- -
- 100%
- +
Und der Leib bildet in sich Empfindsamkeit. Bekannter Ausdruck hiervon ist der Schmerz, aber auch die große Welt unserer Emotionen, von Leidenschaft, Antrieb, Instinkten oder Begehren. Für alles Empfinden findet sich kaum noch sinnlich Beobachtbares in organischen Veränderungen, durch die Empfindung bildet sich Subjektivität, die sich dem Mess-, Zähl- und Wägbaren und deren Objektivität entzieht. Und doch liegen auch dem Empfinden organische Vorgänge zugrunde, die wir noch angedeutet in Redensarten erleben, wenn uns das Wasser im Munde zusammenläuft, etwas an die Nieren geht, einem die Galle überläuft. Der Empfindungsleib ist der leibliche Ort, an dem sich Leib und Seele begegnen, sich kurz verschmelzen, sich wieder trennen, was als Ein- und Ausatmen anschaulich wird. Nur müssen wir die Atmung viel umfassender denken als nur reduziert auf Lungenatmung. Denn jedes Organ atmet, ist differenzierender Träger der Empfindung, Ort des Erlebens der Seele in der Begegnung mit dem Leib. Die Organe sind Tore der Seele zur Welt, aber auch Spiegel für ihr Selbsterleben.
Dreifach also ist der Leib gegliedert: stofflich, lebendig und empfindend. Und mittels der Wärme durchdringt ihn das Ich, jeden Ort bis zur einzelnen Zelle prägend und ihn sich „entsprechend“ zu machen, wie es durch die Immunologie auch längst entdeckt und beschrieben wurde. So ist der gesunde Leib ich-geprägt, nichts in ihm ist fremd oder darf sich verfremden, alles in ihm ist auf Integrität veranlagt, bildet über das Ich Individualität. Der schwedische Immunologe Prof. Hans Wigzell formulierte es einmal auf einem Kongress in Järna/Schweden so deutlich: „Alle Fakten zeigen, dass das Immunsystem jedes Menschen einzigartig ist. Und es gibt keine Kopie von ihm“. Die Individualität schafft sich ein äußeres Erscheinungsbild in der Biografie. Auch in ihr wird die Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit jedes Menschen deutlich. So müsste sie wesentlicher Bestandteil der Medizin werden, im individuellen Verständnis von Kranksein, dem ganz speziellen Weg einer Heilung, der individuellen Art einer Gesundheit. Jeder Versuch einer kollektiven Erkenntnis führt vom Menschen weg, schafft Illusionen.
Christliche Medizin heißt also immer auch individualisierende Medizin. Was durchaus erlaubt, Artmäßiges oder Typisches vom Menschsein in den forschenden Blick zu nehmen, doch immer im Bewusstsein, dass hiermit Grundsätzliches festgestellt wird, seine Anwendbarkeit auf den konkreten Menschen jedoch stets überprüft werden muss und ihm nicht einfach übergestülpt werden darf. Hier liegt die Einschränkung einer Evidenz-basierten Medizin, die sich als sogenannter Goldstandard der erkennenden Medizin weit von der Wirklichkeit Mensch entfernt hat, sich jedoch als dogmatisch geprägte Haltung wie in einer geschlossenen Burg gegen jede Öffnung verteidigt. Der englische Arzt David Sackett, der diesen Begriff bildete, wusste das und stellte der äußeren Evidenz eine innere gegenüber. Sie zusammen bildeten für ihn erst eine Wirklichkeit ab.11
Der zukünftige Arzt muss sich also in zweierlei Richtung neu ausrichten, um den Leib und seinen Anteil an der Ganzheit Mensch wirklich anschauend zu erfassen. Er muss eine Physiologie als Ausdruck des gesunden Menschen erarbeiten und so in sich zur Anschauung bringen, dass er die Veränderung zur Krankheit als Abweichung oder Vereinseitigung erfasst und im Durchschauen dieser krankhaften Vorgänge sogleich entdeckt, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um wieder geordnete bzw. gesunde Verhältnisse herzustellen. Und er muss sich zugleich in seiner ethisch-moralischen Tätigkeit schulen, um Diener seiner Berufung sein zu können.
