hätte. Herr Baron war ein Arbeitskollege von Miras Vater im Gericht.
„Haben Sie schon einmal die Bedingungen gesehen, unter denen unsere Landwirte arbeiten?“ Professor Winkelbauer war noch längst nicht fertig. Sein krauser Schnurrbart vibrierte bei jedem Wort. „Waren Sie jemals dort draußen auf den Feldern und haben die Knochenarbeit gesehen, die unsere Arbeiter Tag für Tag verrichten, um diesem Volk ein Leben in Unabhängigkeit zu ermöglichen? Nun antworten Sie schon!“
„N … nein, Professor“, Vera schien nun den Tränen nahe. So aufgelöst war sie nicht einmal Samstagnacht gewesen, als sie beinahe nach Ausgangssperre mit einer verbotenen Schrift draußen auf der Straße erwischt worden wären. Alle hatten Respekt vor Professor Winkelbauer, doch Vera schien ihn regelrecht zu fürchten.
Kein Wunder; bei ihr schlug er einen ganz anderen Umgangston an als bei seinen übrigen Schülern. Rotgesichtig schritt er hinter Vera auf und ab, während er einen Vortrag über die harte Arbeit der Landwirte und ihre beeindruckenden Errungenschaften hielt. Vera wagte nicht, sich zu ihm umzudrehen, aber wahrscheinlich musste sie weder seine Gesichtsfarbe noch seine Miene sehen, um zu wissen, dass er kurz vor einer Explosion stand.
„Ich denke“, schloss der Professor schließlich und klang jetzt regelrecht gehässig, „dass es Ihnen nicht schaden könnte, ein zusätzliches Referat zu diesem Thema vorzubereiten. Ich erwarte es in einer Woche schriftlich auf meinem Schreibtisch und lasse Sie wissen, wann Sie Ihre gesamte Klasse mit Ihren Gedanken über die derzeitige Landwirtschaft beglücken können.“
Ein paar verhaltene Lacher lenkten ihn von Vera ab. „Wer hat Ihnen allen eigentlich erlaubt, mit dem Schreiben aufzuhören?“, blaffte er und beobachtete, wie sich die Schüler – abgesehen von Daphné Baron – wieder über ihre Arbeiten beugten. Aber Mira war sich fast sicher, dass er nicht erst jetzt bemerkt hatte, dass alle Anwesenden zuhörten, wie er wieder einmal Vera Petersen schikanierte.
„Ich komme nicht mit“, eröffnete Vera, als sie am frühen Nachmittag die Schule verließen. Es war Mitte März, und ein kühler Wind fegte durch die Straßen.
„Was?“ Mira musste sich beeilen, um mit Veras Tempo Schritt zu halten. Sie machte nicht gerade den Eindruck, als wolle sie hierbleiben. Hier, in der Schule, am Ort zahlreicher Demütigungen und Anfeindungen. „Der Unterricht ist vorbei“, setzte Mira an, aber Vera – fast einen Meter vor ihr – schnaubte.
„Bitte, Mira, stell dich jetzt nicht dumm. Ich sagte, ich komme nicht mit“, erklärte sie mit mehr Nachdruck, als Mira jemals in Veras dünner Stimme gehört hatte. „Nicht mit du-weißt-schon-wohin.“
„Was … doch!“ Mira verfiel in einen leichten Trab, um zu Vera aufzuschließen. „Doch, Vera, natürlich kommst du mit zu ‚Porters Höhle‘. Du musst einfach!“
„Ich muss genug andere Dinge“, entgegnete Vera. „Zum Beispiel dieses irrsinnige Referat vorbereiten. Als hätten wir mit den Hausaufgaben und dem Lernen nicht schon mehr als genug zu tun! Und vor der ganzen Klasse diesen Seiltanz vollführen, mich an die Fakten zu halten und es Winkelbauer recht zu machen. Und das alles, während Daphné Baron mich feixend beobachtet und zu Hause jedes falsche Wort, das ich gesagt habe, ihrem Vater erzählt, der es dann an Filip auslässt und es ihm im Staatsdienst noch schwerer macht. Das muss ich, und das reicht mir völlig. Ich kann nicht noch mehr Schwierigkeiten gebrauchen, Mira!“
Ihre Stimme überschlug sich, während das alles aus ihr heraussprudelte. Ein paar Mitschüler, die vor ihnen liefen, drehten sich nach ihnen um, aber Mira verzichtete darauf, Vera zu ermahnen, ihr Geheimnis nicht so herumzuposaunen. Sie wussten beide ganz genau, wie gefährlich diese Geschichte war. Wenn Mira sie dabeihaben wollte, durfte sie Vera nicht auch noch daran erinnern.
