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Die Wachmänner musterten sie. Einer der beiden hatte so stechend blaue Augen, dass Mira das Gefühl hatte, von seinem Blick regelrecht durchleuchtet zu werden.
„Sind Sie völlig bescheuert?“, blaffte er den Mann hinter Mira an. „Das ist keine Patientin. Sie trägt ja Straßenkleidung. Schmutzige noch dazu.“ Seine Hand schnellte nach vorne und entriss Mira dem fürsorglichen Griff des Dicken. „Was hast du hier drinnen zu suchen, hm?“ Schmerzhaft zerrte er an ihren Armen und drehte die Handflächen nach oben. „Einen Besucherstempel hast du auch nicht. Wie bist du hier hereingekommen? Los, spuck es aus!“
„Aber, aber“, fuhr der Mann hinter Mira dazwischen, ehe diese antworten konnte. „Das ist doch kein Grund, so grob zu werden.“
„Wer hat dich gefragt? Was bist du? Eine Putzkraft? Lagerarbeiter?“ Er schnaubte. „Geh wieder an deine Arbeit und lass mich meine machen. Du bist wohl zu blöd, um eins und eins zusammenzuzählen. Die Kleine ist hier eingebrochen. Wir nehmen sie mit.“
Nun konnte Mira nicht mehr an sich halten. Sie vergaß sogar ganz, dass sie eben noch harmlos und verwirrt hatte wirken wollen. „Nein!“ Sie entriss ihre Arme dem Griff des Wachmanns und rannte blindlings auf die Türen zu. Der dicke Mann war so verdutzt von dieser plötzlichen Anwandlung, dass auch er sie einfach losließ.
Sie konnte kaum fassen, dass sie die Türen wirklich erreichte. Waren die Wachmänner so langsam oder sie in ihrer Panik so schnell? Sie hatte keine Zeit, sich umzusehen. Mit beiden Händen packte sie die Türgriffe und schob. Hinter ihr lachte einer der Wachmänner. Ihre Tatenlosigkeit machte schlagartig Sinn. Die Türen waren verschlossen.
„Nein!“, brüllte Mira erneut. Sie holte mit dem Fuß aus, um das Glas notfalls zu Bruch zu bringen. Sie musste zu Chas, musste einfach. Er brauchte Hilfe, brauchte sie! Seine im Fieberwahn gesprochenen Worte hallten ihr noch in den Ohren. Was, wenn ihr etwas zustieße? Was würde dann aus ihm werden?
Ehe ihr Fuß das Glas traf, hatten die beiden Wachmänner sie nun doch erreicht. Sie banden ihr die Hände auf dem Rücken zusammen und stopften ihr aus Mangel an Alternativen ein Knäuel Taschentücher in den Mund.
„Wir bringen sie in die Staatsjustiz. Die sollen sie einsperren, bis sie sich beruhigt hat.“
„Was, wenn noch mehr von ihnen eingedrungen sind?“, fragte der andere Wachmann.
„Ich gebe Durchsuchungsbefehl. Haltet alle Ausgänge verschlossen“, wies er den dicken Mann an, der immer noch regungslos an den Türen zum Treppenhaus stand.
„Aber …“, stammelte er. „Meine Güte, ich verstehe nicht, warum man in ein staatliches Gesundheitszentrum einbrechen sollte. Sie ist nicht einmal eine Illegale.“ Er nickte zu Miras gefesselten Händen. „Sie hat ein Armband.“
„Das ist nicht deine Sorge. Das sollen die Justizleute herausfinden“, erwiderte einer der Wachmänner, ohne Mira aus den Augen zu lassen. „Aus dem Mädchen bringst du heute kein Geständnis mehr heraus. Die ist ja völlig außer sich.“ Er betätigte einen Schalter rechts der Türen, und mit einem leisen Surren schoben sie sich auf. So einfach. Mira hätte sich ohrfeigen können.