Beides soll nur kurz erläutert werden. Wieder wird dabei das Verständnis einer hier gemeinten christlichen Medizin zugrundegelegt und die eigene Erfahrung dieses Weges miteinbezogen.
Menschenverständnis
Um seinen diagnostischen und therapeutischen Blick für den Menschen zu schulen, muss der Arzt sein Erkennen methodisch erweitern. Er kann nicht bei dem stehenbleiben, was ihn die universitäre Medizin lehrt. Deren Methode ist eine analytisch-beweisende, die misst, zählt und wägt, die Objektivierbarkeit anstrebt und alles Subjektive ausschließen will. Dabei bemerkt sie nicht, wie sehr sie den Menschen zu einem Objekt macht. Und sie nimmt ihn immer weniger direkt mit den menschlich zur Verfügung stehenden Sinnesorganen wahr, sondern delegiert das Wahrnehmen an Apparate, deren Mitteilungen sie als Ergebnisse registriert und vor allem interpretiert. Womit die scheinbar reine Objektivität oft schon verlassen wird und sich die Subjektivität des Interpretierenden einmischt. Es gibt viele Untersuchungen, wonach ein objektiver Befund von verschiedenen Ärzten unterschiedlich bewertet wird. Auch scheint die jeweilige Befindlichkeit und Gestimmtheit des Beurteilenden die Interpretation der Ergebnisse zu beeinflussen. In meinem Spezialgebiet etwa, der Gastroenterologie, kamen verschiedene Spezialisten bei der Beurteilung eines gastroenterologischen Befundes am gleichen Patienten nur zu einer Übereinstimmung von maximal 80 Prozent, oft lag die Übereinstimmung aber niedriger. Auch das durchaus objektiv gemessene und aufgezeichnete Elektrokardiogramm (EKG) kann bis heute nicht rein maschinell bewertet werden, stets ist es der Arzt, der das Ergebnis interpretiert. Dennoch sind diese diagnostischen Maßnahmen nicht falsch oder gar überflüssig, doch sind sie einseitig und unvollständig zum Verständnis eines konkreten Menschen.
Einen ergänzenden Schritt habe ich die anschauend-vergleichende Methode genannt. Sie erfasst vor allem alle Lebensvorgänge und die mit ihnen verbundene Funktionalität. Ein einfaches Beispiel hierfür sei der Unterschied des einmalig bestimmten Nüchtern-Blutzuckers im Verhältnis zum Blutzucker-Tagesprofil. Noch aussagekräftiger jedoch ist ein Glukose-Belastungs-Test. Ähnlich sehe ich das Verhältnis vom Einzelwert des Kreatinins zur Kreatinin-Clearance. Die noch außerhalb des Menschen messbaren Vergleiche müssen jedoch gesteigert werden zu einer unmittelbaren Anschauung des anderen Menschen. Früher nannte man das auch den klinischen Blick, und es gab Lehrvisiten oder auch Atlanten, die einen lehrten, die Veränderungen in der unmittelbaren Anschauung des erkrankten Menschen gegenüber dem gesunden aufzufassen. Ich will hier nicht in Einzelheiten gehen, doch ist es für mich eindeutig, dass der geschulte Arzt Wesentliches am Patienten exakter wahrnimmt als jeder Apparat. Das war im Übrigen vor 50 Jahren auch gemeinsame Überzeugung erfahrener Ärzte. Nach Einführung der Ultraschalldiagnostik in der Gastroenterologie fragte ich den damals mit dieser Methode erfahrenen Prof. Rettenmaier von der Universität Erlangen, wie hoch er denn selber den Anteil der Aussagekraft seiner Befundung in der eigenen klinischen Erfahrung sähe? Er lächelte und antwortete: „Mehr als 90 Prozent“!
Wir bleiben der naturwissenschaftlichen Methode treu, sinnlich Erfahrbares über die geschulte Beobachtung wahrzunehmen. Doch macht das so Wahrgenommene etwas mit mir als Wahrnehmenden, das über die einfache Registrierung oder Interpretation hinausgeht. Ich bemerke an mir, wie in mir Gefühle, z.B. der Empathie, des Mitfühlens oder auch des Mitleids geweckt werden, und damit unmittelbar verbunden der aufkommende Wille, hier helfend eingreifen zu wollen. Diesen Impuls nannte Steiner den Heilwillen.
