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Problemlösen, Stress und Coping. Wenn wir mit Situationen konfrontiert sind, die einerseits biologisch, psychisch und/oder sozial bedeutsam sind, andererseits aber keine einfache Lösung zulassen, geraten wir in einen Zustand, den wir mit Selye als „Stress“ bezeichnen können. Selye (1936) unterscheidet negativen „Dis-stress“ oder „strain“ und positiven Stress oder „Eu-stress“. Letzterer ist ein psychophysischer Aktivationszustand des Individuums, der produktive Problemlösungen erleichtern, ja fördern kann. Bei Dis-Stress hingegen findet die Suche nach Problemlösungen, das → Coping-Verhalten unter überstarken, für die Lösung oft ungünstigen physiologischen Aktivationsbedingungen statt. Mit verschiedenen Formen von Coping beschäftigt sich inzwischen eine entwickelte Forschungsrichtung, die u. a. gezeigt hat, dass jedes Individuum über einen begrenzten Satz von Strategien und Schemata verfügt, mit Stresssituationen erfolgreich umgehen zu können (vgl. Abschnitt 2.1 und 2.2.2 zur Phänomenologie und Psychobiologie der traumatischen Situation).
Biologisch bedeutsame Stresssituationen versetzen den Organismus in der Regel in einen Aktivationszustand, in dem Kampf- und Fluchttendenzen einander abwechseln oder auch simultan einander widerstreiten (fight-flight reaction. nach Cannon in von Uexküll 1988). Kampf-/Fluchttendenzen und Coping Verhalten zielen darauf ab, die äußere Problemsituation zu bewältigen. Man kann diese Mechanismen, die im Situationskreis sowohl die rezeptorische wie die effektorische Sphäre maximal aktivieren und belasten können, als Anpassungsmechanismen bezeichnen. Mit ihnen passt sich der Organismus so weit den problematischen Umweltverhältnissen an, wie es die Situation erfordert. Dauert die bedrohliche Situation länger an, so arbeitet das psychophysische System in einem permanenten Alarmzustand, was seine Kapazität auf Dauer überfordert und erschöpft. So kann es bei dauerhaftem Dis-Stress zu einem psychophysischen Erschöpfungszustand kommen, den Cannon als das „General Adaptation Syndrome“ beschrieben hat mit zahlreichen psychophysischen Störungen wie Verlust der Immunkompetenz, Störung der Wundheilung, Erschöpfung der Energievorräte und Auftreten von organischen Beeinträchtigungen, wie z. B. Magengeschwüren.
Durch dauerhafte Coping- und Anpassungsbemühungen gerät der Organismus in einen Zustand, der wiederum seine Existenz gefährdet und das Ziel der Anpassungsbemühungen hintertreibt. Daher setzt das psychophysische System seiner Veränderung durch Anpassungsbemühungen normalerweise systemerhaltende → Abwehrmechanismen entgegen. Hier werden bestimmte störende Bedingungen der Umwelt oder auch der „Innenwelt“: der enteroceptiven und proprioceptiven Körperempfindungen aus der rezeptorischen Sphäre ausgeblendet. Der biologische Sinn von Abwehrvorgängen besteht darin, der Informationsüberflutung des Systems und übersteigertem Anpassungsdruck entgegenzusteuern. Führt aber weder Coping noch Abwehr zu einer Kontrolle der biologisch und/oder psychosozial bedrohlichen Problemsituation, so gerät das psychophysische Individuum aus dem Bereich der Stressbelastung in eine potenziell traumatische Erfahrungssituation hinein. Die regulativen Schemata versagen. In einer extrem bedeutsamen Situation kommt es so zu einer systematischen Diskrepanz zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten.
Definition der traumatischen Erfahrung. Von diesen Überlegungen aus können wir psychisches Trauma jetzt näher definieren, und zwar als ein
vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.