„Unsere Familien arbeiten im Staatsdienst.“, fuhr Vera leiser fort. „Und wir können froh darüber sein. Den Leuten draußen in den Armenvierteln geht es nicht so gut wie uns.“ Sie machte eine ungenaue Geste in Richtung Stadtmauer, welche die Innenstadt von den äußeren Bezirken trennte. „Willst du das alles wirklich für ein Buch aufs Spiel setzen?“
„Nein, aber … Vera, ich muss wissen, warum sie diese Geschichte verboten haben. Ich sehe nichts Gefährliches an einem Mann, der Kranke gesund gemacht und Menschen geholfen hat.“
„Dann vielleicht an einem Mann, der angeblich zuerst tot und dann wieder lebendig war?“, flüsterte Vera heiser. „Mira, bitte! Es ist nicht unsere Aufgabe, zu entscheiden, was gut für uns ist und was nicht. Das Komitee für verbotene Schriften wird schon wissen, warum sie dieses Buch nicht erlauben.“
Bis vor wenigen Tagen hätte Mira ihr zugestimmt. Ein bisschen wehmütig, weil sie zu gerne gewusst hätte, was es mit den verbotenen Schriften auf sich hatte, aber doch im festen Glauben, dass der Staat hier und in allem anderen im Recht war. Aber dieses Buch. Dieser Mann, dieser Jesus. Wie konnte Mira jetzt, wo sie seine Geschichte kannte, zur Normalität zurückkehren und es einfach so hinnehmen, dass er und seine wundersame Geschichte verboten waren?
„Was, wenn sie keinen guten Grund haben?“ Mira ballte die Hände zu Fäusten. „Oder einen Grund, mit dem ich nicht einverstanden bin? Was, wenn sie uns nur etwas vorenthalten wollen, das ihnen nicht gefällt?“
„Mira!“ Vera sah aus, als würde sie ihr am liebsten den Mund zuhalten. Sie blickte panisch nach links und rechts, ob jemand Miras aufbrausende Rede gehört hatte. „So kannst du nicht reden. Das kostet dich Kopf und Kragen. Und mich auch. Und deine Familie! Dein Vater arbeitet für den Staat, den du da hintergehst. Was meinst du, was sie mit ihm machen, wenn seine Tochter zur Gesetzesbrecherin wird? Bestenfalls verliert er nur seinen Job und nicht seinen Kopf.“
Mira schluckte. „Jetzt mach mal –“
„Halblang? Mira, schau dir meinen Vater an. Schau, was ihm passiert ist und was das mit meiner Familie gemacht hat.“ Auch Vera hatte die Fäuste geballt. Mira war nicht sicher, aber es hatte fast den Anschein, als schimmerten Tränen in ihren Augen.
„Filip hat so hart gearbeitet, um trotz der Fehler, die mein Vater gemacht hat, eine gute Stelle zu bekommen. Ich kann nicht alles riskieren, was er erreicht hat, nur um mir verbotene Geschichten anzuhören!“
Mira dachte an Filip, der so pflichtbewusst und so verbissen arbeitete, und daran, wie er manchmal völlig übermüdet von seinen zahlreichen Doppelschichten zurückkam, wenn sie und Vera gerade über ihren Hausaufgaben am Esstisch im Wohnzimmer der Petersens saßen. Sie dachte daran, wie er nach Dienstschluss Papierkram für die Staatsbeamten in der Verwaltung sortierte oder gar Orden polierte, um sich mit ihnen gutzustellen, und sie schämte sich dafür, dass sie ihn für seine Unterwürfigkeit verachtet hatte. „Du hast recht“, flüsterte sie traurig. „Das kannst du ihm nicht antun.“
Vera sah überrascht auf. Hinter ihren Ponyfransen glitzerten ihre Augen immer noch verdächtig. Fast glaubte Mira, ihre Freundin hätte darauf gehofft, sie würde sie überreden. Jedenfalls hatte sie nicht damit gerechnet, dass Mira nachgab.