Den ganzen Weg über den Vorplatz und schließlich die Straße hinab wand sie sich in ihren Fesseln und trat nach den beiden Wachmännern. Sie versuchte trotz des Knebels zu schreien und jemanden auf sich aufmerksam zu machen. Sie machte es den beiden so schwer, sie mit sich zu zerren, dass einer von ihnen sie kurzerhand wie einen Sack Kartoffeln auf die Schulter hievte und sie trug. Ein Teil ihrer kostbaren Schmuggelware rutschte aus seinem Versteck und fiel zu Boden. Mira rechnete damit, dass die Wachmänner sie nun durchsuchen und ihr all ihr Diebesgut abnehmen würden, doch sie hatten es noch nicht einmal bemerkt. Hoffentlich war das verlorene Medikament nicht ausgerechnet dasjenige, das Chas brauchte.
Abermals bäumte Mira sich gegen ihre Fesseln auf. Nicht einmal die verbleibenden Packungen in ihren Taschen würden Chas helfen, wenn sie nicht freikäme, um sie ihm zu bringen.
Also kämpfte Mira weiter. Die Fesseln schnitten in ihre Handgelenke, und durch die Taschentücher in ihrem Mund bekam sie kaum noch Luft, doch sie ließ nicht locker. Sie musste zurück zu Chas. Ob mit oder ohne Medikamente, alleine hatte er keine Chance. Sie hatte ihn gut versteckt. Zu gut. Auf dem Autofriedhof würde niemand ihn finden. Niemand könnte ihm helfen.
Dass sie das Staatsjustizgebäude erreicht hatten, bemerkte Mira erst, als der Wachmann, der sie getragen hatte, sie unsanft direkt vor dessen Eingangstür absetzte. „Und jetzt ist Schluss mit dem Theater“, knurrte er und zog sie mit sich hinein. Dann vermeldete er: „Einbruch im Staatsgesundheitszentrum.“
Es musste kurz nach Ausgangssperre sein. Nur eine einzige Wachfrau saß im Justizgebäude und sortierte Unterlagen.
„Sperrt sie zu den anderen“, erwiderte sie mit einem flüchtigen Blick auf Mira gelangweilt. „Wir kümmern uns morgen darum.“
„Sie hat ein Armband.“
„Das hat sie morgen auch noch. Wir kümmern uns darum.“
„Sollten wir nicht ihre Identität …“
„Bei der Verfassung!“ Die Wachfrau knallte die Unterlagen auf die Tischplatte. „Nun sperrt sie schon ein. Und nehmt ihr den Knebel ab, ehe sie daran erstickt. Sie ist schon ganz rot.“
Die Wachmänner erwiderten nichts. Eine Tür wurde aufgeschlossen und Mira hindurchgeschubst. Ohne dass jemand ihre Fessel durchschnitt oder die Taschentücher aus ihrem Mund entfernte, knallte die Tür hinter ihr ins Schloss.
Mira wollte sich gerade dagegenwerfen, als im Dunkel hinter ihr Gemurmel laut wurde.
„… noch jemanden gebracht.“
„Ein Mädchen.“
„Sie ist geknebelt.“
Ein Paar weicher Hände nahm ihr den Knebel aus dem Mund und versuchte, sie festzuhalten. Aber Mira stieß sie von sich.
„Chas!“, keuchte sie erstickt, schnappte nach Luft und verschluckte sich. „Chas … ich muss … er stirbt!“, brachte sie zwischen Husten hervor. Sie wand sich aus einem zweiten Paar Hände − größer und rauer als das erste − und warf sich gegen die Tür. „Lasst mich raus!“ Sie versuchte einzuatmen, aber das Husten machte es ihr unmöglich. Stoßweise sog sie zwischen den unkontrollierten Kontraktionen ihres Brustkorbes den Sauerstoff in ihre Lungen, bekam aber trotz aller Mühe nicht genug. Wieder und wieder warf sie ihren ganzen Körper gegen die Tür, doch dann gaben ihre Beine nach, versagten ihr einfach den Dienst, und sie sackte schwer und immer noch nach Luft schnappend auf den Boden.
„Ist okay.“ Die weichen Hände waren wieder da. Sie strichen über ihr Haar. Mira ließ es zu. Alle Kraft hatte sie verlassen.
Wie hatte sie nur so dumm sein können, sich erwischen zu lassen? Wie hatte sie so unvorsichtig sein können, während Chas in seinem Versteck gegen den Fieberwahn ankämpfte? Ob er in seinen Albträumen wieder das brennende Klein-Ararat besuchte? Der Gedanke brach Mira das Herz.