In der traumatischen Situation sind einige Regeln der normalen Erlebnisverarbeitung gewöhnlich außer Kraft gesetzt. Es kommt zu Veränderungen der rezeptorischen Sphäre (Veränderungen des Zeit-, Raum- und Selbsterlebens). Mit Bezug auf die effektorische Sphäre können wir Trauma als unterbrochene Handlung in einer vital bedeutsamen Problemsituation definieren. Aktuell tritt entweder eine (katatonoide) Lähmung und Erstarrung ein oder es kommt zu einem panikartigen Bewegungssturm. Langfristig setzt sich die aus der experimentellen Psychologie bekannte Tendenz zur Wiederaufnahme unterbrochener Handlungen durch. Dieses als „Zeigarnik-Effekt“ bekannte Phänomen tritt bei einer vital bedeutsamen unterbrochenen Handlung natürlich verstärkt in Erscheinung und kann zur Erklärung der verschiedenen Wiederholungstendenzen (Wiederholungszwang, → Traumatophilie, Traumasucht) herangezogen werden. Werden Traumabetroffene postexpositorisch über ihr Erleben befragt, so schildern sie vor allem Symptome des völligen Absorbiert- und Gefangenseins in der Situation, von Depersonalisierung (z. B. neben sich stehen) und Derealisierung (es ist nicht Wirklichkeit, Phantasie, nur ein Traum) sowie amnestische Erfahrungen des Vergessens entscheidender Vorkommnisse. Die Schemata unserer Wahrnehmungsverarbeitung werden durch traumatische Erlebnisse anscheinend strukturell verändert bzw. außer Kraft gesetzt. Bernstein und Putnam (1986) haben einen Fragebogen entwickelt, das „Peritraumatic Dissociative Experience Questionnaire“ (PDEQ), der wichtige dissoziative Erfahrungen erfasst. Der Fragebogen wurde u. a. Soldaten nach Kampfeinsätzen vorgelegt. Hohe Werte im PDEQ erwiesen sich in Untersuchungen als ein relativ zuverlässiger prognostischer Indikator für die spätere Ausbildung eines PTBS. Auch im Kölner Opferhilfe Modell zeigte sich diese Tendenz (Fischer et al. 1998). Um einen Eindruck zu vermitteln, führen wir im Folgenden einige Statements aus dem Fragebogen in Kurzform an.
„Ich wußte nicht mehr, was vor sich ging und war an den Ereignissen nicht mehr beteiligt; ich handelte automatisch und bemerkte erst später, daß ich Dinge tat, zu denen ich mich gar nicht bewußt entschlossen hatte; alles schien wie im Zeitlupentempo zu passieren; es schien mir unwirklich, als ob ich träume, oder einen Film bzw. ein Theaterstück sehe; ich fühlte mich wie ein Zuschauer, als ob ich das Geschehen wie ein Außenstehender betrachten und darüber schweben würde; ich fühlte mich abgetrennt von meinem Körper oder so, als ob mein Körper außergewöhnlich groß oder klein wäre; ich fühlte mich von Dingen, die anderen geschahen, unmittelbar selbst betroffen; später fand ich heraus, daß vieles passiert war, was ich nicht mitbekommen hatte, vor allem Dinge, die ich normalerweise bemerken würde; es gab Augenblicke, in denen mir nicht klar war, was um mich herum vor sich ging, ich war verwirrt; ich war desorientiert; es gab Momente, in denen ich mir unsicher war, wo ich war und welche Zeit es gerade war“.
Eine oft berichtete peritraumatische Erlebnisveränderung ist die so genannte „Tunnelsicht“. Das Blickfeld ist seitlich extrem eingeengt, so dass das Geschehen sich wie in einem Tunnel abspielt. Vom Situationskreismodell her könnte man eine spezifische Beeinflussung der rezeptorischen durch die motorische Sphäre vermuten. Der Betroffene kann zwar nicht fliehen, nimmt aber die Umgebung wie aus wachsender Entfernung wahr. Die Fluchtbewegung in der Wahrnehmung manifestiert sich auch in einigen anderen Phänomenen, wie über den Dingen schweben, aus dem eigenen Körper heraustreten, ein außenstehender Beobachter sein oder träumen, statt die Wirklichkeit zu erleben. Bedenkt man die gegenseitige Durchdringung von effektorischer und rezeptorischer Sphäre, von Motorik und Sensorik, die das Kreismodell impliziert, so kann der psychobiologische Sinn des peritraumatischen Erlebens darin gesehen werden, wenigstens eine Wahrnehmungsdistanzierung zu erreichen, wo die reale Flucht nicht möglich ist und/oder aktives Kampfverhalten sich als wirkungslos erweist. Die amnestischen Phänomene kann man zum Teil als Abwehr verstehen, die der Selbsterhaltung des psychobiologischen Systems dienen soll.