Und ich gehe noch einen methodischen Schritt des Erkennens weiter. Ich trete dem Patienten physiognomisch-beschreibend gegenüber. Hier nun verbleibe ich nicht mehr nur in reiner Sinneswahrnehmung, sondern hier greift meine Intuitionsfähigkeit ein, die mich Wirklichkeiten erkennen lässt, die über das hinausgehen, was meine Augen unmittelbar sehen, meine Ohren hören oder mein Geruchssinn riecht. So wurde mir auch verstehbar, was in den Evangelien angesprochen wird, wenn es heißt „Wer Ohren hat zu hören, der höre“ oder auch „Wer Augen hat zu sehen, der sehe“. Ich kann auch das Bild nehmen, sozusagen zwischen den Zeilen zu lesen oder in einer Anamnese das vom Patienten Nichtgesagte zu hören. Intuition ist ein vielfach und unterschiedlich gebrauchter Begriff. Für mich wurde Intuition die erlebte Fähigkeit, innerlich etwas wahrzunehmen oder aufzufassen, was äußerlich nicht in Erscheinung tritt. Diese Intuitionsfähigkeit erfasst grundsätzlich Ganzheiten, sie ist nicht aufs Detail gerichtet. Ich kann sie lernen bzw. schulen, vor allem durch sorgfältige Beobachtung und die daraus gewonnene Erfahrung und ständige Wiederholung (Reproduktion) beider. Steiners Untertitel seiner „Philosophie der Freiheit“ wurde mir dafür Leitbild: „Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode“. In der Intuition erlebe ich den Unterschied von Abstraktion und Anschauung, und ich war immer wieder fasziniert, welche Sicherheit mir eine intuitiv gefasste Wahrnehmung oder auch Diagnose gab.
Ein Beispiel hierfür soll eine charakteristische Krankengeschichte eingefügt werden. Ein gut 60-jähriger Mann wurde auf Intervention seines väterlichen Freundes, der mein Patient war, aus einer anderen Klinik in unser Krankenhaus und die von mir geführte Innere Abteilung verlegt. Er war schwer krank, tendenziell kachektisch (unterernährt), vor allem physisch kraftlos. Alle bisherigen Versuche der körperlichen Erkräftigung vor allem mit Infusionen waren erfolglos geblieben. Wir fanden schnell heraus, dass ein großer Nebennierentumor und zahlreiche Rundherde in beiden Lungen existierten. Was den intuitiven Menschen in mir aber geradezu ansprang, war die unglaubliche Finsternis, die von diesem Menschen abstrahlte. Das war umso auffälliger, als er ein warmherziger, sensibler, für mich sehr liebenswerter Mensch war. Aus meinem Verständnis war diese Ausstrahlung von Finsternis ein unmittelbarer Hinweis auf eine Tuberkulose.12 Nun war der Patient Jurist und Vorstandsmitglied eines Großunternehmens. Ich konsultierte deshalb auch zu meiner Kontrolle einen der besten Hamburger Lungenfachärzte und teilte ihm meine Vermutungsdiagnose mit. Er untersuchte den Patienten gründlich einschließlich Bronchoskopie und Gewebsproben. Er war sicher, dass es sich um einen Nebennierenkrebs mit Lungenmetastasen handelte und schlug eine entsprechende Therapie mit Operation und Zytostatika vor. Er blieb auch bei seiner Diagnose, als sich in den Gewebs proben kein Krebs zeigte, was nach einigen Tagen feststand. Ich hatte mittlerweile mit dem Patienten gesprochen und ihm beide Diagnosen mitgeteilt und auch mein Dilemma gesagt, dass ich intuitiv sicher sei, dass es eine Tuberkulose sei und ich ihm den dafür notwendigen Weg der Therapie führen könnte, der Spezialist allerdings von Krebs ausging. Was von außen geschaut auch viel wahrscheinlicher war, denn Tuberkulose war zu der Zeit bei uns äußerst selten, Krebs dagegen häufig. Der Patient allerdings vertraute mir und meiner Diagnose und wir machten uns auf den therapeutischen Weg. Und die rasch folgende Besserung seines Befindens gab uns recht, mehr noch die nach etwa sechs Wochen folgende Nachricht, dass in einem durch den Lungenfacharzt sicherheitshalber angesetzten Tierversuch tatsächlich Tuberkelbakterien nachgewiesen wurden. Der Patient wurde gesund bis auf eine Einschränkung der Nebennierenfunktion, hier mussten wir in geringer Dosierung Hormone substituieren. Wir konnten die Therapie ganz auf eine Konzeption der anthroposophischen Medizin aufbauen und brauchten dazu keine chemisch-definierten Tuberkulostatika.
