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„Ähm …“ Mira sah auf das Elefantenbuch hinunter. Sie hatte noch keinen vollständigen Satz gelesen. Vorsichtig hielt sie über die Schulter nach dem Uniformträger Ausschau. Er stand nahe genug, um jedes Wort zu hören, das sie mit Edmund wechselte.
Ohne jedoch eine Antwort abzuwarten, riss Edmund Porter ihr das Buch aus den Händen. „Ich trage es für dich ein“, erklärte er freundlich.
Ein leichter Anflug von Ärger breitete sich in Mira aus. Sie hatte den ganzen Tag darauf gewartet, hierherzukommen. Und jetzt komplementierte Edmund Porter sie einfach so wieder hinaus. Dabei hätte er sich denken können, dass ein Wachmann hier sein würde. Sie hatten ein sehr aufmerksames Auge auf die Buchhandlung und die Menschen, die hierherkamen. Er hätte wissen müssen, dass er Mira hier keine Informationen würde geben können.
Frustriert wartete sie auf seine Rückkehr und nahm ohne große Begeisterung das Buch mit dem Elefanten entgegen. Sie vergaß sogar ganz, Edmund dafür die Brotrationskarte zu überreichen, die sie mitgebracht hatte. Brotrationen gab ihr Vater nur selten und sehr ungern her. Meist bezahlte Mira Edmund mit den Sonderrationen, die Gerald Robins ihr ohne große Nachfragen überließ, und die waren so wertvoll, dass sie danach für eine ganze Weile nichts mehr mitzubringen brauchte.
„Ich möchte wetten“, lächelte Edmund Porter, als hätte er ihre missmutige Miene gar nicht bemerkt, „dass wir uns spätestens übermorgen wiedersehen.“
Mira sah von dem Elefanten zu Edmund Porter, der ihr für den Bruchteil einer Sekunde verschwörerisch zublinzelte. Dann wandte er sich dem Wachmann zu, der immer noch die Regale inspizierte: „Und kann ich Ihnen vielleicht auch behilflich sein?“
„Danke“, erwiderte der Mann so steif, wie er sich bewegte. „Ich sehe mich nur um.“ Natürlich tat er das. Allerdings gewiss nicht, um sich ein Buch zu leihen. Er war einzig und allein hierher beordert worden, um einen Laden, in dem mit so fragwürdiger Ware wie Büchern gehandelt wurde, im Auge zu behalten.
„Aber vielleicht kann ich Ihnen etwas empfehlen.“ Edmund Porter nickte Mira zu und ließ sie stehen. „Manchen dieser Bücher sieht man gar nicht an, was in ihnen steckt, ehe man sie nicht geöffnet hat.“
Obwohl er sie bei diesen Worten keines Blickes würdigte, fühlte Mira Aufregung in sich aufsteigen. Mit einem kurzen Blick vergewisserte sie sich, dass der Wachmann beschäftigt war, dann klappte sie den Deckel des schweren Buches in ihren Händen auf. Und tatsächlich: Auf der ersten gelblichen Seite lag ein kleiner, weißer Zettel, auf dem nur eine einzige Zeile notiert war: ein Tag, eine Uhrzeit und ein Ort.
Als sie an diesem Abend mit ihren Eltern zu Abend aß, fiel es Mira schwer, an etwas anderes zu denken als an die handschriftliche Notiz, die sie in ihrem geliehenen Buch gefunden hatte. Das war besonders gefährlich, weil ihre Aufmerksamkeit gefragt war. Ihr Vater fragte sie über den Abendbrottisch hinweg in Staatsgeschichte ab, während ihre Mutter sicherzustellen versuchte, dass Mira genug aß. Im Hintergrund schrubbte Iliona die Anrichte und behielt dabei Teller und Gläser der Familie im Auge, um rechtzeitig Nachschub zu bringen.
„Wem haben wir den Erlass zum Verbot konspirativer Kleinstgruppen zu verdanken?“, fragte Miras Vater zwischen zwei Bissen Schwarzbrot mit dünnen Schinkenscheiben, die ihre Mutter diese Woche von den Fleischrationskarten gekauft hatte.