Depersonalisationserlebnisse, die wir auch als „Selbstverdopplung“ des Subjekts betrachten können, stellen ebenfalls einen solchen → Selbstschutzmechanismus dar. Das personale Erlebniszentrum trennt sich vom empirischen Selbst und schaut der bedrohlichen Szene von außen, oft schwebenderweise von oben zu. Folteropfer z. B., die über solche dissoziativen Fähigkeiten verfügen, sind gegenüber der unerträglichen traumatischen Situation möglicherweise besser geschützt als andere, denen diese Fähigkeit nicht zur Verfügung steht.
Bislang ist nicht eindeutig geklärt, ob dissoziative Fähigkeiten angeboren sind oder frühkindlich erworben werden. Die erwähnte positive Korrelation zwischen hohen Werten im PDEQ und späterem PTBS muss nicht dahin interpretiert werden, dass Personen mit hohen dissoziativen Fähigkeiten einem stärkeren PTBS-Risiko ausgesetzt sind. Es kann auch ein gemeinsamer Situationsfaktor zugrunde liegen, der sowohl peritraumatische → Dissoziation fördert wie auch das Folgesyndrom. Für die Verwandlung von Erinnerungen an die traumatische Situation in schematisiertes Wissen allerdings stellen dissoziative Tendenzen vermutlich ein besonderes Problem dar. Hier kann es leicht zur Bildung dissoziierter, fragmentierter Schemata kommen, die ein abgespaltenes Dasein im Gedächtnis führen und sich den Koordinationsregeln entziehen, die sonst den verfügbaren Wissensbestand der Persönlichkeit leiten.
Abbildung 4 zeigt das peritraumatische Erleben im Modell des Situationskreises. Bei den traumatisch bedingten Veränderungen der effektorischen Sphäre sind Leerlaufhandeln und Pseudohandeln zu erwähnen, Handlungstendenzen, die zwar nicht mehr effektiv eine Problemlösung herbeiführen können, dennoch aber für die psychische Befindlichkeit des Individuums von großer Bedeutung sind. Wir kommen auf diesen Punkt zurück. Ein zweiter Handlungszyklus setzt sich nun gewissermaßen durch den Realitätsfaktor hindurch in der Phantasie fort, im Diagramm durch die gestrichelte Fortführung des Kreissegmentes angedeutet. Hier haben wir jene Veränderungen des Selbst- und Realitätserlebens angeführt, die in der Selbstverdopplung des Subjekts (dargestellt in S2) zu einer phantasierten Existenz als außenstehender Beobachter führen. Depersonalisierung und Derealisierung betreffen das Merken des Merkens und das Merken des Wirkens. Auf dieser metakognitiven Ebene des Situationskreises greifen Depersonalisierung und Derealisierung an, indem sie die sensorische Reafferenz zur effektorischen bzw. rezeptorischen Sphäre unterbrechen. Reafferente sensorische Bahnen informieren das Gehirn über den Zustand der effektorischen Sphäre. Wird in der Derealisierung die motorische Reafferenz unterbrochen und das pragmatische Realitätsprinzip außer Kraft gesetzt, so unterbricht in der Depersonalisierungstendenz das Merken des Merkens und mündet ein in eine Selbstverdopplung des Subjekts im Sinne eines Selbstrettungsversuches.