Finsternis und Licht sind Elemente des ersten Tages der Schöpfung (Mos.1,1). Sie waren eins, ehe Gott das Licht von der Finsternis trennte und selbstständig machte. Seither bilden Licht und Finsternis eine Polarität. Letztere bewirkt alle Schwere, auch die Schwerkraft der Physik ist Ausdruck der Finsterniskraft. Das Licht dagegen bewirkt „Leichte“, es führt in die Weite, während die Finsternis alles verdichtet und auf einen Mittelpunkt zuführt.
Da es sich um Kraftwirkungen handelt, können wir auch von peripherisierenden und zentralisierenden Kräften sprechen. Beide wirken auch in uns, die Schwere mehr im Körper, die Leichte mehr in der Seele. Wir brauchen beides. Diese geistigen Wirkkräfte innerlich zu erfahren und zur Anschauung zu bringen, braucht meditative Schulung und fördert die Befähigung zur Intuition. Steiner hat einen berufsspezifischen Meditationstext vermittelt, in welchem die Schweremacht des Körpers und die Leichtekraft der Seele in ihren harmonischgöttlichen Zusammenhang gestellt werden. Sie müssen sich im Menschen begegnen, dürfen sich aber nicht verbinden oder durchmischen („ergreifen und durchdringen“ heißt es im Text). Tun sie es, entsteht Krankheit.13 Überwältigt die Finsternis das Licht, bildet sich das Milieu für die Tuberkulose oder auch die Depression.14 Das Bild des Arztes kann auch sein, dass die Gesetzmäßigkeit des Körpers die der Seele überwältigt. Der Leser kann erahnen, welche therapeutische Intuitionen durch diese Bilder in uns entstehen können, das Licht zu intensivieren, die Seele zu befreien, ein ganz anderes inneres Erlebnis jedenfalls als die leitliniengerechte Verordnung von Tuberkulostatika oder Antidepressiva. Was wiederum erfordert, auch die Besonderheiten der Erdenstoffe zu studieren und zur inneren Anschauung zu bringen, z.B. Phosphorus als Lichtträger, Magnesium als metallgebundenes, hellstes Licht. Hier verstehen wir Paracelsus in seinem Anruf, der Arzt müsse „durch der Natur Examen gehen“.
Auch die Erde wurde durch das Geschehen von Golgatha und Ostern mit der Christuskraft durchdrungen, sowohl mit Leib und Blut als auch durch das Eindringen bis zum Erdmittelpunkt in der sogenannten Höllenfahrt am Karsamstag. Darüber werde ich später in einem eigenen Kapitel schreiben, denn das Verständnis der Arznei aus Natursubstanzen braucht ebenso die Durchchristung wie das Verständnis vom Menschen und seiner vielgegliederten Ganzheit in Leib, Seele und Geist.
