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„Ich hab dir nie gesagt, dass du … du bist wundervoll“, krächzte Chas, ohne die Umarmung zu lösen.
„Chas, nein …“ Sie musste ihn aufhalten. Sie wollte mit ihm über das sprechen, was da zwischen ihnen war. Aber doch nicht so! Er würde jedes Wort morgen bitter bereuen.
„Doch, das bist du. Und so wunderschön. Wie … was soll ich machen, wenn dir etwas passiert? Ich kann nicht ohne dich … ich kann nicht nach Amerika gehen.“
Endlich zog Mira sich aus seiner Umarmung zurück. „Du solltest schlafen, Chas“, sagte sie sanft, aber bestimmt. Er wusste nicht, was er da redete. Nicht nach Amerika? Der Wunsch, dieses Land zu verlassen, trieb Chas an, solange sie ihn kannte, auch wenn sie das am Anfang nicht geahnt hatte. Er wollte nach Amerika zurück, seit sein Vater, König Auttenberg, ihn während der politischen Unruhen dort in Sicherheit gebracht hatte. Nur dort würde er frei und sicher sein. Frei von den Erwartungen seines Vaters und sicher vor den Konsequenzen seiner Flucht aus dessen Residenz, seines Verrates am eigenen Land. Chas musste das Land verlassen. Das wusste Mira so gut wie er.
„Komm schon.“ Sie zwang ihn mit sanfter Gewalt, sich wieder auf das Lager aus platt gedrückten Gerstenhalmen zu legen.
Seine gesunde Hand hielt sie an der Bluse fest. „Bleibst du hier?“
„Natürlich.“ Sie ließ sich widerstandslos an seine Seite ziehen, obwohl die Heftigkeit seiner Umklammerung und die Hitze seines Körpers ihr Unbehagen verursachten.
Was geschah mit Chas? War es die Verletzung an seinem Arm, die einfach nicht heilen wollte? Hatte sie sich entzündet? Mira wusste nichts über Brandwunden, hatte keine Ahnung, ob das Fieber daher rühren konnte, und noch weniger, was zu tun war, um es zu stoppen. Woher sollte sie Medizin für Chas bekommen? Selbst wenn sie die nötigen Sonderrationskarten hätte und wüsste, welches Medikament er brauchte, konnte sie nicht einfach in ein staatliches Gesundheitszentrum gehen und es für ihn besorgen. Nicht ohne ärztliche Zustimmung. Und kein Arzt würde ihr die geben, ohne Chas zuvor angesehen zu haben. Aber Chas ansehen − das ging nicht. Er hatte kein Ausweisband, er existierte offiziell überhaupt nicht. Und das war noch besser als die andere Wahrheit. Besser ein Vergessener ohne Identität als Nicholas Auttenbergs Sohn. Der verschwundene Kronprinz. Ein Verräter.
Miras Gedanken drehten sich im Kreis und ließen sie keinen Schlaf mehr finden. Die glühende Hitze von Chas’ verkrampftem Körper tat ihr Übriges. Sie konnte nur wieder und wieder die gleichen Überlegungen und Gedanken wälzen und lautlos beten.
Irgendwann wurde Chas’ Atem ruhiger und sein Griff lockerer. Aber Mira machte kein Auge mehr zu.
Am nächsten Morgen bereute Chas seine Worte nicht. Mira war sich ziemlich sicher, dass er sich nicht einmal an sie erinnerte. Zwar bekam sie ihn nach einigem Rütteln und gutem Zureden wach, doch schien er ihr sehr weit weg. Fast vermisste sie seine Ruppigkeit, mit der er jeder Art von Fürsorge begegnet war, solange sie nun schon unterwegs waren. Wenigstens hatte sie dabei den Eindruck gehabt, dass er auf dem Wege der Besserung war. Nun war er kaum ansprechbar. Er starrte nur apathisch vor sich hin, und wenn er sprach, dann mit schleppender Stimme und ohne jeden Zusammenhang.
Mira wusste keinen anderen Weg, als den Plan, der in den vielen Stunden des Wachliegens in Chas’ fiebriger Umarmung in ihr gereift war, in die Tat umzusetzen.