Im Außenbereich des Diagramms sind rechts die traumatogenen Umgebungsfaktoren eingetragen, die sich ungehindert in das innere Zentrum des Situationskreises fortsetzen können und die Integrität des Selbst bedrohen. Hier ist der Ort der objektiven Situationsfaktoren, während auf der linken Seite der Subjektpol, die Innenperspektive des traumatisch verzerrten Situationskreises angegeben ist.

Erklärung zu Abb. 4: Das Schaubild stellt die wichtigsten Abwandlungen des Situationskreismodells dar, wie sie durch die psychotraumatische Erfahrung hervorgerufen werden. Das Diagramm ist vom inneren Zirkel her nach außen hin zu lesen. Zwischen U1 und S1 (für Subjekt 1 und Umgebungsfaktor 1) spielt sich der erste Zyklus ab. Die bedrohlichen Umgebungsfaktoren kommen auf das Subjekt zu in einer Weise, die dessen Deutungsschemata und Bewältigungsmöglichkeiten übersteigt. Im Inneren des Zirkels ist das Versagen der Bedeutungserteilung angedeutet. Die erste effektorische Handlungsbereitschaft dürfte das Kampfverhalten sein als Versuch, sich zur Wehr zu setzen und die bedrohliche Umweltkonstellation fernzuhalten. Das „Versagen“ der effektorischen Sphäre haben wir im Diagramm dadurch angedeutet, dass der Pfeil am Umgebungsfaktor gewissermaßen ins Leere zielt. So kann ungehindert der traumatogene Umgebungseinfluss mit U2 fortgesetzt werden. Hier wirkt sich nun die Fähigkeit zum Probehandeln in der Phantasie dahin aus, dass es zu den beschriebenen Veränderungen der Wahrnehmung kommt, wie z. B. zur Tunnelsicht, die wir hypothetisch als Ausdruck der Fluchttendenz in der Wahrnehmung verstanden hatten. Ein zweiter effektorischer „Durchgang“ durch den Situationskreis nach der gescheiterten Kampftendenz dürfte zunächst Flucht, dann ev. Erstarrung sein. Die Handlungstendenz scheitert an der Realität und wird auf sich zurückgeworfen, was wir über den in sich rückläufigen Handlungspfeil symbolisieren.
Abbildung 4: Traumatische Erfahrung im Modell des Situationskreises
Ausgangspunkt ist unsere Definition des Traumas als eines vitalen Diskrepanzerlebnisses zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten. Nach den vergeblichen Aktivierungszyklen im Situationskreislauf stellt sich als erstes Resultat die Erfahrung von Wirkungslosigkeit ein und das Gefühl, den bedrohlichen Umständen hilflos ausgeliefert zu sein. Wird die punktuelle traumatische Situationserfahrung nun weiter ausgearbeitet, in schematisiertes soziales Wissen oder entsprechende Sachschemata eingearbeitet, so kann es zu einer Haltung von generalisierter → Hilflosigkeit kommen, die wir auch als erlernte Hilflosigkeit bezeichnen können unter Bedingungen, die in Abschnitt 3.1.2. näher beschrieben werden. Auch die Erschütterung unseres Selbst- und Weltverständnisses, welche die traumatische Erfahrung bewirkt, kann mehr oder weniger stark verallgemeinert sein. Wird die traumatische Erfahrung als „repräsentativ“ für das kommunikative oder pragmatische Realitätsprinzip interpretiert (vgl. 2.2), so verwandelt sich die Stimmung der Hilflosigkeit in die einer generellen Hoffnungslosigkeit und Depression.
Das Situationskreismodell kann uns dem psychobiologischen Sinn, der „Teleologie“ der peritraumatischen Erfahrung näherbringen und eröffnet der Forschung so fruchtbare Wege. Dabei sind in der effektorischen Sphäre die angedeuteten Leerlaufhandlungen von besonderem Interesse. Wenn der Situationskreis unser psychophysisches Weltverhältnis korrekt beschreibt, dann können wir davon ausgehen, dass das Grundprinzip „Problemlösung durch Koordination von Sensorik und Motorik“ auch unter extremen psychotraumatischen Belastungen erhalten bleibt. Phantasmatisches Abwehrverhalten, Pseudohandeln oder Leerlaufhandlungen lassen sich unter diesen Bedingungen als biologisch sinnvoll verstehen. Tiere, die unter extrem beengten Verhältnissen gehalten werden, entwickeln stereotype Verhaltensabläufe, die an Leerlaufhandlungen oder an Rituale erinnern.