„Es ist in Ordnung. Du musst tun, was du für richtig hältst. Aber ich muss auch tun, was ich für richtig halte. Und ich glaube, ich muss mir zumindest anhören, was Herr Porter zu sagen hat.“
Kapitel 4
Der verbotene Turm
Das winzige Glöckchen bimmelte, als Mira die Tür zu „Porters Höhle“ aufstieß. Das schrille Geräusch war ihr nie so bewusst aufgefallen wie heute. Ihre Nerven lagen blank, und ein inneres Zittern schüttelte sie.
Edmund Porter war am Tresen beschäftigt. Außer ihm befanden sich noch drei weitere Leute in der Buchhandlung. Ein hagerer Mann in blauer Uniform inspizierte diejenigen Buchreihen, die auf seiner Augenhöhe waren, als ließe seine steife Haltung es nicht zu, den Kopf in den Nacken zu legen oder sich gar zu bücken. Im linken Flügel des Ladens blätterte ein knapp eineinhalb Meter großer, dunkelhäutiger Junge in einem dicken Wälzer, während ein anderer, der wie eine etwas kleinere Ausgabe von ihm aussah, unablässig an seinem Ärmel zupfte und „Nathaniel, komm schon, Nathaniel“ jammerte. Beide hatten sie krauses, schwarzes Haar und Haut, die an die Farbe von Schokolade erinnerte. Nicht an die gelbliche Ersatzschokolade, sondern an richtige, echte Schokolade, wie es sie früher gegeben hatte. Mira hatte Bilder davon gesehen.
„Mira Robins“, begrüße Edmund Porter sie, und der blau uniformierte Wachmann drehte sich um und nickte ihr flüchtig zu. Vielleicht gehörte er zur Einheit ihres Vaters. Miras Herz flatterte noch ein wenig aufgeregter. „Wieder ein neues Buch?“, fragte Edmund Porter mit strahlendem Lächeln. „Sieh dich nur um.“
Mira machte den Mund auf, sagte aber nichts. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Wie um alles in der Welt wollte Edmund Porter ihr irgendwelche Informationen geben, während es in seinem Laden vor Kunden wimmelte und ein Wachmann durch die Regalreihen streifte und jedes Wort hören konnte, das sie sprachen?
Widerstrebend sah Mira sich nach einem Regal um, das sie durchkämmen konnte. Sie fand, dass es das Beste war, sich ganz normal zu verhalten. So wie an jedem anderen Tag, an dem sie ein Buch aus „Porters Höhle“ geliehen hatte.
Während sie mit den Fingerkuppen an den Buchrücken entlangstrich und nur recht selten ein Exemplar aus den Reihen zog, spürte sie, wie Edmund Porter sie beobachtete. Sie las nicht einmal die Titel, sondern lauschte auf die Geräusche im Laden. Edmund Porter notierte mit kratzendem Stift etwas auf Papier, der Wachmann studierte völlig geräuschlos Buchrücken, und einer der beiden Jungen tippelte mit den Füßen auf dem abgewetzten Holzboden. „Können wir jetzt gehen?“
Mira sah vorsichtig über ihre Schulter. Wenn die beiden Jungen gingen, wäre sie alleine mit Edmund Porter und dem steifen Wachmann. Doch sie bezweifelte, dass er den Laden zeitnah verlassen würde, auch wenn sein Interesse sich sichtlich in Grenzen zu halten schien. Er studierte die staubigen Buchrücken mit einer Mischung aus Neugier und Ekel.