„Hör zu, ich muss dich an einen sichereren Ort bringen“, erklärte sie Chas unnötigerweise. „Weißt du noch, wir haben doch den Schrottplatz gesehen, als wir hier angekommen sind, und überlegt, dort unser Lager aufzuschlagen.“ Es schien ihn nicht großartig zu interessieren. Er lag auf der Seite wie ein verwundetes Tier, die Augen zwar geöffnet, den Blick jedoch glasig ins Nichts gerichtet oder auf irgendetwas, das nur er sehen konnte. Klein-Ararat vielleicht oder Edmund. Mira wusste es nicht.
Es war nicht leicht, Chas in eine stehende Position zu hieven. Er war schwerer, als seine drahtige Statur vermuten ließ, und machte nicht die geringsten Anstalten, mitzuhelfen und ihr ein wenig des Gewichts abzunehmen.
Mira erinnerte sich daran, wie sie Ari nach dem verheerenden Feuer in den Armenvierteln den ganzen Weg bis nach Klein-Ararat getragen hatte. Aber Ari war ein unterernährter Siebenjähriger. Chas dagegen überragte sie um einen halben Kopf und machte es ihr fast unmöglich, ihn aus dem Gerstenfeld zu schleifen, ohne verräterische Spuren zu hinterlassen.
„Bitte“, keuchte Mira, als sie endlich am Rand des Feldes angekommen waren. „Bitte, Chas, du musst dich zusammenreißen. Nur für ein paar Minuten.“ Ihre Kehle brannte, und ein paar vereinzelte kalte Tränen rannen über ihr erhitztes Gesicht. „Wenn sie uns erwischen … Chas!“
Sie drohte unter seinem Gewicht einzuknicken, als Chas’ Blick sich auf ihr verzweifelt verzogenes Gesicht fokussierte. „Nicht weinen“, krächzte er.
Ein erleichtertes Lachen zwang sich aus Miras Kehle. Zum ersten Mal an diesem Morgen nahm Chas sie wirklich und wahrhaftig wahr. „Du musst mithelfen, Chas“, sagte sie eindringlich. „Es ist nicht weit, aber alleine schaffe ich es nicht.“
Chas antwortete nicht, doch er setzte sich, schwer auf ihre Schultern gestützt, langsam in Bewegung. Mira sah, wie viel Mühe es ihn kostete, wie er um jeden Schritt, jeden Atemzug rang. Aber gemeinsam schafften sie es bis zu dem Platz, den Mira im Sinn hatte. Er war näher an der Stadt als ihr Lager im Gerstenfeld, aber gut geschützt und viel schneller zu erreichen. Kein vernünftiger Mensch würde einen Fuß auf das heruntergekommene Gelände voller rostiger Autowracks setzen. Zerbeulte Metallruinen mit glaslosen Fenstern und zerkratztem Lack drängten sich dicht an dicht, waren zu ganzen Türmen und Bergen angehäuft, die keinen allzu stabilen Eindruck machten.
Obwohl sie unter Chas’ Gewicht alle Kraft für den Rest des Weges brauchte, konnte Mira nicht umhin, die plumpen Fahrzeuge neugierig zu betrachten. Kaum zu glauben, dass früher nahezu jede Familie, wenn nicht jeder Mensch, ein solches Ungetüm besessen hatte und damit herumgefahren war. Weite Strecken sogar, weiter, als sie je in ihrem Leben gereist war, weiter als die Grenzen ihres Landes.
Nach Verbot des Imports hatten die Menschen die antriebslosen Maschinen auf Geländen außerhalb der Städte gesammelt. Ohne Benzin, ohne Erdgas, ohne irgendwelche derartigen Rohstoffvorkommen im eigenen Land waren sie nutzlos geworden. Das Metall freilich war anfangs noch wiederverwendet worden, aber mittlerweile hatte der Rost die Oberhand gewonnen. Das Gelände am Rande von Cem war verlassen, die Autowracks wurden Wetter und Verfall überlassen. Mit einem klammen Gefühl in der Magengrube musste Mira an einen Friedhof denken.