„Mira“, sagte eine Stimme über ihr leise. „Was ist mit Chas?“
Immer noch um Luft ringend, rappelte Mira sich auf und starrte durch die fast undurchdringliche Dunkelheit in das Gesicht eines Jungen, der sich besorgt über sie lehnte.
„Urs“, brachte sie hervor. „Biene!“
Die weichen Hände zogen sie in eine Umarmung, die nach trockenem Gras, Erde und Moos roch. Nicht nach dem finsteren Gefängnis, in dem sie sich befanden, sondern nach jemandem, der genau wie Chas und Mira die Nächte unter freiem Himmel verbracht hatte.
„Meine Güte, Mira, du bist es wirklich!“, sprudelte es aus Biene heraus, während sie Mira immer noch festhielt. „Es ist so gut, dich zu sehen … ich meine, nicht hier! Das ist gar nicht gut. Aber … du weißt schon.“
Beinahe musste Mira trotz der schrecklichen Umstände lachen. Urs und Biene waren hier – jetzt musste einfach alles gut werden! „Was macht ihr denn hier?“, platzte sie heraus. „Wo sind die anderen Fischerkinder? Und warum habt ihr Leonardsburg verlassen? Ist es sicher für euch hier?“
„Offensichtlich nicht.“ Ein Glucksen mischte sich in Urs’ Stimme. „Immerhin haben wir es genau wie du geschafft, eingefangen zu werden, ehe wir auch nur weiter als ein paar Kilometer gekommen sind.“
Mira bemerkte, dass er nur einen Bruchteil ihrer Frage beantwortet hatte, aber für den Moment gab es Wichtigeres. „Chas.“ Die Tränen brannten in ihrer Kehle. „Ich muss zurück zu ihm.“
„Was ist passiert?“ Bienes zarte Hand rieb ihre Schulter, doch ihre Stimme bebte.
„Er ist …“ Mira drohte an den Worten zu ersticken. „Die Wunde hat sich entzündet. Er ist wie im Wahn, er … Urs, ich glaube, er stirbt!“ Ein raues Schluchzen bahnte sich den Weg über ihre Lippen, und hätten nicht nach wie vor zwei Paar so unterschiedlicher Hände sie gehalten, wäre Mira gänzlich zusammengebrochen. Ihr ganzer Körper zitterte vor Erschöpfung und Angst.
Urs schwieg lange, ehe er antwortete. Mira dachte bereits, seine Worte über ihr eigenes Schluchzen hinweg nicht gehört zu haben. „Dann jetzt oder nie“, sagte er jedoch schließlich. „Wir haben keine Zeit zu verlieren.“
„W… was meinst du?“
„Komm.“ Biene zog Mira von der Tür weg, bis sie die jenseitige Wand im Rücken spürte. „Bleib einfach da sitzen.“
„Aber … ich muss zu Chas.“
„Schsch“, machte Biene. „Wir haben längst einen Plan. Dass wir zu dritt sind, macht es vielleicht ein wenig schwieriger, aber …“
„Still.“ Urs richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Sein bärenhafter Umriss verdeckte fast gänzlich das Licht, das durch die Ritzen der Tür fiel. „Hilfe“, polterte er dann, und alles schien bei diesem Ausruf zu vibrieren. Selbst Mira, die im Grunde wusste, dass sein Hilferuf nur Schauspiel sein konnte, schnürte die Panik in Urs’ Stimme die Kehle zu.
„Wir brauchen Hilfe! Sie ist ohnmächtig geworden!“
Auch die desinteressierte Wachfrau musste ihm jedes Wort abnehmen, denn es dauerte nur Sekunden, bis die Tür aufgeschlossen und geöffnet wurde. Im augenblicklich hereinflutenden Licht sah Mira, dass Biene am jenseitigen Ende des kleinen Zimmers zusammengesackt war und bäuchlings auf dem Fußboden lag. Urs kauerte mittlerweile neben ihr.
„Hilfe“, wimmerte er, und Mira lief ein eisiger Schauer über den Rücken, obgleich sie wusste, dass sein Leid nur gespielt war.