„Joachim Burkhardt. Burkhardthausen ist nach ihm benannt“, antwortete Mira, konnte ihre Gedanken aber nicht von dem kleinen Zettel losreißen. „Mittwoch, 18 : 00 Uhr, Westturm“, hatte auf dem Papier gestanden, das Edmund Porter in den dicken Wälzer gelegt hatte, der das erste Buch sein würde, das Mira ungelesen zurückbrachte.
Mira hatte gewusst, dass sie unter der ständigen Überwachung und dem Schutz ihrer Eltern aufgewachsen war. Aber die Erwähnung des Westturms hatte ihr verdeutlicht, wie behütet sie wirklich lebte. Sie hatte das sichere Innenstadtviertel noch nie verlassen und war deshalb niemals auch nur in die Nähe des Westturms am Stadtrand gekommen. Er lag zwischen den Randvierteln und den Feldern. Niemals hätten ihre Eltern sie einen Fuß in eine solche Gegend setzen lassen.
Ihre Mutter, die schon eine Weile dabei zugesehen hatte, wie Mira ihr Brot auf dem Teller hin und her schob, runzelte die Stirn. „Iss endlich dein Schinkenbrot, Miriam. Du bist schon ganz schmal.“
„Zu welchem Zweck?“, fragte Miras Vater.
„Weil es ungesund ist, sich nicht ausgewogen und ausreichend zu ernähren!“, rief ihre Mutter, die Mira immer noch musterte, als könne sie jeden Moment aufgrund von Mangelernährung ohnmächtig oder tot vom Stuhl kippen.
„Meine Güte, Rose!“ Gerald Robins schüttelte unwillig den Kopf und nahm sich noch eine Scheibe Schinken. „Zu welchem Zweck das Verbot erlassen wurde.“
Mira antwortete lieber, als zu essen. Sie hatte beim Gedanken an Mittwochabend einen dicken Kloß im Hals und befürchtete, keinen Bissen hinunterzubekommen.
„Kleinstgruppen sind Minderheiten, deren Einstellungen nicht mit den Grundfesten unseres Staates einhergehen“, antwortete sie, als hätte sie das Staatsgeschichtsbuch verschluckt. „Gibt man solchen Gruppen die Gelegenheit, sich im Privaten zu treffen, ist das Risiko eines Aufstandes groß.“
„Was sind die Merkmale solcher Gruppen?“, fragte Gerald Robins weiter, was bedeutete, dass er mit Miras Antwort zufrieden war. Wenn er nicht nachhakte, war das meist ein Zeichen seiner Zustimmung.
„Kritik an Staat und König, regelmäßige Zusammenkünfte“, zählte Mira auf.
„Das Schinkenbrot“, erinnerte ihre Mutter und lehnte sich zurück, damit Iliona ihr Glas mit mehr trübem Apfelsaft füllen konnte.
„Unsinn, Rose! Was hat denn nun das Schinkenbrot damit zu tun?“
„Internationalitätsgedanken, Rituale, traditionelles Lied- und Schriftgut“, ratterte Mira weiter herunter. „Aufstellen eigener Anführer und Verehren anderer Autoritäten als dem König. Warum ist es eigentlich verboten, in die Außenviertel zu gehen?“, fragte sie dann, ohne Atem zu holen, möglichst beiläufig.
Iliona hielt beim Nachschenken inne, und ihr Vater ließ sein Schinkenbrot sinken. „Hat das etwas mit Staatsgeschichte zu tun?“, fragte er misstrauisch.
„Nein“, gab Mira zu. „Mir ist nur aufgefallen, dass ich noch nie dort draußen war.“
„Über welch unnütze Dinge du dir Gedanken machst, Miriam. Wozu solltest du dich denn dort draußen herumtreiben wollen?“ Er hob sein Schinkenbrot wieder an, als wäre die Sache damit erledigt.
„Es gibt sogar eine Mauer. Und Wachposten, die verhindern, dass jemand sich nach dort draußen verirrt“, beharrte Mira.
„Die Mauer“, sagte ihr Vater und fixierte Mira über den Tisch hinweg mit einem durchdringenden Blick, „ist in erster Linie dazu da, die Außenstädter davon abzuhalten, in die Innenstadt zu kommen, und nicht umgekehrt.“ Sein Blick wanderte zu Iliona, die das Glas hastig bis zum Rand füllte und sich dann wieder hinter die Anrichte zurückzog.