Hinter einem einigermaßen standfest aussehenden Berg aus Karosserien und Reifen ließ Mira Chas zu Boden sinken. Sein Hemd war von der Anstrengung schweißgetränkt, das schwarze Haar klebte ihm nass und schmutzstarr an der Stirn, und sein Blick war wieder ins Nichts gerichtet.
„Danke“, flüsterte Mira, halb an ihn, halb an Gott gewandt, und wischte sich selbst den Schweiß von der Stirn. Ihre Beine fühlten sich an, als wollten sie ihr jeden Moment den Dienst versagen, und sie gab dem Drang nach, sich ebenfalls kurz zu setzen. Sie trocknete mit ihrem Ärmel Chas’ Stirn ab und suchte nach seinem Puls, aber mehr als dessen rasendes Klopfen beunruhigte sie die immer noch unnatürliche Hitze seiner schweißnassen Haut.
„Du musst durchhalten.“ Mira schluckte. Sie hatte nur eine vage Vorstellung davon, was Chas fehlte, und keine Ahnung, welche Medikamente er brauchte. Aber welche Wahl hatte sie? Einfach hierzubleiben war keine Option. Sie konnten nicht länger abwarten und darauf hoffen, dass Chas von selbst wieder zu Kräften kommen würde. Und dann war da ja auch noch Filip, für den mit jedem Tag der Prozess näher rückte. Doch fortsetzen konnten sie ihren Weg nicht. Das würde Chas nicht schaffen. Und zurücklassen konnte Mira ihn auf keinen Fall. Schon gar nicht in diesem Zustand.
Also was hätte sie tun sollen? Sie konnte nicht tatenlos abwarten, während Chas immer schwächer wurde. Ihr Vorhaben war wahnwitzig, einen besonders guten Plan hatte sie nicht. Sie wusste noch nicht einmal, wie genau sie es anstellen wollte. Aber eines wusste sie mit Sicherheit: Sie musste es versuchen.
Chas regte sich nicht mehr. Entweder er war vor Erschöpfung eingeschlafen, oder er hatte das Bewusstsein verloren. Aber das war ihr recht. So konnte er wenigstens nicht fragen, wohin sie ging und was sie vorhatte.
Kapitel 2
In der Falle
Das Gesundheitszentrum war eine Festung. Mira hatte den gesamten Morgen und einen Großteil des Nachmittags damit zugebracht, das Gebäude und das rege Treiben außen herum zu beobachten. Da gingen wichtig aussehende Staatsgesundheitsbeamte ein und aus, wurden Kranke gebracht, Spaziergänge in Krankenhauskluft unternommen, Lebensmittel geliefert und Müllsäcke abgeholt.
Mira suchte seit Stunden fieberhaft nach einer Schwachstelle. Blieb die Tür hinter einem der Beamten länger als nötig offen, sodass sie hindurchhuschen konnte, ohne ihr Armband zu scannen? Gelangte jemand durch den Besuchereingang, ohne von der Frau hinter dem Schalter aufgehalten zu werden? Blieb der Lieferanteneingang unbeaufsichtigt offen stehen? Aber nichts davon war der Fall.
Mira überlegte, was die Helden in ihren Lieblingsromanen an ihrer Stelle getan hätten. Sich als Staatsgesundheitsbeamter ausgegeben vielleicht, eine Krankheit vorgetäuscht und sich selbst im Gesundheitszentrum aufnehmen lassen, um nachts aus dem Zimmer zu schleichen. Ein Fenster eingeschlagen, den Feueralarm ausgelöst, einen Tunnel gegraben. Aber all diese Ideen, die in Büchern so gut funktionierten, erschienen Mira für die Realität zu kurzsichtig. Zu viel konnte schiefgehen, zu viel stand auf dem Spiel. Mira konnte nicht riskieren, erwischt und eingesperrt zu werden.
Als es schließlich dämmerte, saß Mira immer noch auf einem Stein im Hinterhof und sprang jedes Mal in die Büsche hinter sich, wenn sich etwas regte. Doch auch das wurde seltener. Der geschäftige Tagesbetrieb hatte schon vor Stunden ein Ende gefunden. Die Besucher waren gegangen. Dort drinnen, hinter den hell erleuchteten Fenstern, wurden jetzt vermutlich Kranke versorgt, bekamen Brot und Suppe zum Abendessen, um wieder zu Kräften zu kommen, nahmen Medikamente ein und schliefen in weichen Betten.