Die Wachfrau schloss die Tür hinter sich, aber sie näherte sich Biene tatsächlich und ging neben ihr in die Hocke. „Aus dem Weg“, herrschte sie Urs an, unternahm aber nichts, um diesen Befehl auch durchzusetzen. Urs blieb wie angewurzelt an Bienes Seite. Mira konnte sich nicht vorstellen, dass er sich auch nur im Geringsten anders verhalten würde, wenn all das hier echt gewesen wäre.
„Sie ist einfach ohnmächtig geworden. Bitte! Bitte tun sie etwas!“ Er umklammerte das Handgelenk der Wachfrau, ließ sich jedoch allzu leicht abschütteln.
Mira sah zu, wie die Wachfrau sich über Biene beugte und ihren Puls suchte. Urs hätte die zierliche Frau leicht überwältigen können. Aber stattdessen sah Mira im Zwielicht, wie er seine Hand langsam und unauffällig in Richtung des kleinen, tragbaren Scanners schob, der am Gürtel der Wachfrau baumelte. Sie dachte, er wolle ihn an sich nehmen, doch er streckte nur den Arm aus. Das blaue Licht des Scanners fiel auf seine sonnengebräunte Haut, eine kleine zackige Narbe am Handgelenk und schließlich für den Bruchteil einer Sekunde auf das weiße Armband. Kaum hörbar ertönte ein Klicken.
„Sie atmet“, stellte die Wachfrau fest, die nichts von alledem bemerkt hatte. Sie schien es nicht erwarten zu können, von Biene wegzukommen. Hastig richtete sie sich auf. „Ich bringe euch Wasser. Sie kommt schon wieder zu sich.“
Urs beugte sich wortlos über Biene, Haltung und Miene immer noch die eines Menschen, der Todesängste aussteht.
Die Wachfrau brachte ihm Wasser, verschwand dann aber hastig und ließ Urs, Mira und die immer noch regungslos auf dem Fußboden liegende Biene allein zurück.
Kapitel 3
Die Flucht
Mira spürte, wie Enttäuschung sich in ihr breitmachte, während die Tür ins Schloss fiel und das Licht aus dem Vorraum bis auf einen schmalen Streifen auf dem Fußboden reduzierte. Im Dunkel ihrer Zelle sah sie, wie Biene sich aufrichtete.
„Das war unsere Chance!“ Mira konnte den vorwurfsvollen Unterton nicht aus ihrer Stimme verbannen.
Urs schüttelte sachte den Kopf. „Es wäre nicht gut gegangen.“
Das kurze Gefühl der Hoffnung, das in ihr aufgeflackert war, machte erneut der unkontrollierten Angst Platz, die eben noch in ihrem Inneren gewütet hatte. „Aber … Chas! Ich muss zu ihm. Er braucht Hilfe!“
„Mira …“ Biene berührte ihre Hand. „Du verstehst nicht …“
„Nein, ihr versteht nicht!“ Mira zog ihre Hand weg. Gar nichts verstanden sie. Wenn niemand Chas Medikamente brachte, niemand sich um ihn kümmerte, dann würde er sterben. Ohne dass jemand auch nur ahnte, dass er sich auf dem Autofriedhof befand. Ohne dass es jemanden interessierte. Und ohne dass Mira ihm je gesagt hatte …
„Es war nicht der richtige Zeitpunkt“, sagte Urs sanft, aber bestimmt. „Der richtige Moment kommt noch. Du wirst sehen.“
Mira konnte die Nähe und leeren Worte der beiden nicht länger ertragen. Sie stand auf und schleppte ihren sich wund anfühlenden Körper hinüber zur Tür. Es tat gut, sich dort auf den Boden sinken zu lassen und die Stirn gegen den kühlen Stein zu drücken. Die Kälte stand im scharfen Kontrast zur Hitze der Tränen, die über ihre Wangen zu rinnen begannen.
„Mira …“, setze Biene abermals an, doch Urs unterbrach sie: „Da! Hört zu!“
Nicht einmal Mira, die sich direkt neben der Tür befand, hatte die Schritte und Stimmen im Vorraum gehört, ehe Urs sie darauf hingewiesen hatte.