„Iliona kommt aus den Außenvierteln!“, stellte Mira fest, und das Mädchen zuckte beim Klang ihres eigenen Namens ertappt zusammen.
„Iliona arbeitet in der Innenstadt“, entgegnete ihr Vater. „Sie hat einen Passierschein.“
„Und den braucht man nur, wenn man von draußen hineinwill?“ Mira nahm den ersten richtigen Bissen von ihrem Schinkenbrot, um der Frage damit etwas Beiläufiges zu geben.
Ihr Vater seufzte. „Den brauchen nur die Außenstädter. Die Innenstädter haben überhaupt keinen Grund, nach dort draußen zu gehen.“
„Es ist ja auch viel zu gefährlich“, schaltete sich Miras Mutter ein.
„Muss man sein Ausweisband scannen, wenn man hinausgeht?“, fragte Mira, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, wie viel von der Antwort auf diese Frage abhing. Wenn sie ihre Identifikationsnummer brauchte, um das Stadttor zu passieren, konnte sie ihrem Vater ebenso gut gleich Bericht erstatten, wohin sie ging. Alle Daten wurden gesammelt – wer wann wie viele Rationskarten erhielt, gegen Lebensmittel oder Kleidung eintauschte, zur Arbeit oder zur Schule ging oder sich etwas zuschulden kommen ließ. Ihr Code würde eine nur allzu leicht verfolgbare Spur hinterlassen.
„Nein“, sagte ihr Vater jedoch. „Was für eine Verschwendung wertvoller Technik. Die Innenstädter gehen nicht nach dort draußen. Sie haben in den Außenvierteln nichts zu suchen, und kein Wachmann, der noch ganz bei Verstand ist, würde jemanden ohne einen sehr guten Grund passieren lassen.“
Unwillkürlich huschte Miras Blick zu Iliona, die den Lappen so fest umklammerte, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Dabei wagte sie nicht ein einziges Mal, den Blick zu heben. Vielleicht, weil sie nicht wollte, dass jemand die zornigen Tränen sah, die sich bei Gerald Robins abfälligen Worten in ihren Augen angesammelt hatten.
Mira versuchte mühsam, das Stückchen Brot, auf dem sie seit geraumer Zeit herumkaute, hinunterzuschlucken. Es kratzte in ihrer trocken gewordenen Kehle. Sie hustete und hätte am liebsten gefragt, was mit den Menschen in den Armenvierteln so verkehrt war. Immerhin war auch Miras Familie nicht sonderlich reich. Niemand war das. Sie alle waren auf die Rationen angewiesen, die ihnen vom Staat zugeteilt wurden. Und Miras Familie beschäftigte doch selbst jemanden aus den Außenvierteln.
Aber solche Fragen konnte Mira nicht stellen. Auch dann nicht, als sie den Bissen endlich hinuntergeschluckt hatte und wieder genug Luft bekam. Wenn sie ihrem Vorhaben für Mittwochabend keine Steine in den Weg legen wollte, war es sicher nicht klug, weiterhin so reges Interesse an den Armenvierteln zu äußern.
Am Dienstagmorgen im Unterricht studierte Mira ihr Staatswirtschaftsbuch besonders genau. Im hinteren Teil des Buches waren verschiedene Landkarten und Stadtpläne abgedruckt, darunter auch einer ihrer Heimatstadt Leonardsburg. Mira war weiterhin wild entschlossen, morgen Abend um sechs Uhr zum Westturm zu gehen, was auch immer sie dort erwartete. Was ihr noch fehlte, war ein handfester Plan, wie sie unbemerkt an den Wachposten vorbeikommen sollte, die an den Stadttoren stationiert waren.
„Wir sind auf Seite 93“, raunte Vera ihr zu, die sie aus dem Augenwinkel beobachtete. Sie hatte mit keinem Wort nach ihrem gestrigen Besuch in „Porters Höhle“ gefragt, und so hatte Mira Mittwochabend und den Westturm auch mit keinem Wort erwähnt. Je weniger Leute davon wussten, desto besser. Außerdem war es Veras eigene Schuld; sie hatte sich entschlossen, nicht mitzukommen.