An so einen Ort gehörte Chas. Nicht auf einen rostigen, schmutzigen Autofriedhof. Vielleicht war es dumm von Mira, ihn jetzt noch zu decken. Was, wenn er starb? Würde es wirklich so schlimm sein, wenn seine wahre Identität ans Licht käme? Ein Skandal wäre es natürlich − verschwundener Kronprinz wieder aufgetaucht! Aber konnten sie ihn wirklich als Verräter anklagen? Er war immerhin Nicholas Auttenbergs Sohn! Vielleicht sollte sie ihn einfach zum Gesundheitszentrum bringen. Chas hatte weder Kraft, Fragen zu stellen, noch, sich zu wehren. Und vielleicht rettete es ihm das Leben.
Je länger sie darüber nachdachte, desto sinnvoller erschien ihr diese Idee. Sie hatte keine Ahnung, wie man einen Kranken richtig versorgte − zumal sie nur eine vage Vermutung hatte, was Chas fehlte und dass das Fieber von einer Infektion seiner Wunde herrühren musste. Es sah auch nicht so aus, als hätte Gott vor, ihre verzweifelten Gebete zu erhören und ihr Zugang zu den Medizinvorräten des Zentrums zu verschaffen. Vielleicht weil er wusste, dass Chas dort draußen keine Chance hatte.
Mira erhob sich und streifte sich Staub und Steinchen von der Kleidung, da ließ das Knirschen von Reifen auf Asphalt sie zusammenschrecken. Abgesehen davon, bog der elektrische Lieferwagen nahezu lautlos in den Hinterhof ab. Miras angespannter Körper reagierte schneller als ihr müde gewordenes Gehirn: Sie sprang zurück in ihren Unterschlupf.
Aus dem sicheren Versteck hinter den Büschen beobachtete sie, wie ein glatzköpfiger Mann ausstieg und pfeifend den Laderaum öffnete. Er verschwand in dessen Innerem und schleppte bald darauf einen Stapel Holzkisten die Laderampe hinunter. Durch die Lücken zwischen den Latten konnte Mira silberne Dosen erkennen. Konserve an Konserve stapelten sich Lebensmittel in den Kisten.
Wenigstens das konnte sie tun. Chas würde all seine Kräfte für den Transport zum Gesundheitszentrum brauchen. Und Mira auch, denn wenn sein Zustand sich nicht auf wundersame Weise verbessert hatte, würde sie ihn wieder mehr tragen als stützen müssen. Ihnen beiden würde eine richtige Mahlzeit guttun.
Mira wartete, bis der Glatzköpfige mit den Kisten sein Armband gescannt hatte und durch den Lieferanteneingang verschwunden war. Noch während sich die Türen hinter ihm schlossen, schoss sie aus ihrem Versteck und geradewegs auf den weißen Lieferwagen zu. An den offenen Türen schlug ihr der berauschende Duft frischen Brotes entgegen. Schwindlig vom bloßen Gedanken daran, kletterte sie in den Laderaum.
Der schmale Durchgang war mit deckenhoch gestapelten Kisten und Boxen gesäumt. Und auf jeder einzelnen klebten Etiketten, deren Aufschrift Miras Magen zum Knurren brachte: „Eingelegte Pfirsiche“, „Laugengebäck“, „Essiggurken“, „Marmelade + Apfelmus“, „Fruchtsaft“, „Mehl“, „Zucker“ und „Räucherschinken“.
Mira zwängte sich zwischen die Stapel aus verpackten Lebensmitteln und riss den erstbesten Karton auf. Er war bis zum Rand mit kleinen Papiertütchen voller Milchpulver gefüllt. Mira griff mit beiden Händen hinein und stopfte sich ein gutes Dutzend davon in die Hosentaschen, ehe sie den nächsten Karton öffnete. Und dann den nächsten. Sie belud ihre Arme mit allem, dessen sie habhaft werden konnte: Konserven mit Bohnen, Pfirsiche und Brot − es war ihr egal, ob irgendetwas davon zusammenpasste.