„… in dringender Angelegenheit.“ Das war nicht die Stimme der Wachfrau, sondern die eines Mannes. „Ich fürchte, diese Sache duldet keinen Verzug. So lange soll ich hier übernehmen.“
„Und das fällt denen jetzt ein?“, fauchte die Wachfrau. Das Rascheln von Unterlagen und das Scharren von Stuhlbeinen über den Boden war zu vernehmen. „Vorhin war ich noch dort. Und der nächste Weg ist es auch nicht gerade.“
„Wenn es Ihnen lieber ist, gehe ich zurück und melde, dass Ihnen nicht danach ist.“ Die Stimme des Mannes hatte einen unverkennbar höhnischen Klang angenommen. „In Valda überlegen wir nicht zweimal, wenn unser Vorgesetzter uns etwas befiehlt. Aber das mag hier anders sein.“
„Natürlich gehe ich.“ Die Stiefel der Frau polterten Richtung Eingangstür. „Es gibt hier nicht mehr viel zu tun. Die Akten sind meine Aufgabe.“
„Dann warte ich einfach und halte die Stellung.“
Die Tür wurde geöffnet und fiel wieder ins Schloss. Mira hob den Kopf und lauschte angestrengt. Würde der fremde Wachmann die Zellentür öffnen und einen Blick hineinwerfen? Wäre das der richtige Moment, würde Urs dann etwas tun?
Sie wartete. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Doch schließlich näherten sich tatsächlich Schritte, und die Tür wurde geräuschvoll aufgeschlossen. Sekunden später blinzelte Mira abermals in das grelle Licht des Vorraums.
Im Gegenlicht konnte sie nicht mehr als die Umrisse des Wachmanns erkennen, der dort stand und sie musterte. „Drei Gefangene“, stellte er fest, und Urs nickte, obwohl es nicht gerade nach einer Frage geklungen hatte.
„Lasst eure Bändchen sehen!“
Er beugte sich über Urs’ Handgelenk, als wolle er kontrollieren, ob sein Bändchen auch echt war, und warf auch einen kurzen Blick auf die der beiden Mädchen. Mira konnte nur davon ausgehen, dass es ihm lediglich darum ging, zu wissen, ob sie überhaupt ein ID-Band hatten, denn ohne Scanner gaben ihm die weißen Plastikstreifen keinerlei Informationen. Doch er schien zufrieden, nickte ihnen knapp zu und trat wieder aus der Zelle. Die Tür zog er hinter sich ins Schloss.
„Glaubt ihr, wir können …“, setzte Mira an, aber Urs fiel ihr ins Wort: „Warte!“ Er lauschte angestrengt, und Mira tat es ihm gleich. Die Schritte des Wachmannes entfernten sich, etwas klickte, und schließlich knallte eine Tür zu.
„Ist er weg?“ Mira konzentrierte sich mit aller Kraft auf die Geräusche vor der Zellentür, konnte aber nichts mehr ausmachen. „Er kann doch nicht einfach seinen Posten verlassen!“ Sie spürte Aufregung in sich aufwallen. Aufregung und einen Funken Hoffnung. „Habt ihr eine Nadel? Oder … eine Gabel oder so! Es ist ein ziemlich altes und großes Schloss! Vielleicht können wir …“
„Nicht nötig.“ Urs hielt etwas in die Höhe, das Mira im Halbdunkel nur an seinem metallischen Klirren sicher erkennen konnte. Einen Schlüsselbund.
„Sag bloß, den hattest du schon die ganze Zeit!“
„Nein.“ In Urs’ Stimme lag unverkennbar ein Grinsen. „Erst seit der Bändchenkontrolle gerade eben.“ Er erhob sich, und binnen Sekunden hatte er die Zellentür aufgeschlossen. Erneut fiel Licht zu ihnen herein, und es dauerte einige Augenblicke, bis Mira genug sehen konnte, um sicher zu sein, dass der Wachmann tatsächlich verschwunden war.
Sie konnte es nicht fassen. In Leonardsburg waren die Wachen äußerst gewissenhafte Leute. Pflichtversessen und exakt – wie Filip. In einer Stadt wie Cem hätte sie eine mindestens genauso gründliche, wenn nicht sogar noch korrektere Arbeitsweise erwartet.
