Om mani padme hum

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Meist erschienen Leute mit schweren ansteckenden Krankheiten, auch Frauen, die Opium genommen hatten, daneben Kranke mit Krätze oder Verwundungen. Ich verfügte über wenig Medikamente, nur Chinosol und Verbandzeug führte ich in größeren Mengen mit mir.
In meiner Zwangslage beschränkte ich mich auf Desinfektion und einfache Wundbehandlung. Leuten mit Durchfall oder Magenbeschwerden gab ich stark verdünntes Chinosol mit guter Wirkung.
Auch Augenkrankheiten grassierten in Lussar. Ein Mönch mit einer schweren Augenentzündung kam zu mir. Ich machte ihm Umschläge, die seine Schmerzen linderten. Am nächsten Tag erschien der Alte in meiner »Sprechstunde« (!) ohne Verband. Er sagte, seine Vorgesetzten hätten ihm mit Prügelstrafe gedroht, falls er noch einmal im Kloster oder gar zu den Kultübungen mit einem verbundenen Kopf erscheinen würde. Es ist eben doch schwer, im Herzen Asiens Kranke europäisch zu verarzten!
Große Sympathien gewann ich mir durch die Anwendung von Anti-Diphtherie-Serum und von Starrkrampfbekämpfern. Einmal wütete in Sining-fu eine schwere Diphtherieseuche unter den Kindern. Der Tod hielt reiche Ernte. Ich war gerade anwesend. Man bestürmte mich, ich solle helfen! Rasch ließ ich mein Serum aus Lussar holen und konnte einigen schwerkranken chinesischen Kindern das Leben retten. Solche Hilfe vergisst der Eingeborene nie.
In vierzehntägigen Zwischenräumen musste ich von Lussar aus die katholische Missionsstation in Sining-fu besuchen, die meine Briefe in Empfang nahm und mir auch sonst in hochherziger Weise half. Manchmal lieh mir mein Freund Lü ein Pferd. Ich selbst besaß keines mehr; denn ich hatte noch vor Beginn des Winters meine zwei Leiterwagen samt Pferden verkauft. Mein Lieblingstier, das Stangenpferd meines Wagens, hatte ich dem Kloster Kumbum geschenkt. Dort sollte es das Gnadenbrot erhalten. Das treue Tier hatte Überpferdliches geleistet! Mit ihm verband mich innige Freundschaft. Als ich einige Tage später nach meinem vierfüßigen Freund fragte, musste ich zu meinem Schmerz erfahren, dass das Tier noch in der Nacht nach der Einlieferung eingegangen war. Das war der Lohn seiner Treue; es war am Ziel in den Sielen verendet. Auch Pferde haben ihre Schicksale!
Es wurde von Tag zu Tag kälter. Wenn ich nur wenigstens so viel Geld gehabt hätte, um Heizmaterial – den billigen Pferdemist – kaufen zu können! Doch meine paar Groschen reichten kaum aus, um so viel Nahrung zu kaufen, dass ich mich einmal am Tag hätte satt essen können. Solange das Wetter noch »wärmer« war, d. h. solange sich die Temperatur um null Grad herum bewegte, ging es noch, als aber dann die schweren Fröste einsetzten und das Arbeiten an den eisigen Apparaten fast zur Unmöglichkeit wurde, beschlich mich doch ein Gefühl der Verzweiflung, das ich nur dadurch niederkämpfen konnte, dass ich noch mehr und noch länger zu arbeiten versuchte als zuvor.
Dabei sah ich selbst ganz trostlos aus. Meine Zehen guckten aus den abgetretenen und zerfetzten Schuhen, sodass ich sie am Ende wegwerfen und die Füße mit Lumpen umhüllen musste. Mein Mantel war ein einziger großer Fetzen, die Hose wies handtellergroße Löcher auf, durch die der Wind pfiff, wie er wollte. Von Unterwäsche war gar nicht mehr zu reden.
Meist war ich gezwungen, auch im tiefsten Schnee den weiten Weg nach Sining-fu zu Fuß zurückzulegen. Die Entfernung beträgt ungefähr 32 Kilometer, und der Weg führt, besonders im Anfang, über hügeliges Gelände. Auch war ein vereister Fluss zu überqueren, und die letzten acht Kilometer musste man auf der gefrorenen, spiegelglatten Fläche des Bergflusses, der nahe bei der Stadt in den Sining-ho mündet, zurücklegen. Mit meiner mangelhaften Fußbekleidung wurde dieser Marsch oft genug zur Qual. Doch noch war ich gesund und überwand solche Unannehmlichkeiten spielend.
Eines Tages war ich wieder einmal bei beißender Kälte nach Sining-fu gewandert, um mich nach dem Befinden von Beick zu erkundigen, den ich, da ich mittellos war und ihn nicht mehr bezahlen konnte, nach den nordöstlichen Bergen beurlaubt hatte, damit er dort während des Winters seine ornithologischen Studien fortsetzen könne. Der Missionar bot mir sein gutes Reitpferd an, um noch vor Einbruch der Dämmerung heimzukommen.