Kognitive Schemata sind über die motorische Komponente mit bestimmten organspezifischen Funktionskreisen gekoppelt. Gespaltene, in sich widersprüchliche Schemata gehen mit einer dysfunktionalen Aktivierung der zugeordneten biologischen Funktionskreise einher. So ließe sich hypothetisch etwa die gleichzeitige und gleichstarke Aktivierung von Kampf- und Fluchttendenzen als gegenseitige Blockierung verstehen, die wiederum zur katatonoiden Bewegungsstarre führt, wie sie Max Stern (1988) neben dem blinden Bewegungssturm als eine der beiden basalen Traumareaktionen beschreibt.
Das Situationskreismodell, das wiederum eine Vielzahl biologischer, teilweise organspezifischer Funktionskreise berücksichtigt, bietet einen Überblick über das komplexe psychosoziale und biologische Geschehen im peritraumatischen Erleben, also in der Expositionsphase der psychischen Traumatisierung. Hier ist das Individuum den traumatischen Situationsfaktoren unmittelbar exponiert. Neben ihrer Selbstschutz- und Selbstrettungsfunktion lassen sich die peritraumatischen Erlebnisphänomene auch als Beginn einer möglicherweise dauerhaften Schädigung der psychischen Selbstregulierung verstehen. Wie in der somatischen Krankheitslehre stellt sich auch hier die Frage nach den pathogenetischen Mechanismen.
2.2.1 Pathogenese des psychischen Traumas
Als „pathogenetisch“ verstehen wir solche Mechanismen und Rückkopplungskreise, die ein Störungsbild verfestigen bzw. aufrechterhalten. Diese Vorgänge sind zu unterscheiden von der Ätiologie als der Lehre von den Krankheitsursachen (von gr. aitia = Ursache oder auch „Schuld“). Während die Ätiologien in der Psychotraumatologie, zumindest was die äußeren Bedingungen des Traumas angeht, ungewöhnlich klar sind, bedarf die pathogenetische Frage eingehender Untersuchungen und begrifflicher Klärung. Aussichtsreich erscheint hier ein Mehr-Ebenen-Zugang nach dem Modell der „Hierarchie von Systemebenen“ (Abb. 2). Trauma kann vorwiegend oder auch ausschließlich auf der physiko-chemischen, der biologischen oder der psychosozialen Ebene verstanden werden. Ist vorzugsweise eine einzelne Ebene angesprochen, so sind die „Aufwärts- und Abwärtseffekte“ zu berücksichtigen. Unsere oben vorgeschlagene Definition spricht verschiedene pathogenetische Momente an, die sich unterschiedlichen Ebenen zuordnen lassen. Das Moment der Hilflosigkeit ist eine phänomenale Beschreibung des Taumaerlebens auf der psychologischen Ebene. In Seligmans Theorie der „erlernten Hilflosigkeit“ wurde dieses Konzept ausgearbeitet, allerdings nur mit Bezug auf Depression als eine der häufigsten Folgeerscheinungen. Das Stichwort „Trauma“ taucht seltsamerweise bei Seligman noch nicht einmal im Sachregister auf. Allerdings erwähnt Seligman verschiedene „Abwärtseffekte“ erlernter Hilflosigkeit wie den plötzlichen Tod im Zustand vollkommener Hilflosigkeit, der bei einigen KZ-Opfern zu beobachten war (Kap. 6). Wir gehen im Abschnitt 3.1.2 auf diese vor allem im Tierexperiment gewonnenen Befunde näher ein.