Urs ging zum verlassenen Schreibtisch. Das Gehen schien ihm schwerzufallen; er hinkte ein wenig, zumindest bei den ersten Schritten. Doch nachdem er den Schlüssel sorgfältig auf der Tischplatte abgelegt hatte, straffte er die Schultern und wandte sich zu Biene und Mira um. „Na los, gehen wir!“
Mira hatte Mühe, ihn nicht fassungslos anzustarren. Ihn schien es kaum zu überraschen, wie glatt ihre Flucht verlief. Wie konnte er geahnt haben, dass der Wachmann, dem er den Schlüsselbund gestohlen hatte, just eine halbe Minute später seinen Posten verlassen würde – und sei es nur, um auf die Toilette zu gehen? Aber Urs kommentierte dieses unverschämte Glück nicht mit einem Wort! Oder nahm er es schlichtweg als Gebetserhörung?
Doch es blieb keine Zeit für Fragen. Der Wachmann oder die von ihm abgelöste Wachfrau konnten jeden Augenblick zurückkommen, und dann wären sie wirklich in Schwierigkeiten. Nein, nun hieß es die Beine in die Hand nehmen und so schnell wie möglich zu Chas gelangen. Mira graute davor, wie sie ihn vorfinden würden.
Chas’ Zustand war schlecht. Er schlief, als sie kamen; keinen ruhigen Schlaf, sondern einen seiner Fieberträume, sodass Mira und Biene sich ihm kaum nähern konnten. Die Wasserflasche lag leer und offen neben ihm, aber Mira hatte den Verdacht, dass ihr Inhalt den Erdboden tränkte und nicht Chas’ fiebrigen Körper mit lebensnotwendiger Flüssigkeit versorgte.
Urs kniete sich neben ihm in den Schmutz. Beinahe grob musste er Chas’ Arme zu Boden drücken, um ihn davon abzuhalten, ihn im Fieberwahn von sich zu stoßen. Sogar in der Dämmerung konnte Mira Urs’ Gesicht versteinern sehen, als er Chas’ Wunde untersuchte. „Er braucht Wasser“, sagte er nur tonlos. Sofort sammelte Biene die leere Flasche vom Boden auf.
Mira riss den Blick von Chas los, der sich in Urs’ Griff wand. Ihre Lungen fühlten sich plötzlich zu eng an, um genügend Luft aufzunehmen. „Ich komme mit“, krächzte sie erstickt, aber Biene schüttelte den Kopf.
„Hilf Urs. Hast du nicht gesagt, du hast Medikamente?“
Sich jäh an das nutzlose Sammelsurium an Säften und Tabletten, Verbänden und Injektionen erinnernd, ließ Mira sich neben Urs auf die Knie sinken. Ihre Augen brannten. „Ich wusste nicht, was er braucht.“ Sie zog die übriggebliebenen Fläschchen und Tablettenblister aus ihren Taschen und breitete sie in heillosem Durcheinander vor Urs aus. In der Dunkelheit verschwammen sie vor ihren Augen. Sie hatte auf ganzer Linie versagt. Viel zu lange war sie weg gewesen, hatte Chas viel zu lange alleine gelassen. Und wofür? Für ein paar Hände voll wahllos zusammengesammelter Medikamente, von denen sie nicht einmal wusste, wofür sie gut waren.
„Lass mal sehen.“ Urs’ ruhige Stimme drängte die Panik in ihrem Inneren für einen Moment zurück, hielt sie davon ab, zu einem nutzlosen, verzweifelt schluchzenden Wrack zu werden.
Er wühlte sich durch die Sammlung, las hier und da im letzten Sonnenlicht ein Etikett, legte manches zu seiner Linken, anderes zu seiner Rechten ab, schüttelte den Kopf und nickte schließlich. „Hier. Das hier wirkt entzündungshemmend.“
Mira richtete sich auf. „Bist du sicher?“
Urs nickte. „Ich habe es bekommen.“ Er wies vage in Richtung seines Beines. „Gleich nachdem ich angeschossen wurde. Die Wunde ist viel besser verheilt als die von Chas.“
Natürlich. Auch Urs war beim Überfall auf Klein-Ararat verletzt worden. Mira erinnerte sich, wie ihr bei ihrer Flucht aus dem Gefängnis sein leichtes Hinken aufgefallen war. „Woher hattest du die Medikamente? Und woher wusstest du überhaupt …“
„Natürlich“, unterbrach Urs sie, „hat sich die Entzündung in Chas’ Körper bereits ausgebreitet. Ich hoffe nur … wir können nur beten, dass das Medikament dem gewachsen ist.“
Mit einem Knacken öffnete er das kleine Fläschchen, schob eine Hand unter Chas’ Nacken und zwang ihn gegen seinen Willen in eine aufrechtere Position. Ein Teil der bernsteinfarbenen Flüssigkeit rann über Chas’ Kinn und versickerte in seinem schmutzigen Hemd, aber Mira konnte auch sehen, wie Chas schluckte. Einmal, zweimal, dreimal einen Schluck des rettenden Medikaments in sich aufnahm.