Unterwegs blies mir ein eisiger Wind direkt ins Gesicht. Bald setzte Schneegestöber ein; ich fror erbärmlich.
Ich erinnere mich noch genau, dass mich in Lussar Schwindel erfasste und mir ein heftiger Schüttelfrost durch alle Glieder fuhr. Ich suchte schleppend meine luftige Wohnung auf.
Wenig später wurde ich in der rechten Bauchgegend von wahnsinnigen Schmerzen heimgesucht, sodass ich mich bald wie ein Wurm krümmte. Ich warf mich, wie ich war, mit den nassen Kleidern auf den Bretterbelag im Alkoven. Die Schmerzen nahmen zu. Ich fror; denn ich hatte weder eine Decke zum Einhüllen noch eine Unterlage für den fiebernden Kopf. Schließlich verließ mich die Besinnung. Am nächsten Morgen stand ein Chinese an meinem Bett, und die Mohammedanerfamilie äugte neugierig durch die Fensterhöhlen. Inzwischen hatte man auch meinen Freund Lü benachrichtigt. Er kam sofort und ließ glühende Holzkohlen unter dem Bretterbelag aufschichten. Die Gase, die nirgends entweichen konnten, füllten den ganzen Raum. Statt der so notwendigen Erwärmung wurde die Luft verpestet, sodass ich zu meinen Leibschmerzen noch eine Kohlenmonoxidvergiftung bekam. Lü ließ eine Decke aus seinem Haus holen und blieb besorgt an meinem Lager sitzen.
Bald schickten mir die Klostermönche in rührender Fürsorge ein Mitglied ihrer medizinischen Fakultät zu Hilfe.
Mein Zustand verschlimmerte sich dennoch zusehends. Heftiges Erbrechen setzte ein, dem große Mattigkeit folgte. Ich hatte keine Ahnung, was mir fehlte. Meine einzige Sorge galt den Chronometern, die ich trotz hohen Fiebers täglich an den Stichstunden pünktlich aufzog. Auch die magnetischen Serienmessungen habe ich, so gut es eben ging, in den Pausen zwischen den schweren Anfällen programmgemäß durchgeführt. Trotz größter Erschöpfung saß ich stundenlang am Apparat. Die Anfälle steigerten sich in so erschreckender Form, dass Lü den K’ang für mich herrichten ließ, der mit Stroh geheizt werden musste. Was geschah? Der ganze Raum füllte sich mit schwelendem, gelbem Rauch.
Erst nach einigen Tagen schwanden diese üblen Nebenerscheinungen. Auf den K’ang wurden Strohmatten und obenauf eine Pferdedecke gelegt, auf die man mich bettete. Es war aber auch diesmal nichts; denn jetzt spie der K’ang glühende Hitze. Mein Rücken war halb geröstet, die anderen Körperteile aber schüttelte der Frost.
Nun schickte mein Freund Lü einen Boten nach Sining-fu, um einen Blechofen zu erstehen, wie sie dort aus alten Petroleumkannen angefertigt werden und für wenig Geld zu haben sind. Jetzt hatte ich also sogar einen Ofen im Zimmer, der jedoch wieder nicht viel half.
Noch vor Winterbeginn hatte ich, der völlig Mittellose, in meiner Not einen Brief an den deutschen Gesandten in Peking geschrieben, in dem ich um Hilfe bat. Dieser Brief war mir nicht leicht gefallen. Ich wartete sehnsüchtig auf Antwort, die eigentlich nach einigen Wochen in meinen Händen sein musste, wenn ..., ja wenn ... Aber Rom war weit ... Antwort kam trotz der zur Verfügung stehenden Funkverbindung Peking—Tihwa erst nach mehreren Monaten in Gestalt eines Briefes mit dem Aufdruck »Deutsche Gesandtschaft in Peking«. Der Inhalt des Schreibens lautete ungefähr: »Der Gesandte hat Ihren Brief vom ... erhalten und ihn zur weiteren Erledigung an das Auswärtige Amt in Berlin geleitet. Ich verbleibe im Auftrage ... « Unterschrift unleserlich.
Nach dieser traurigen Episode zurück nach Lussar. Mein Zustand wurde bedenklicher. Lü rechnete mit meinem Ableben. Er hatte auch eine geheime Nachricht nach Sining-fu gesandt, die dort auf den Ernst meiner Lage aufmerksam machen sollte.
Manchmal glaubte ich wirklich selbst, dass mein letztes Stündlein schlagen werde. Oft setzten lange Ohnmachten ein. Mein Körper wurde immer schwächer. Es fehlte zu allem Unglück an guter Nahrung und an geeigneten Medikamenten. Ich hatte zwar in der Zwischenzeit wiederholt chinesische Arzneimittel genommen, aber deren Wirkung war so gewaltig, dass mein geschwächter Organismus solche Pferdekur gewiss nicht sehr lange ertragen haben würde.