Als sie beim besten Willen nicht mehr tragen konnte, erschrak Mira vor sich selbst. Sie hatte nicht gewusst, wie sehr Hunger einem Menschen zusetzen konnte. Aber nach Tagen mit nichts oder kaum etwas im Magen waren ihr beim Anblick des vielen Essens sämtliche Sicherungen durchgebrannt. Sie hatte wie im Rausch Lebensmittel zusammengerafft und gar nicht auf die Zeit geachtet, die sie sich schon im Inneren des Lieferwagens befand.
Draußen schepperte es. Vor Schreck ließ Mira beinahe ihre Beute fallen.
„Der Rest kommt nach hinten in Lagerraum 3. Fahr rein!“, brüllte eine Männerstimme draußen, und zu Miras Entsetzen näherten sich nur einen Augenblick später knirschende Schritte. Sie wich an die Wand hinter ihrem Rücken zurück, so tief in eine der Lücken zwischen den Kistenstapeln wie nur irgendwie möglich. Aber die Tür am Ende des Lieferwagens hatte sie nach wie vor im Blick. Der Glatzköpfige erschien zwischen den offenen Türflügeln. Mira hielt den Atem an und schickte ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel. Er durfte sie nicht sehen. Er durfte sie einfach nicht sehen. Aber es war ein Ding der Unmöglichkeit, dass er es nicht tat.
Der Glatzkopf kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Dann griff er mit beiden Händen nach den Türen und zog sie mit einem heftigen Ruck zu.
Dunkelheit und Stille umhüllten Mira. Ihr eigener Herzschlag kam ihr unnatürlich laut vor, und sie wagte nicht, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen.
Draußen schepperte es wieder, und mit einem sanften Vibrieren erwachte der Lieferwagen unter ihr zum Leben und setzte sich fühlbar in Bewegung.
Endlich fiel die Starre von Mira ab. Lauter, als es vermutlich klug war, ließ sie die gesammelten Lebensmittel in eine der aufgerissenen Kisten sinken. Möglicherweise konnte sie die Türen von innen öffnen und entkommen. Vielleicht …
Mira hielt in der Bewegung inne, als die Erkenntnis durch die Panik zu ihr hindurchsickerte: Sie steckte nicht in der Falle. Jedenfalls nicht ausschließlich. Sie befand sich auch auf dem Weg hinter die unüberwindbaren Mauern der Festung.
Woher wussten die Helden in Romanen immer, wann der richtige Moment für den tollkühnen Sprung ins Ungewisse da war? Mira lauerte in der Dunkelheit des Lieferwagens, während ihre Gedanken sich überschlugen. Sollte sie die Tür aufstoßen und hinausspringen? Aber was, wenn sie mitten in eine Halle voller Menschen platzte? Sollte sie warten, bis der Glatzköpfige die Türen öffnete? Aber wie sollte sie dann an ihm vorbei nach draußen gelangen? Was, wenn er den Laderaum betrat und ihr den Weg zur Tür versperrte?
Wie sollte sie das entscheiden? Ein falscher Schritt, ein unüberlegter Atemzug, und alles flöge auf. Es stand zu viel auf dem Spiel, um es einfach darauf ankommen zu lassen!
„Zeig mir den richtigen Moment“, betete sie. Konnte Gott nicht eine Kiste geradewegs von ihrem Stapel fallen lassen, als Zeichen, dass die Luft jetzt rein war? Mira starrte die Kartons an, während das Klopfen ihres eigenen Herzens ihr in den Ohren dröhnte. Aber nichts geschah.
Um ganz genau zu sein, überhaupt nichts. Es blieb totenstill um den Lieferwagen. Der Motor war abgestellt worden, alle Schritte, alles Scheppern, alle Geräusche waren verstummt.
Es kostete Mira eine gefühlte Ewigkeit in der beengenden, stillen Dunkelheit, um endlich ganz sicher zu sein: Sie war alleine. Jetzt oder nie musste sie es wagen, die Türen zu öffnen, um zu entkommen.
„Bitte, bitte lass sie nicht verschlossen sein!“ Mira drückte eine schwitzige Handfläche gegen das Metall, und die Tür gab unter dem Druck nach.