„Ich weiß“, flüsterte Mira zurück und studierte weiter den Stadtplan. Die Innenstadt von Leonardsburg war ein ovaler Kern, der vor allem im Norden und Westen von einem breiten Band aus Randvierteln gesäumt war. Dahinter kamen nur noch Felder und dann brachliegendes Land.
„Ich meine nur“, wisperte Vera hinter vorgehaltener Hand, „weil du auf Seite 148 bist. Aber wir sind auf Seite –“
„Sie halten es nicht für nötig, meinem Unterricht zu folgen – nicht wahr, Frau Petersen?“
Vera sank beim Klang von Professor Winkelbauers Stimme in sich zusammen.
„Sie beherrschen Staatswirtschaft bereits aus dem Effeff. Ist dem nicht so?“, fragte Winkelbauer boshaft. „Weshalb Sie mir gewiss auch sagen können, welche Güter man jahrhundertelang unnütz importiert hat, obwohl man sie problemlos ersetzen oder hier anbauen kann.“ Er wandte sich zur Tafel um und schrieb: „Unnütze Importe.“
Vera schluckte vernehmlich. „Ja“, brachte sie dann heraus und starrte Winkelbauers knochigen Rücken an, den er ihnen beim Schreiben zuwandte. „Ähm … das Erdöl und …“ Sie sah Hilfe suchend zu Mira.
„Baumwolle“, wisperte diese. „Tabak. Kaffee. Kakao und Zucker.“
Vera schüttelte panisch den Kopf und formte ein „Was?“ mit den Lippen.
Winkelbauer wandte sich wieder zu ihnen um, und sein Mund kräuselte sich zu einem gehässigen Lächeln. „Das ist alles?“
Schnell griff Mira in ihre Tasche und zog eine winzige Packung Ersatzschokoladenkekse heraus. „Kakao und Zucker“, flüsterte sie und deutete unter dem Tisch auf die Süßigkeit.
Vera wagte kaum, einen kurzen Blick zu Mira zu werfen. Dann zwang sie sich sichtlich dazu, sich zu entspannen, und sagte mit lauter und bemüht fester Stimme: „Ersatzschokoladenkekse.“
Daphné, die sich umgedreht hatte, um Vera besser im Blick zu haben, prustete los. Professor Winkelbauer fand Veras Antwort jedoch gar nicht lustig. „Zählen die … Ersatzschokoladenkekse“ – er zog das Wort mit herablassender Stimme in die Länge – „Ihrer Meinung nach zu den primären oder den sekundären Rohstoffen?“
Vera wurde tiefrot und machte den Eindruck, als wäre sie nicht sicher, ob Winkelbauer eine Antwort erwartete oder nicht.
„Wir sprechen uns nach der Stunde“, fuhr er jedoch schon fort und wandte sich wieder seiner Tafelanschrift zu, als wäre Vera auch nicht eine einzige weitere Sekunde wertvoller Unterrichtszeit wert. „Frau Baron, seien Sie so freundlich.“
Daphné fuhr sich durch das honigblonde Haar und wandte sich provokativ langsam wieder nach vorne. Offenbar war sie enttäuscht, dass die Vorstellung schon beendet war.
„Günstige, baumwollfreie Stoffe gehören schon lange zur Standardherstellung in der Textilindustrie“, sagte sie langsam und deutlich. „Zuckerrüben zählen neben rund fünf verschiedenen Getreidesorten zum Hauptertrag unserer Landwirtschaft.“
„In der Tat.“ Winkelbauer notierte die Schlagworte und drehte sich wieder zur Klasse. „Auch Tabak kann in unseren Breitengraden angebaut werden und ist ohnehin genau wie Kaffee und Kakao ein völlig unnützer Luxusartikel. Dennoch“, seine Lippen kräuselten sich gehässig, „stellen wir Ersatzkakao auf Haferbasis her, der sich in der Tat auch in Ersatzschokoladenkeksen befindet.“
Ein paar Mitschüler lachten verhalten, und Vera sah aus, als würde sie am liebsten im Erdboden versinken. Trotzdem stand sie bemerkenswert aufrecht, als sie nach der Stunde an Winkelbauers Schreibtisch trat. Mira hatte absichtlich lange mit dem Einpacken ihrer Sachen herumgetrödelt und war, abgesehen von Winkelbauer und Vera, die letzte Person im Raum.
