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„Das sind wir“, sagte Mira jedoch und streckte ihm die Hand entgegen. „Wir sind Professor Winkelbauers Schülerinnen.“
Othmar führte Vera und Mira durch eine Gasse, an deren Ende ein massiges Holzgebäude stand. Es hatte kein zweites Stockwerk, war dafür aber mehr als zehnmal so breit wie hoch. Neben den schmalen Häusern, die sich dicht an dicht in den Straßen des Armenviertels drängten, wirkte es geradezu lächerlich groß.
„Da wären wir.“ Othmar öffnete ein schweres Schiebetor und ließ sie in das Halbdunkel dahinter treten. Es handelte sich um einen Lagerraum. Leinensäcke, vermutlich voller Getreide, stapelten sich bis an die niedrige Decke; Fässer, Eimer, Bewässerungsschläuche und allerlei Gerätschaften lagen in gut sortiertem Chaos bereit. Alles sah ungeheuer alt und abgenutzt aus, abgesehen von dem blitzsauberen, silbernen Scanner neben der Hintertür und einem Schreibtisch, der in einer Ecke zu ihrer Rechten auf einem Teppich stand und nicht so recht zum Rest der Einrichtung passen wollte.
„Ich wusste nicht, dass ihr zu zweit kommt.“ Othmar ging geradewegs zu dem Tisch, auf dem Unterlagen zu ordentlichen Türmen gestapelt waren.
„Ich begleite Vera“, beeilte Mira sich zu erklären und versuchte, zu wiederholen, was ihr Vater gesagt hatte: „Die Landwirtschaft halte ich für eine spannende Sache. Ein Einblick in das aufblühende Versorgungssystem unseres Staates k-“
„Schon gut!“ Othmar lachte. „Ich dachte, die Jugend interessiere sich nicht für die Landwirtschaft. Aber wenn ihr das alles für so spannend haltet, will ich euch erst einmal herumführen.“ Er zerrte das ledergebundene Notizbuch aus seiner Hosentasche und legte es auf seinen Schreibtisch. „Muss mir alles aufschreiben“, meinte er, als er den Blicken der beiden Mädchen folgte. „Der Kopf ist das reinste Sieb. Wahrscheinlich würde ich am Morgen vergessen, zur Arbeit zu gehen, wenn ich es mir nicht notieren würde.“ Lachend tätschelte er das Notizbuch und kam schließlich um den Schreibtisch herum zu Mira und Vera. „Dann wollen wir mal!“
Sie folgten Othmar durch den Lagerraum und zur Hintertür. Mira staunte, als er die Torflügel aufschwang und stolz nach draußen wies. Aber es war kein gutes, beeindrucktes Staunen, auch wenn Othmar ihren Blick hoffentlich so deutete, sondern eines, das sich mit Entsetzen mischte.
Leonardsburg lag hinter ihnen. Auf der anderen Seite des Gebäudes erstreckten sich nur noch die Felder. Hellbraune, dunkelbraune, grüne und gelbliche Quadrate, die sich wie ein Flickenteppich bis zum Horizont aneinanderreihten. Kein Strauch, kein Baum, nichts, das in den heißen Sommermonaten Schatten spenden konnte oder bei Regen Schutz vor Wind und Wetter bot.
Nun wusste Mira auch, warum Othmar nicht aussah, wie sie sich einen Mann vorgestellt hatte, der sommers wie winters draußen auf den Feldern arbeitete, pflügte, pflanzte, pflegte, bewässerte und erntete. Die Wahrheit war, dass Othmar vermutlich einen Großteil seiner Zeit am Schreibtisch verbrachte und andere für sich schuften ließ.
Sie beugten die Rücken über ihre Arbeit. Ganze Reihen von ihnen tummelten sich dort draußen. Von Hand lockerten die einen mit kleinen Harken die Erde auf, während andere Unkraut ausrissen und in große Körbe warfen, die sie bei sich trugen. Mit Sensen wurden Wiesen gemäht, aus schwarzen Säcken Dünger verteilt und mit monströsen Spritzen winzige, grüne Pflänzchen mit Insektiziden besprüht.