Menschenverständnis, wie es hier als Anteil einer christlichen oder eben durchchristeten Medizin gemeint ist, braucht die geschulte Wahrnehmung durch alle Sinne, deren Zwölfheit Rudolf Steiner ausarbeitete, braucht Exaktheit im Beobachten, Vorurteilslosigkeit im Begriffebilden, geduldiges Wiederholen immer gleicher Erkenntnisbemühungen und Selbstlosigkeit gegenüber dem anderen Menschen bzw. der Natur. Diese soll sich ihm aussprechen, nicht ich soll sie aus dem Eigenen beurteilen oder gar interpretieren. So kann man Steiner verstehen, der die Medizin eine großartige Erziehung zur Selbstlosigkeit nannte, was doch mit Blick auf unsere Gegen wart geradezu als paradox oder sogar widerlegt erscheint. Doch ist die von Steiner gemeinte Selbstlosigkeit unverzichtbare Voraussetzung einer christlichen Medizin, oder wie Paulus es aussprach „Nicht Ich, der Christus in mir“ (Galater 2,20) oder – wie ich es sehe, statt „in mir“ – „in meinem Ich“, das ja auch mein Selbst beschreibt. Sehen mit Christi Augen, hören mit Christi Herz bzw. Ohren setzt Selbstlosigkeit voraus (siehe Kapitel 10).
Menschenliebe
Selbstlosigkeit ist auch die Voraussetzung um lieben zu können. Dabei verstehe ich hier Selbstlosigkeit so, dass ich ein Selbst als Ich ausgebildet haben muss, welches ich zurückstelle, um bei dem anderen zu sein, ja vielleicht in seinen Dienst stelle, damit er durch mich werden kann, z.B. gesund. Dazu wieder ein Christuswort: „Liebe deinen Nächsten so wie dich selbst“ (Luk.10,25–28). Wer sich nicht selbst zu lieben lernte, wird auch nicht andere/anderes lieben können. Deshalb ist die Kindheit und Jugend auch eine so wichtige Zeit, das Selbst auszubilden und zu lernen, Ja zu sich zu sagen. Von außen angeschaut eine Zeit starker Egoität. Ich habe meine fünf Kinder in deren Kindheit oft liebevoll „meine kleinen Egoistentierchen“ genannt, denn dieser Egoismus ist noch nicht seelengebunden oder Ich-geprägt, sondern leibbildend. Der von Eltern und Vorfahren gebildete und vererbte – ich könnte auch sagen geschenkte – Leib (den Steiner auch so anschaulich Modell-Leib nennt), muss ja über zwei Jahrzehnte zu einem Individual-Leib werden, einem Leib, in dem jeder Ort, jede Flüssigkeit, alle Bewegung vom Ich ergriffen und einzigartig, unverwechselbar wird. Ein Geschehen, das wir dann abstrakt Immunsystem oder erworbene Immunität nennen. In den allerersten Anfängen meiner Lehrzeit zum Arzt, noch als Medizinalassistent vor der eigentlichen Approbation, durchfuhr mich beim Zuschauen einer äußerst ruppigen Blutentnahme aus einer Armbeugenvene, die der Chefarzt selbst durchführte (es war eine Privatpatientin), der fragende Gedanke: „Liebst du eigentlich den Menschen“? Womit mir schlagartig bewusst wurde, dass ich Arzt nur sein kann, wenn ich den Menschen liebe. Nicht den Einzelnen, sondern den einzelnen Menschen als göttliche Schöpfung. Da hatte ich Steiners Aussage noch nicht gelesen. Später las ich bei Carl Gustav Carus: „Jeder Mensch, ja jede Kreatur ist eine Idee Gottes. Und alle sind gleich wert“.15 Und damit sind wir bei der ethisch-moralischen Seite der Medizin, die heute nicht mehr vermittelt wird, die jedem selbst überlassen bleibt, die aber eine der beiden Hauptwurzeln einer christlichen Medizin ist.
Es war kein Ritual, wenn man den Arzt vor der Erlaubnis, den Beruf ausüben zu dürfen, den Hippokratischen Eid sprechen ließ. Es war ein Gelöbnis und zugleich Handlungsanweisung. Und es war das alle Ärzte verbindende ethisch-moralische Element. Mit Auslöschen der Hippokratischen Medizin, die zur Humoralpathologie verkommen war, wurde auch dieser Eid nicht mehr gesprochen. Heute kennt ihn wohl kaum noch jemand. Und nichts anderes, gemeinsam Verbindliches ist an seine Stelle getreten. Es ist erschütternd auszusprechen, dass sich die Medizin seit dem 20. Jahrhundert zunehmend in einem ethikfreien Raum bewegt. Tauchen ethische Fragen auf, wie z.B. die Definition des Hirntodes als endgültiger Tod des Menschen auch beim Fehlen „sicherer“ Todeszeichen (wie sie jeder Arzt im Studium lernte), werden für eine solche Einzelfrage Ethik-Kommissionen gebildet, in der keineswegs nur Ärzte, sondern auch andere Berufe, vor allem Juristen, mitwirken.