„Sie haben sich heute selbst übertroffen.“ Winkelbauer verstaute seine Unterlagen sorgfältig in der schwarzen Ledertasche, ohne dabei auch nur zu seinem Gegenüber aufzusehen. „Ich würde an Ihre Eltern schreiben, wenn ich nicht wüsste, dass das bei Ihrer Familie vollkommen nutzlos ist.“
Mira war fertig mit dem Einpacken, und ihr gingen die Entschuldigungen aus, warum sie den Raum noch nicht verlassen hatte. Aber bei so viel Boshaftigkeit, der Vera dort vorne ausgesetzt war, wagte sie nicht, einfach zu gehen. Sie klappte ihre Box mit Stiften vorsichtig auf und warf einen kurzen Blick zu Winkelbauer und Vera. Es schepperte gewaltig, als die Dose auf dem Boden aufschlug und die Stifte in alle Richtungen flogen.
Vera fuhr vor Schreck zusammen. Winkelbauer warf Mira einen finsteren Blick zu. „Jetzt aber schnell, Frau Robins“, mahnte er, hatte für seine Einserschülerin aber keinen bissigen Kommentar übrig.
Stattdessen wandte er sich wieder an Vera: „Ich will Ihnen eine Chance geben, Ihre erbärmlichen Leistungen in Staatswirtschaft zu verbessern. Nicht, dass Sie es verdient hätten.“ Er schnaubte. „Ein befreundeter Landwirt erwartet Sie morgen um vier Uhr, damit Sie ihn für Ihr Referat befragen können. Und ich bitte Sie inständig, Frau Petersen, blamieren Sie mich nicht mit dummen Fragen.“ Seine Stimme triefte nur so vor Zynismus, aber Vera nickte tapfer. „Vier Uhr, pünktlich. Er trifft Sie direkt an seinen Feldern am westlichen Stadtrand.“
Mira, die unter den Tischen über den Boden robbte und ihre Stifte einsammelte, zuckte zusammen. Der westliche Stadtrand. Die Felder hinter den Armenvierteln. Irgendwo dort draußen musste auch der Turm sein.
„Und jetzt sehen Sie zu, dass Sie wegkommen“, beendete Winkelbauer das Gespräch. „Und Sie auch, Frau Robins. Wie lange kann man brauchen, um eine Handvoll Stifte aufzuheben?“
„Lange genug“, dachte Mira mit klopfendem Herzen, „um den Schlüssel zum Westturm auf dem Silbertablett serviert zu bekommen.“
Kapitel 5
Eine andere Welt
Vera, die ohnehin eher schüchtern und still war, gab sich an diesem Tag besonders grüblerisch und in sich gekehrt. Wie automatisch ging sie neben Mira her zum Ausgang des Staatsgebäudes, in dem der Unterricht stattfand. An der Tür hatte sich wie immer eine kleine Schlange gebildet. Ärmel wurden zurückgeschoben und Armbänder unter den Scanner gehalten. Kein staatliches Gebäude durfte von jemandem ohne das Bändchen mit dem neunstelligen Identifikationscode betreten oder verlassen werden.
„Du hättest es wirklich schlimmer treffen können“, erklärte Mira betont vergnügt, während Vera ihr seit dem nächtlichen Ausflug übel zerknicktes Bändchen unter dem Scanner hin und her drehte. „Ein Interview mit einem Fachmann … ich meine, das ist spannend, oder?“
Veras sarkastisches Schnauben stand dem von Professor Winkelbauer in nichts nach.
„Ich würde das alles ja zu gerne einmal sehen“, fuhr Mira fort. Hinter ihnen reckten ihre Mitschüler schon die Hälse, um zu sehen, wer den Strom nach draußen so lange aufhielt. Endlich gelang es Vera, das ramponierte Band mit der freien Hand zu glätten und die Drehtür zu passieren. Hastig streckte Mira ihren eigenen Arm unter die blaue Lichtschranke und folgte ihrer Freundin.