„Wir sind eines der größten Unternehmen der Region“, erklärte Othmar stolz, „das fast zu hundert Prozent ohne Fahrzeuge auskommt. Es gibt Firmen, die alte Düngerstreuer, Mähdrescher und Traktoren zu Elektrofahrzeugen umbauen. Aber Strom ist teuer. Ich spare eine Menge durch die billigen Arbeitskräfte aus den Armenvierteln.“ Er lachte, sodass sein dicker Bauch wackelte. „Es gibt so viele, die Arbeit suchen, dass ich gar nicht alle einstellen kann. Und genügsame Menschen sind das. Verlangen nicht viel für ihre Arbeit.“
„Oder gar nichts“, überlegte Mira bitter und dachte an Aris Vater, der in der nächsten Woche umsonst hier draußen würde arbeiten müssen. Was würde aus der Familie werden, wenn er eine ganze Woche lang keine Rationskarten nach Hause brachte? Ari hatte einen Laib Brot gestohlen – sicher kein Lausbubenstreich. Wahrscheinlich reichten die Rationen, die Aris Vater für seine Arbeit auf den Feldern zugeteilt bekam, schon so kaum zum Leben.
Vera schien Ähnliches durch den Kopf zu gehen. Mit offensichtlicher Bestürzung beobachtete sie die Menschen, die Othmar für sich auf den Feldern schuften ließ. Sie sahen nicht einmal von ihrer Arbeit auf, gönnten sich kein Innehalten und keine Unterbrechung. In ewig gleichbleibenden Bewegungen verrichteten sie ihre mühsame Tätigkeit.
Wenn Othmar Vera ins Gesicht sah, würde er dort nichts sehen, das regem Interesse an seiner Arbeit auch nur nahekam. Und wenn er wirklich Winkelbauers Freund war, dann war es alles andere als ratsam, sich ihn zum Feind zu machen.
Mira gab sich einen Ruck. „Welche Getreidesorten bauen Sie an?“, fragte sie so interessiert wie möglich. „Und wann ist Zeit für die Ernte? Wie viele Bürger können Ihre Erträge mit Brot versorgen?“ Es spielte keine Rolle mehr, dass sie Vera die Aufgabe zugewiesen hatte, die Fragen zu stellen. Sie waren beide nicht auf das hier gefasst gewesen.
Nur allzu bereitwillig gab Othmar Auskunft. Er erklärte so ausführlich und redete so viel, dass er gar keine Gelegenheit hatte, den Blick zu bemerken, mit dem Vera immer noch seine Arbeiter musterte, oder mitzubekommen, wie sie angeekelt zur Seite trat, als der Wind eine feuchte, scharf riechende Wolke Insektizide in ihre Richtung wehte.
„ … arbeiten ganzjährig hier. Dazu kommen im Sommer über hundert Erntehelfer.“
„Und wie viele von ihnen lassen Sie umsonst für Sie arbeiten?“, fragte Vera unvermittelt.
Mira, die Othmars Antworten in Kurzform notierte, glaubte einen Moment, sich verhört zu haben. Othmar schien es ähnlich zu gehen.
„Umsonst?“, fragte er irritiert und sah Vera mit schief gelegtem Kopf an. „Ich sagte, die Leute aus den Armenvierteln verlangen nicht viel. Natürlich bekommen sie Lohn für jeden Arbeitstag.“ Er nickte durch das geöffnete Tor zum Ausweisscanner an der Wand. „Jeden Abend werden ihre Arbeitsstunden verbucht und an die Zuteilungsstelle für Rationen übermittelt.“
Ehe Vera an den Vorfall mit Ari und dem gestohlenen Brot erinnern konnte, platzte Mira mit der nächstbesten Frage heraus, die ihr einfiel: „Was machen die Sommerarbeiter im Winter, wenn Sie nichts für sie zu tun haben?“
„Sie suchen sich anderswo Arbeit“, erwiderte Othmar, warf Mira aber nur einen Seitenblick zu, während er weiterhin Vera musterte, die seinen Blick so fest erwiderte wie Ari vorhin den der wütenden Frau. So verbissen kannte Mira sie gar nicht. Vera musste ernstlich erschüttert sein über das, was sie hier sahen.