Als er fertig war, griff Urs nach einer Rolle frischem Verband und einer Salbe. „Ich wünschte, wir könnten die Wunde anständig desinfizieren. Aber das hier wird fürs Erste ausreichen müssen. Es wird ihm nicht besonders gefallen“, fügte er hinzu, ehe er sich daranmachte, den geöffneten Verband gänzlich von Chas’ Verletzung zu schälen.
Mira vermied es geflissentlich, dabei zuzusehen. Allein die Erinnerung an den Anblick der verbrannten Haut ließ den Geschmack von Galle in ihrer Kehle hochsteigen. Stattdessen starrte sie in Chas’ Gesicht. Die Unterlippe war blutig gebissen, die Augen bewegten sich hinter den geschlossenen Lidern. Unwillkürlich musste Mira an ihren goldenen Karamellton denken, und plötzlich sehnte sie sich nach diesem Anblick wie in einem langen Winter nach dem warmen Gefühl der Sonne auf ihrer Haut.
Sie zog ihren Ärmel über den Handballen und wischte Chas den Schweiß von der Stirn. Das schwarze, herausgewachsene Haar klebte an seiner Haut, und sie strich es sorgsam zurück. Erst nach einigen Sekunden merkte sie, dass Urs in seiner Tätigkeit innegehalten hatte.
„Entschuldige!“ Sie rückte hastig zurück. „Ich wollte dir nicht im Weg sein.“
„Nein.“ Urs sah sie an und senkte den Blick dann wieder auf Chas. „Bleib. Ich glaube, es beruhigt ihn.“
Mira schluckte, rutschte aber wieder an Chas’ Seite und streckte − nun, da sie sich der Berührung plötzlich viel bewusster war als vorhin − die Hand nach ihm aus. Sie streichelte sein Haar, und ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, als sie sich vorstellte, wie wenig Chas das gefallen würde, wenn er bei Bewusstsein wäre. Es war albern: Selbst die Ruppigkeit, mit der er jede Fürsorge ablehnte, vermisste sie.
Urs trug Salbe auf, und manchmal verzog Chas vor Schmerz das Gesicht. Doch die meiste Zeit blieb er ruhig. Erst jetzt fiel Mira auf, dass Urs seine Arme längst nicht mehr festhalten musste. Als Biene zurückkam, legte Urs gerade einen frischen Verband an, und Mira streichelte immer noch Chas’ Haar. Sie hörte nicht auf damit, spürte aber, wie sie unter Bienes Blick errötete. Zum Glück ahnten die beiden nicht, wie eng umschlungen sie und Chas in dieser einen Nacht geschlafen hatten. Der Wunde und der Albträume wegen natürlich. Aber dennoch.
Trotzdem rückte Mira auch dann nicht weg, als Biene sich auf Chas’ anderer Seite niederließ, um ihm etwas zu trinken zu geben.
Mira beschloss, nicht nachzufragen, woher Biene das Wasser bekommen hatte. Sie war sich beinahe sicher, dass sie keine zufriedenstellende Antwort bekommen würde. Urs hatte ihre Frage nach der Herkunft des Medikaments für seine Verletzung bereits ignoriert, und im Augenblick war sie zu sehr auf die Hilfe der beiden angewiesen, um sie mit ihrem Misstrauen vor den Kopf zu stoßen. Dennoch war sie sich beinahe sicher, dass sie ihr etwas verheimlichten.
Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, Chas einige Schlucke Flüssigkeit einzuflößen, dann ließ Urs sich, erschöpft von der getanen Arbeit, einen knappen Meter neben ihnen nieder und seufzte: „Jetzt können wir nur noch beten.“