Eine Medizin ohne verbindende Ethik ist unchristlich. Denn das ganze Christentum ist getragen von einer Ethik, welche die zehn Gebote, die Moses vermittelte, zusammenfasst und übergreift in dem einen Gebot, das Christus uns gibt: „Liebet einander“ (Joh.15,12–13). So einfach das klingt, so unerfüllbar scheint dieses Gebot seit 2000 Jahren, heute mehr denn je, wo die apokalyptische Zeit des „Krieges Jeder gegen Jeden“ angebrochen scheint. Und dennoch: gerade weil es so aussichtslos scheint, muss an besonderen Stellen mit der Umsetzung dieses Gebots begonnen werden. Und wo wäre das naheliegender als in der Medizin? Vielleicht noch in der Pädagogik, viel unvorstellbarer dagegen in der Wirtschaft. Weil es so grundsätzlich ist, möchte ich einige Zeitphänomene erwähnen, um zu verdeutlichen, wo der Medizin eine verbindende Ethik fehlt bzw. welche Handlungsweisen sich in einem ethikfreien Raum einstellen.
Beispiele für eine ethikunabhängige Medizin
Jeder gesund empfindende Mensch wird mir zustimmen, wenn ich sage, dass ein maximales Gewinnstreben auf Kosten der kranken Menschen unethisch ist. Doch finden wir in allen Bereichen der Medizin ein Denken der Marktgesetze der Wirtschaft. Der Arzt Professor Giovanni Maio, Inhaber des Lehrstuhls für Medizinethik an der Universität Freiburg, spricht von der Ökonomisierung der Medizin.16 Der Arzt will gut, lieber sehr gut leben durch seine Arbeit. Jahrzehntelang zählte tatsächlich der Arztberuf zu denen mit den besten Aussichten, viel Geld zu verdienen. Als das gesetzgeberisch immer mehr eingeschränkt wurde, erfanden die Ärzte die sogenannten IGEL-Leistungen, die nicht von Krankenkassen erstattet wurden und die der Patient selber zu zahlen hat. Dass die meisten von ihnen von zweifelhaftem Nutzen sind, zeigt ihren Hintergrund. Auch verbanden sich Ärzte mehr und mehr zu Betrügereien, indem Leistungen abgerechnet wurden, die gar nicht erbracht worden waren. Was dadurch leicht möglich ist, dass die meisten Patienten die Arztrechnungen gar nicht kennen. Sie gehen direkt an die Krankenversicherung. Erst kürzlich erlebte ich selber, dass von einem Orthopäden eine große neurologische Untersuchung abgerechnet wurde, die von ihm gar nicht durchgeführt worden war. Als ich den Arzt daraufhin ansprach, erklärte er, er käme nicht auf seine notwendigen Einnahmen, wenn er sich streng an die Gebührenordnung hielte. Was oft auch zutrifft, jedoch ein Systemfehler ist und nicht durch Betrügen korrigiert werden dürfte. Viele Leistungen werden wiederum erbracht, die gar nicht nötig waren, z.B. EKG- oder Röntgenuntersuchungen. Darauf angesprochen heißt oft die Antwort „Der Apparat muss sich amortisieren“. Und so könnte ich viele weitere Beispiele nennen, wie sie auch der erwähnte Professor Maio in seinem Buch beschreibt.