„Es gibt genügend Fabriken“, fuhr Othmar fort. „Auch wenn die Stellen dort nicht so beliebt sind wie die auf den Feldern. Fabrikarbeit ist undankbar. Vieles, was früher automatisch ablief, muss heute mühsam von Hand erledigt werden. Und manche der Arbeiter sehen nie etwas von ihrem Lohn.“ Er zuckte die Schultern. „Immerhin werden sie, wenn sie eine Stelle haben, in die Zuteilungslisten für die Grundrationen aufgenommen. Das sichert vielen Familien das Überleben.“
„Sie meinen, wer keine Stelle hat, bekommt auch keine Rationen?“
Othmar runzelte die Stirn. „Natürlich nicht. Warum sollte der Staat für jemanden aufkommen, der nichts zu seinem Erhalt beiträgt?“
„Aber was machen diese Leute?“
„Ich dachte, euch interessiert die Landwirtschaft“, sagte Othmar und erinnerte Mira wieder daran, dass er mit Winkelbauer unter einer Decke steckte und dass mit ihm deshalb – auch wenn er wesentlich freundlicher als der boshafte Staatswirtschaftslehrer schien – nicht zu spaßen war. Die falschen Fragen zu stellen konnte gefährlich sein; möglicherweise nicht nur für ihre Note in Staatswirtschaft.
Sie gaben sich wirklich Mühe. Vera kehrte zu ihrer gewohnten Schüchternheit zurück, doch wenn man sie so gut kannte wie Mira, konnte man in ihren Blicken und Gesten die Feindseligkeit erkennen, die sie dem Landwirt entgegenbrachte. Es war nicht schwer zu erraten, woran sie dachte: Sie konnte es nicht ertragen, welches Unrecht diesen Menschen, insbesondere Ari und seiner Familie, geschah.
Sie war ganz still geworden, als sie sich schließlich mit drei Seiten handschriftlichen Notizen und schwirrenden Köpfen von Othmar verabschiedeten. Er brachte sie zur hinteren Lagertür zurück, öffnete sie ihnen und verabschiedete sich herzlich, aber knapp. „Ihr findet den Weg alleine, nicht wahr?“, fragte er mit einem Blick auf seine schuftenden Angestellten. „Euer Professor meinte, ich könnte euch vielleicht jemanden mitschicken, der euch zum Rand der Innenstadt begleitet …“
Er verstummte, und Mira ergriff die Gelegenheit beim Schopf. „Aber nein“, winkte sie ab. „Sie brauchen vermutlich all Ihre Leute hier draußen auf den Feldern. Wir haben ja gesehen, wie beschäftigt alle sind. Den Weg zu finden ist kein Problem.“
Othmar schien das nur gelegen zu kommen. Kaum einige Sekunden später war er davongeeilt, so schnell sein Bauch es zuließ, und Mira und Vera fanden sich alleine im Lagerraum wieder.
Das Tor auf der anderen Seite ließ sich nur schwer öffnen. Mira musste sich mit aller Kraft dagegenstemmen. In Gedanken war sie bereits dabei, sich eine Ausrede zurechtzulegen, warum sie nicht mit Vera in die Innenstadt zurückging. Ihr Gespräch mit dem Landwirt hatte länger gedauert, als sie erwartet hatte. Mittlerweile war es halb sechs, und die Sonne stand tief. Draußen auf den Feldern hatten sie zusehen können, wie sie sich dem Flickenteppich aus verschiedenfarbigen Flächen genähert hatte.