„Wir können gerne tauschen“, brummte Vera.
Der Himmel über der Stadt war verhangen, und der Geruch drohenden Regens lag in der Luft. Die Kälte des Winters war endgültig verflogen, aber noch gab es nur wenige Vorboten des nahenden Sommers. Die Blumen in den Vorgärten und in den Kübeln vor so manchem Fenster hatten heute ihre Kelche geschlossen, und Mira fröstelte in ihrer dünnen Bluse.
„Warst du schon mal draußen auf den Feldern?“, fragte sie im Plauderton, damit Vera ihr die Anspannung nicht anmerkte.
„Klar. Als Kinder haben Filip und ich uns manchmal hinausgeschlichen und da draußen gespielt.“ Widerwillig wandte Vera sich Mira zu. „Wir wussten nicht, dass es verboten ist, sich dort draußen herumzutreiben“, setzte sie nach, als müsse sie sich rechtfertigen. Dabei war kein Wort des Tadels oder der Missbilligung über Miras Lippen gekommen. Im Gegenteil: Sie staunte. Aber mit einem Staatsbeamten als Vater hätte sie wahrscheinlich entsetzt sein müssen, dass Veras Eltern ihren Kindern nicht verboten hatten, dort draußen herumzustreunen.
„Die Leute sind arm dort“, fuhr Vera fort. „Sie tragen zerlumpte Kleider und strecken das Mehl mit Laub oder Stroh, weil sie nicht genug davon haben. Staatliche Erziehungshäuser gibt es nicht, aber dafür jede Menge Kinder. Sie spielen den ganzen Tag auf der Straße.“
Mira hing an Veras Lippen. „Das wusste ich nicht“, gestand sie. „Ich dachte, alle Kinder wachsen in Erziehungshäusern auf. Wie machen die Eltern das dort?“
„Die Mütter arbeiten nicht. Sie kümmern sich um die kleinen Kinder, aber für die größeren hat keiner Zeit. Sie hängen auf der Straße herum und gründen Banden.“
Miras lebhafte Fantasie malte ihr sofort eine wilde Szene vor Augen, in der einige nachlässig gekleidete Jugendliche mit schmutziger Haut und zu langem Haar einen Kampf mit aus Scherben gebastelten Waffen austrugen. „Woher weißt du das alles?“, fragte sie und schob den erschütternden Gedanken beiseite.
„Wir hatten Freunde unter den Jüngeren. Sie haben mit uns auf den Feldern gespielt.“ Sie hatten das Haus der Petersens erreicht, und Vera schloss die Tür auf. „Leider hilft mir solches Wissen nicht im Unterricht. Winkelbauer macht nichts lieber, als mich vor der versammelten Klasse zu schikanieren. Und die anderen genießen es.“
„Daphné genießt es“, sagte Mira. „Und Daphné ist nicht ‚die anderen‘.“
„Daphné ist so etwas wie die Klassenkönigin. Mit einem Justizstaatsbeamten als Vater ist sie wie geboren für diese Rolle.“ Vera warf ihre Schuhe auf einen chaotischen Haufen aus Zeitungen, Schuhen und Mänteln unter dem Garderobenhaken.
Mira stellte ihre daneben. „Mein Vater ist auch ein Justizstaatsbeamter.“
Nun sah Vera auf. „Ich weiß“, sagte sie, aber ihre Miene strafte sie Lügen. Für einen Moment schien sie es tatsächlich vergessen zu haben. Ausgelöscht, dass ihre beste Freundin eine von denen war. Dass Mira prädestiniert dafür war, an Daphné Barons Seite die weniger Angesehenen zu drangsalieren. Dass Mira und Daphné ein Herz und eine Seele sein könnten. Ihre Väter hatten sich das vom ersten Schultag an gewünscht. Aber Mira hatte sich eine andere Freundin gewählt. Eine, die nicht so gut zum Ruf ihrer Familie passte, die aber viel ehrlicher und vertrauenswürdiger war, als Daphné Baron es je sein würde.