Die Medizingeräteindustrie gehört zu den Wirtschaftszweigen, die extrem am kranken Menschen verdienen. In Hamburg hat man errechnet, dass eine überschaubare Zahl von Computer-Tomografen ausreichend wäre, um die reale Zahl notwendiger Untersuchungen zu bewerkstelligen. Es waren jedoch zehnmal so viele Apparate aufgestellt. Auch ständig erhöhte Sicherheitsvorschriften steigern Umsätze. So mussten wir in unserem Krankenhaus über hundert noch relativ neue sogenannte Infusoren austauschen, weil sie ganz neu geschaffenen Sicherheitsvorschriften nicht mehr entsprachen. Sie hatten bis zu dem Zeitpunkt des Austausches immer tadel los funktioniert, ohne dass Sicherheitsprobleme auf getaucht waren. Das kostete viel Geld, das im Budget nicht vorgesehen war. Und wir durften die einwandfrei funktionierenden Geräte auch nicht ärmeren Ländern schenken, sie wurden eingezogen und vernichtet. Schließlich wollte man ja auch in diese Länder seine Waren verkaufen, wenn vielleicht auch zu einem niedrigeren Preis. Denn das ist auch so ein Phänomen: Das gleiche Arzneimittel kostet in verschiedenen Ländern unterschiedlich viel. In Deutschland z.B. können Medikamente hochpreisig verkauft werden. Sogenannte Reimporte wurden gesetzlich untersagt.
Die hohen Entwicklungskosten für ein neues Arzneimittel werden auf den Preis bei Markteinführung umgelegt. Das sind dann „innovative“ Arzneimittel, die patentrechtlich geschützt ohne Konkurrenz sind und von uns allen über die Krankenkassenbeiträge finanziert werden. Dabei steht überhaupt nicht fest, ob alle diese Arzneimittel eine Verbesserung in der Behandlung einer bestimmten Krankheit erbringen. Vorausgehende Untersuchungen und Studien haben Hinweise dafür ergeben. Ob sich das jedoch bei nun Tausenden von Kunden („Patienten“) bestätigt, wird erst in der breiten Anwendung erprobt, die nächsten Jahre werden es zeigen. Schlimmstenfalls müssen sie wegen schwerer Nebenwirkungen sogar wieder vom Markt genommen werden, möglichst jedoch erst, wenn sie die Entwicklungskosten eingespielt haben.
Arzneimittelhersteller der Komplementärmedizin haben praktisch nie die Geldmittel, um neue Arzneimittel z.B. der Phytotherapie zu entwickeln, was noch verstärkt wurde, als sie aus der Erstattungspflicht der Krankenkassen 2004 ausgeschlossen wurden. So entstanden Nahrungsergänzungsmittel, die in Wirklichkeit als Arzneimittel gedacht sind, die aber den strengen Kriterien des Arzneimittelgesetzes nicht unterworfen wurden, z.B. der erwiesenen Wirksamkeit und Unbedenklichkeit.
Ein ganz anderes Phänomen ist das der Schädigung von Menschen durch die Medizin. Unwidersprochen werden Zahlen veröffentlicht, dass z.B. in den USA jährlich 150 000 Menschen auf Grund medizinischer Interventionen sterben. Hauptursache sind Krankenhausinfektionen, unerwünschte Arzneimittelwirkungen oder nicht bedachte Interaktionen mehrerer gleichzeitig und vielleicht von verschiedenen Ärzten, die nichts voneinander wussten, verordneter Medikamente. Und natürlich gehören auch Kunstfehler der Ärzte und anderer medizinischer Berufe dazu. Für Deutschland gibt es keine exakt ermittelten Vergleichszahlen, man geht von etwa 40 000 Todesfällen aus. Und das wird als unvermeidbar oder fast selbstverständlich hingenommen, kein Aufschrei erfolgt, kein Entsetzen. Geschähe so etwas im politischen Raum, würde wohl von Völkermord gesprochen. Und das Entsetzliche daran ist, dass sich solche Zahlen jährlich wiederholen. Das Ganze geht nur weil als common sense offenbar gilt, dass die Medizin eben nicht nur nutzt, sondern auch schadet. Deshalb musste das „Nil Nocere“, dass der Arzt dem Kranken nicht Schaden zufügen dürfe, mit dem Hippokratischen Eid verschwinden. Die Medizin macht sich nicht mehr dafür verantwortlich, und der betroffene Mensch hat eben Pech gehabt, so ist die Wirklichkeit. Ich halte das für zutiefst unethisch.