Im ersten Moment brannte das helle Licht mehrer Neonröhren zu sehr in Miras Augen, als dass sie sich hätte umsehen können. Dann suchte sie die Umgebung hastig mit ihren Blicken ab. Eine Lagerhalle, klein, unordentlich und verlassen.
Auf zittrigen Knien ließ Mira sich aus dem Laderaum gleiten, verschloss die Türen hinter sich und sah sich ausgiebig um. Das metallene Tor zum Hof war wieder fest verriegelt. Zwei weitere Türen mündeten in den Lagerraum. Türen, die tiefer in das Gesundheitszentrum führen mussten. Mira befand sich hinter den feindlichen Linien. Jetzt musste sie nur noch den Ort finden, an dem die Medikamente aufbewahrt wurden.
Ihre Schritte, sich öffnende und schließende Schranktüren, ihre eigenen Atemzüge − alles hallte unnatürlich und viel zu laut in Miras Ohren. Über ihrem Kopf flackerte eine Neonröhre und ließ ihre Bewegungen bizarre Schatten auf den Betonboden werfen.
Sie hatte jedes Gefühl dafür verloren, wie lange sie sich schon im staatlichen Gesundheitszentrum befand und wie viele Räume sie bereits vergeblich durchkämmt hatte, an jeder Tür mit klopfendem Herzen innehaltend und auf Stimmen auf der anderen Seite lauschend.
Mira stürzte zu einer weiteren Reihe spindähnlicher Schränke und riss mit zittrigen Fingern einige Türen und Schubladen auf. Ordentlich gefaltete Handtücher und Bettlaken stapelten sich auf den Regalbrettern, ein Sammelsurium aus offenbar ausrangiertem, staubigem Geschirr im nächsten Fach.
Warum eigentlich war sie hier unten noch niemandem begegnet? Bei dem geschäftigen Treiben, das sie durch die Fenster in den oberen Stockwerken beobachtet hatte, war es ein Wunder, dass sie noch nicht entdeckt worden war. Sie hatte das Gefühl, ihr Glück nicht überstrapazieren zu dürfen. Aber sie konnte nicht einfach gehen. Nicht ehe sie nicht wenigstens irgendetwas gefunden hatte, das Chas helfen konnte.
Mit beunruhigend laut dröhnenden Schritten hastete sie zu einer Tür und riss sie auf. Dahinter erstreckte sich im Halbdunkel ein weiterer Raum voller Schränke. Als Mira einen davon aufzog, musste sie sich die Faust auf die Lippen pressen, um keinen Triumphschrei auszustoßen. Feinsäuberlich einsortiert lagerten darin Infusionen, Tabletten, Säfte und Tinkturen. Etiketten auf den Regalböden wiesen aus, mit was sie es zu tun hatte. Mira las einige davon und versuchte, irgendwie schlau aus den medizinischen Fachbegriffen zu werden. Irgendetwas, das sie vielleicht einmal in einem Buch gelesen hatte, musste ihr doch weiterhelfen! Was wirkte fiebersenkend, desinfizierend, irgendwie kräftigend? Brauchte Chas ein Antibiotikum, und wenn ja, welches? Oder Schmerztabletten?
Ein Geräusch draußen im Lagerraum ließ Mira zusammenfahren. Sie sah sich hektisch nach einem Versteck um, aber der Raum war leer bis auf die Schränke. Ihr blieb keine Zeit!
Wie zuvor im Lieferwagen raffte sie mit beiden Händen zusammen, was sie irgendwie in ihre Taschen stopfen konnte. Schächtelchen mit Pillen oder Tinkturen, Fläschchen, Dosen, Ampullen − was sie in die Finger bekam. Sie fand sogar ein paar Rollen Verbände und Kompressen, die sie sich aus Mangel an weiterem Stauraum in den Hosenbund klemmte.
Sie schaffte es gerade noch, ihre Bluse über die verräterischen Ausbeulungen zu zerren, ehe die Tür aufgestoßen wurde.