„Pscht, Theodore.“ Der ältere Junge blätterte mit seiner dunklen Hand die blassen Buchseiten um. Das Rascheln des Papiers war für einen Moment das einzige Geräusch, dann drohte der kleinere Junge ungeduldig: „Dann geh ich alleine.“
Mira ließ sich in die Hocke sinken und zog ein großes, schweres Buch mit einem eingeprägten Elefanten auf dem Einband heraus. Sie konnte es ebenso gut aufschlagen und vorgeben, zu lesen.
„Die schimpfen, wenn du mich alleine gehen lässt“, erklärte der Junge vernehmlich.
„Dich, nicht mich“, gab sein großer Bruder zurück, aber Mira konnte hören, wie er das sperrige Buch zuschlug. Über die Seiten des Elefantenbuches hinweg sah sie zu, wie er es ins Regal zurückstellte und stattdessen scheinbar wahllos ein handlicheres Büchlein herauszog. Er brachte es geradewegs zu Edmund Porter an den Tresen.
„Ah“, sagte dieser lächelnd. „Eine gute Wahl. Ihr entschuldigt mich einen Moment.“ Er schob seine runde Brille zurecht. „Ihr wisst, die Listen … nichts geht hier ohne Listen.“ Er verschwand mit dem Buch im Hinterzimmer. Theodore, der jüngere der beiden Brüder, vergaß ganz sein ungeduldiges Auf-und-ab-Wippen. Er starrte Edmund Porter nach, bis Nathaniel ihn mit dem Ellbogen anstieß und er seine Aufmerksamkeit wieder den Regalen um sich herum zuwandte. Als er bemerkte, dass Mira sie beobachtete, zuckte er zusammen, entblößte dann aber hastig seine blitzweißen Zähne zu einem Grinsen.
Schnell senkte Mira ihren Blick wieder auf ihr Buch. Hinter ihr ging der Wachmann quer durch den Raum und betrachtete jetzt ein anderes Regal eingehend.
„Hier, bitte schön.“ Edmund Porter war zurückgekehrt und reichte Nathaniel und Theodore ihr Buch. „Ich wünsche viel Freude damit.“
„Danke.“ Der Kleinere schnappte sich das Buch, und seinem älteren Bruder blieb nichts anderes übrig, als Edmund schnell eine kleine, ausgestanzte Rationskarte auf den Tresen zu werfen und dem Jüngeren hinterherzueilen. Das Glöckchen bimmelte, und Mira sah den beiden durch die Glastür nach. Nathaniel hatte seinen Bruder eingeholt, nahm ihm das Buch ab und begann mit ziemlich ärgerlicher Miene auf ihn einzureden. Mira beobachtete ihren verbalen Schlagabtausch, bis sie außer Sichtweite waren.
Edmund Porter nahm die Rationskarte und steckte sie in seine Tasche. Er hatte sie nicht einmal angesehen, um etwa zu überprüfen, ob sie eine angemessene Bezahlung für ein geliehenes Buch war. Vielleicht gehörten die beiden Jungen genau wie Mira zu Edmunds Stammkunden und genossen eine gewisse Sonderbehandlung. Vielleicht war Edmund Porter aber auch einfach insgesamt nachlässig mit dem Entgegennehmen seines Lohns. Mira hatte oft gesehen, wie er im Tausch für ein Buch Verbrauchswaren statt Rationskarten angenommen hatte; Butter und Eier etwa oder den süßen Tabak, den er regelmäßig in seiner Pfeife rauchte. Auch besaß er nicht einmal einen der kleinen, silbernen Scanner, unter die man in jedem anderen Geschäft, das Mira kannte, sein Armband mit der neunstelligen Identifikationsnummer halten musste. Für jeden anderen Handel musste sie sich auf diese Art ausweisen, selbst wenn sie nur einen halben Laib Brot kaufen wollte.
„Nun?“ Sie zuckte zusammen, als Edmund Porters warme Bassstimme plötzlich dicht neben ihr erklang. „Du bist auch fündig geworden?“