„Lass die kleine Baronesse doch spotten, so viel sie will.“ Mira zuckte die Achseln. „Und ihrem Vater soll sie doch über dich erzählen, was auch immer ihr einfällt. Er ist nicht mal Filips Vorgesetzter.“ Genau wie Miras Vater hatte Baron eine Einheit Wachleute unter sich, die ihm auf Gedeih und Verderb folgen mussten. Aber Filip gehörte zur Einheit von Gerald Robins.
„Außerdem werden Winkelbauer und Daphné gar nichts gegen dich in der Hand haben. Mit einem Fachmann als Quelle wirst du ihnen überhaupt keine Gelegenheit zu spotten geben.“
Vera warf ihre Tasche in eine Ecke und nahm zwei Gläser aus dem fast leeren Küchenschrank. Das meiste Geschirr türmte sich schon wieder schmutzig am Spülbeckenrand. „Als würde Winkelbauer nicht trotzdem etwas finden, was ihm an meinem Vortrag nicht passt.“
„Nicht mit mir als Ghostwriter. Ich könnte das Referat für dich schreiben.“
Vera blieb der Mund offen stehen. „Du willst Winkelbauer hintergehen?“
Mira zuckte die Schultern, als sei nichts weiter dabei. „Wenn ich dir damit helfen kann.“ Sie zögerte gerade lange genug, um den Nachsatz nicht übereilt wirken zu lassen: „Natürlich müsste ich mit auf die Felder kommen. Morgen Nachmittag, wenn du den Landwirt triffst.“
Sie beäugte Vera aus dem Augenwinkel und fragte sich, ob sie wohl Verdacht schöpfte. Aber Vera war nicht misstrauisch, und das verursachte Mira fast ein schlechtes Gewissen. Stattdessen fiel ihre Freundin ihr um den Hals: „Ich will sowieso auf keinen Fall allein dorthin!“
Miras Angebot hatte Veras Stimmung erheblich gebessert. Sie kochten sich Nudeln zu Mittag, die sie aus Mangel an weiteren Zutaten mit einer Prise wertvollem Zucker verspeisten, den Vera erst am Vortag gegen gleich drei Rationskarten eingetauscht hatte.
Anschließend klappten sie ihre Schulbücher auf und machten sich an die Staatsgeschichtshausaufgaben. Immerhin verlangte Frau Dr. Steinlein nur selten Essays von ihnen. Die eigene Meinung hatte, wie sie stets betonte, im Staatsgeschichtsunterricht nichts verloren. Hier drehe sich alles um Fakten, Fakten und nochmals Fakten.
Stattdessen ließ sie die Schüler zu Hause ellenlange Texte lesen und zusammenfassen oder gab ihnen Rechercheaufgaben. Der heutige Text erstreckte sich über vierundzwanzig Buchseiten und war nur gelegentlich durch Fotografien wichtiger Dokumente und Personen unterbrochen. Bei solcherlei Aufgaben war es Mira und nicht Vera, die heilfroh war, dass sie die Hausaufgabe meist zusammen erledigten. Vera machte es nichts aus, laut vorzulesen, und Mira hörte ihr zur Hälfte zu und ließ zur anderen Hälfte ihre Gedanken schweifen, weil das meiste dank der regelmäßigen Vorträge ihres Vaters ohnehin nicht neu für sie war.
„ … nach Nicholas Auttenbergs Krönung unklar, ob die in der Verfassung grundgelegte Erbmonarchie in Kraft treten kann, da der Verbleib seines einzigen Sohnes, Carl Auttenberg, weiterhin unbekannt ist. Um die Zukunft der Monarchie zu sichern –“
„Das ist doch nicht zu fassen!“ Mira hatte die Knie angewinkelt und die Fersen auf die Stuhlkante gestützt, während sie sich mit den Knien vom Tisch wegdrückte, sodass ihr Stuhl gefährlich auf den beiden Hinterbeinen wankte. Jetzt ließ sie ihn so heftig nach vorne fallen, dass Vera vor Schreck das Buch zuklappte.
„Was ist nicht zu fassen?“, fragte sie atemlos, während sie die Seite wiederzufinden versuchte. Wahrscheinlich hatte auch sie begonnen, mit ihren Gedanken ein wenig abzuschweifen, doch jetzt waren sie beide hellwach.