„Warum hilfst du mir denn nicht?“ Mira, die sich immer noch mit der Tür abmühte, sah sich ärgerlich nach Vera um. Doch die war nicht wie vermutet direkt neben ihr. Ein paar Meter hinter Mira war sie stehen geblieben und starrte auf den Schreibtisch in der Scheunenecke, der so furchtbar deplatziert aussah. Othmars kleines Notizbuch lag zuoberst.
„Oh nein, denk nicht mal daran!“, flüsterte Mira. Ärger konnte sie jetzt wirklich nicht gebrauchen. In einer halben Stunde musste sie am Westturm sein, um mehr über das verbotene Buch herauszufinden. Vera durfte diesen Plan unter keinen Umständen durchkreuzen.
„Was soll aus Ari und seinen Geschwistern werden, wenn sein Vater nicht einmal den Lohn für seine harte Arbeit nach Hause bringt?“, fragte Vera. „Das alles ist eine schreiende Ungerechtigkeit! Wenn ein Kind so hungrig ist, dass es Brot stiehlt –“
„Was sollen wir denn machen?“
Vera schluckte hörbar und starrte wie gebannt auf den Schreibtisch. „Er hat gesagt, ohne sein Notizbuch kann er sich nichts merken.“
„Wir können es aber doch nicht einfach stehlen!“, sträubte sich Mira. „Ich weigere mich, sein Buch zu –“ Sie verstummte. Immerhin wäre das Notizbuch des Landwirts nicht ihr erstes gestohlenes Buch. Und Vera wusste das genau.
„Na schön!“ Sie ging an ihrer Freundin vorbei. Selbst würde diese ja doch nicht den Mut haben, sich dem Schreibtisch auch nur einen einzigen weiteren Schritt zu nähern. Sie keuchte bereits entsetzt auf, als Mira nach dem Büchlein griff und es aufklappte. Das Leder unter ihren Fingern fühlte sich samtig und teuer an. Wie alles an Othmar und seiner Frau passte es nicht in die karge Umgebung der Armenviertel.
Othmar schien sich tatsächlich einfach alles zu notieren: die Zeit des Abendessens, die Mengen an Saatgut und Insektiziden, die wann von wo geliefert wurden, und solche Dinge wie: „Rasieren und Haare kürzen.“
Auf der letzten Seite standen lediglich ein Termin mit einem anderen Landwirt und die Erinnerung, Aris Vater für die kommende Woche den Lohn zu streichen. Ohne länger zu zögern, packte Mira das dicke Papier und riss es mit einem lauten Ratschen aus dem Büchlein.
„So“, sagte sie zufrieden zu Vera und legte das kleine Buch wieder auf den Schreibtisch. Aber Vera schüttelte nur den Kopf und legte den Finger an die Lippen.
Wie erstarrt stand Mira auf dem weichen Teppich, der unter dem Schreibtisch verlegt war. Jetzt hörte sie es auch: die sich nähernden Schritte von der jenseitigen Hallenhälfte.
Wie auf ein unsichtbares Zeichen rannten sie beide los. Zu zweit und in Panik ließ sich das Tor beinahe mühelos aufschieben, und schon Sekunden später stürmten sie die Straße hinab.
„Du bist mir etwas schuldig“, keuchte Mira, als sie zwei Gassen weiter zum Stehen kamen und sich vorlehnten, um nach Luft zu schnappen. Sie hatte die Hände auf die Knie gestützt und sog die kühl gewordene Abendluft in ihre Lungen, bis ihr Atem wieder langsamer ging. Nur ihr Herzschlag wollte sich nicht beruhigen. „Ich habe Kopf und Kragen riskiert, um etwas zu tun, das dir am Herzen liegt.“ Sie sah Vera an, der die Ponyfransen an der Stirn klebten. In ihrem Blick lag etwas Ahnungsvolles, gemischt mit ein bisschen Furcht. „Jetzt“, sagte Mira jedoch ruhig, als hätte sie davon nichts bemerkt, „bist du an der Reihe.“
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