Für einen Moment starrte der Mann im Türrahmen sie einfach nur an, und Mira starrte zurück, als wären sie sich unschlüssig, wer schockierter über den Anblick des jeweils anderen war. Dann riss Mira sich aus der Erstarrung und stürzte blindlings los.
Der Mann war so verdutzt, dass sie es beinahe an ihm vorbeigeschafft hätte. Aber nur beinahe. Im letzten Moment hechtete er zwischen sie und ihren Fluchtweg. Mira geriet ins Straucheln. Die wenigen Sekunden, die sie brauchte, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, reichten aus. Der Mann ergriff ihre Oberarme und hielt sie fest.
„Patienten haben hier unten nichts verloren.“ Er musterte Mira mit zusammengekniffenen Augen. Dann, viel ruhiger und langsamer, als würde er mit einem Kleinkind sprechen, fragte er: „Auf welche Station gehörst du denn?“
Verunsichert erwiderte Mira seinen Blick. Ihr Atem hatte sich noch nicht wieder beruhigt, und sie konnte nicht umhin, immer wieder hastig in Richtung Ausgang zu sehen.
Der Griff des Mannes um ihre Arme lockerte sich, in seinem Gesicht lag jetzt unverkennbar Besorgnis. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Hast du dich verlaufen?“ Immer noch sprach er sehr langsam.
Endlich dämmerte es Mira. Der Mann hielt sie für geistig verwirrt, für psychisch krank oder körperlich so erschöpft, dass sie nicht bei klarem Verstand war. Kein Wunder: Sie musste in ihrer Panik über sein plötzliches Auftauchen völlig wahnsinnig ausgesehen haben.
„Ähm …“, machte sie, um endlich auf seine Fragen zu reagieren. Was sollte sie sagen? Hinter ihrer Stirn jagten sich die Gedanken.
„Ich bringe dich nach oben, ja?“
„Ähm“, machte Mira noch einmal dümmlich und beschloss in Sekundenbruchteilen, dass sie mitspielen musste. Nur so konnte sie noch unbeschadet aus der Sache herauskommen. Vielleicht sogar mit den Medikamenten für Chas.
„Ich hab mich verlaufen.“ Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Alles in ihr war in Alarmbereitschaft. Dennoch gab sie sich alle Mühe, arglos und verloren auszusehen.
Während er sie am Arm aus dem Lagerraum in ein Treppenhaus führte, betrachtete Mira den Mann aus dem Augenwinkel. Er war dick, mit kräftigen Oberarmen und großen, fleischigen Händen. Den weißen Kittel eines Staatsgesundheitsbeamten trug er nicht.
„Weißt du, wie dein Pfleger heißt?“, fragte er freundlich, während er Mira die Treppe hinaufbugsierte.
„Nein.“ Es hatte keinen Sinn, einen Namen zu erfinden. Diese Tarnung würde allzu schnell auffliegen. Schneller noch als die der ahnungslosen Geistesverwirrten. „Irgendetwas mit M … oder N. Vielleicht war es auch P. Ich weiß nicht mehr.“
„Na, auch nicht so schlimm.“ Sie hatten den oberen Treppenabsatz erreicht und betraten ein geräumiges Foyer. Am anderen Ende konnte Mira den unbesetzten Empfang und die verschlossenen Schiebetüren sehen, die auf den Vorplatz hinausführten. Den ganzen Tag über hatte sie die Eingänge von außen betrachtet und überlegt, wie sie hineinkommen sollte. Jetzt hätte sie einiges dafür gegeben, wieder dort draußen zu sein. Mit den Medikamenten natürlich.
Der Dicke schob sie behutsam weiter. „Das werden wir gleich haben“, versicherte er. „He! Ihr da, macht euch hier mal nützlich!“
Miras Herz setzte einen Schlag aus. Auf den Ruf ihres Begleiters hin traten zwei Wachmänner aus einer Nische bei den Türen und eilten zu ihnen.
„Wir brauchen jemanden mit einem Scanner. Die junge Dame hier hat sich verlaufen und findet ihre Station nicht mehr.“
Miras rechte Hand umschloss fast automatisch das Band an ihrem linken Handgelenk. Sie wollte einen Schritt zurückmachen, stieß aber gegen den Bauch des Mannes, der sie heraufgebracht hatte.