Als ich mich an einem wärmeren Tag einmal zu Lüs Wohnung wagte, fand ich diese verschlossen. Erst am nächsten Tag hörte ich zu meinem Kummer, dass Lüs kleiner halbjähriger Junge an Diphtherie erkrankt und gestorben sei. Vielleicht war es gerade dieses traurige Ereignis, das mich mit Lü und seiner Frau noch näher verband; denn es war mir gelungen, die Tiefgebeugten aus ihrer Niedergeschlagenheit wieder aufzurichten und Lü zu bestimmen, sich nach einem weniger wilden und klimatisch angenehmeren Ort versetzen zu lassen.
Inzwischen hatten die Vorbereitungen für das große Fest im Kloster eingesetzt. Nun hielt es mich nicht länger auf meiner Lagerstätte. Von Lü geführt, schleppte ich mich, wie ein Lasttier mit Apparaten bepackt nach Kumbum, um die Herrlichkeiten dieser weltentlegenen lamaistischen Zentrale im Bild festzuhalten. Ich drehte sogar einige Filmaufnahmen, besonders Tänze, die inzwischen in meinem Film »Om mani padme hum« der Öffentlichkeit vorgeführt worden sind. Die Eingeborenen, die meinem Tun mit Misstrauen folgten, gewohnten sich langsam an mich. Sie hatten Mitleid mit mir; denn sie sahen, wie elend ich war. Mein bleiches Gesicht zeugte von vielen Leiden. Sie wussten bald alle, dass ich fast nichts zu essen hatte, und so oft ich, in Lumpen gehüllt, zähneklappernd den Hof betrat, auf dem sie gerade ihre Versammlungen abhielten, boten sie mir Tee und getrocknete Früchte an. Wie rührend hilfreich waren diese einfachen Naturmenschen!
Anfang Dezember bekam ich unerwarteten Besuch in meiner armseligen Behausung; es stellten sich ein: zwei lebhafte Franzosen mit Lederhut und schweren Reitpeitschen, ein Amerikaner mit breitrandigem Hut und hohen Ledergamaschen, Mr. Plymire, und endlich ein langer, hagerer Amerikaner, Mr. Hayward. –
Die Franzosen beabsichtigten eine Expedition nach Tibet. Die beiden anderen Herren waren Missionare. Mr. Plymire war in Tankar und Mr. Hayward in Sining-fu stationiert, wo er zusammen mit den Engländern Herrn und Frau Learner arbeitete, den Nachfolgern meines lieben Freundes Ridley.
Dieser Besuch wirkte Wunder. Wie heilkräftige Sonnenstrahlen wärmte er mein Gemüt und hat mich in der Tat gestärkt und gekräftigt. Jetzt wusste ich doch, dass ich nicht verlassen war, dass auch andere Menschen mein Leid kannten, Freunde, die mir helfen würden.
Als einige Tage später, es war Mitte Dezember, das große Butterfest einsetzte, kam eine neue beglückende Überraschung. Am Vorabend erhielt ich den Besuch von Mr. Hayward. Er war von einem ebenso langen, schmalen, blonden Engländer, Jack Mathewson, begleitet. Beide luden mich ein, mit ihnen nach ihrer Karawanserei zu kommen, wo zwei englische Missionarinnen und Mrs. Hayward abgestiegen waren.

Betender Lama; Kumbum (Foto:Wilhelm Filchner)

Ein Kebsweib; Tankar (Foto: Wilhelm Filchner)

Tibeter aus Amdo (Foto: Wilhelm Filchner)
Welch große Freude! Man beschenkte mich mit einer Menge Konserven und mit Kuchen, die Mrs. Hayward extra für mich, den Leidenden, gebacken und aufgetischt hatte. Dann erhielt ich noch Brot, Eier, etwas Schokolade, lauter Sachen, die ich seit Monaten nicht mehr gesehen hatte. Ich habe darüber hohe Freude empfunden und war außerdem von derartigem Heißhunger gequält, dass ich in der darauffolgenden Nacht alles aufaß.
Am nächsten Tag zogen alle gemeinsam nach meiner Höhle, um sie zu besichtigen. Man riet mir dringend, den nächsten Arzt zuzuziehen, den Missionschirurgen Dr. King des Krankenhauses der China-Inland-Mission in Lantschou. Schließlich luden mich Mr. und Mrs. Hayward zu sich nach Sining-fu ein, damit ich mich dort etwas erholen sollte. Sie umsorgten mich von jetzt ab mit rührender Teilnahme, und ihr Zuspruch hat mich aufgerüttelt und mir neuen Mut und neue Zuversicht gegeben.
Dankbar ergriff ich die dargebotene Hand und siedelte schon nach einigen Tagen zu den edlen Menschenfreunden Mr. und Mrs. Hayward nach Sining-fu über. Dort erhielt ich neue Unterwäsche, ein Bad wurde sogar für mich bereitet, ein warmer Raum stand zu meiner Verfügung, und täglich bekam ich herrliches Essen. Mr. und Mrs. Hayward stammen aus Seattle, Washington, USA. Gestärkt kehrte ich nach Lussar zurück, um dort meine Serienmessungen abzuschließen.
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