Das pathogenetische Moment der schutzlosen Preisgabe an bedrohliche Umweltfaktoren entspricht einem extremen Kontrollverlust in der traumatischen Situation. Seine Folgen und auch die Prinzipien, nach denen Traumaopfer ihr Kontrollbewusstsein wiedererlangen können, lassen sich nach der Kontrolltheorie von Rotter (1966) und anderen Autoren näher untersuchen.
Trauma als ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten zu beschreiben, ist ein relationaler Definitonsversuch, der zuvor auch als „ökologisch-dialektisch“ gekennzeichnet wurde. Diese Relation impliziert einen quantitativen und einen qualitativen Gesichtspunkt. Je stärker die traumatischen Situationsfaktoren, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Individuum über hinreichend Ressourcen verfügt, um die Erfahrung bewältigen zu können. Bei Extremtraumatisierung durch Folter oder andere Situationen fortwährender Lebensbedrohung dürfte so gut wie kein Mensch der psychischen Traumatisierung entgehen. Das qualitative Moment der Subjekt-Umwelt-Relation versuchen wir durch ein Konzept wie das → ZTST näher zu erfassen. Das kritische pathogenetische Moment besteht hier weniger in der objektiven Intensität der traumatischen Faktoren als in deren qualitativer Eigenheit, die sich entweder an ein schon bestehendes → Traumaschema anschließt oder zentrale Momente eines Lebensentwurfes oder auch erworbene traumakompensatorische Strategien jäh in Frage stellt. Ein vital bedeutsames Diskrepanzerlebnis liegt vor, wenn Bedeutungen oder „Bedeutungszuschreibungen“ von direkter oder mittelbarer biologischer Relevanz betroffen sind. Das ist bei lebensbedrohlichen Erlebnissen der Fall. Dazu gehört aber sicher auch ein Orientierungsbedürfnis, das wir wegen seiner basalen Bedeutung für das Überleben ebenfalls zu den biologisch verankerten „Trieben“ rechnen dürfen. Kaus (1995) schlägt eine entsprechende Erweiterung des psychoanalytischen Triebkonzeptes vor. Ein → Orientierungstrauma tritt ein, wenn dieses vitale Triebbedürfnis auf systematische und subjektiv ausweglose Diskrepanzen trifft, wie beispielsweise in → Double-bind-Situationen. Auch das → Beziehungstrauma beruht auf Paradoxien und Diskrepanzen im menschlichen Bindungssystem, welches ebenfalls erbgenetisch-biologisch verankert ist. Die menschliche Sexualität schließlich entwickelt sich in einem komplexen Spannungsfeld biologischer und sozialer Faktoren, was sie für traumatische Einflüsse besonders empfindlich macht.
Ein übergreifendes pathogenetisches Moment des Traumas aus der Sicht dieser Traumadefinition ist die dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses. Mit dieser absichtlich weit gefassten Formulierung wollen wir zum einen den Verlust von Selbstvertrauen ansprechen, den viele Traumaopfer beklagen, zum anderen den Vertrauensverlust in die soziale oder pragmatische Realität, der sich als Traumafolge einstellt. Die Erschütterung kann mehr oder weniger umfassend sein. In radikalen Erfahrungen dehnt sie sich aus auf das Realitätsprinzip als solches, das Korrelat der menschlichen Erkenntnisfähigkeit.
Ronnie Janoff-Bulman hat in ihrer Arbeit „Shattered Assumptions“ (1992) diesen Aspekt der Traumaerfahrung eindrucksvoll dargestellt. Wir alle hegen bestimmte Grundannahmen, die sich bei kritischer Betrachtung als illusionär herausstellen, welche für uns aber gleichwohl lebensnotwendig sind. So zum Beispiel die „illusionäre“ Überzeugung, dass der Tod noch relativ fern ist und dass wir beispielsweise die nächste Stadtfahrt mit dem Auto überleben werden. Durch ein Erlebnis von → Todesnähe etwa werden wir in einer Weise „desillusioniert“, die man als übermäßig und insofern „dysfunktional“ bezeichnen kann. Ein gewisses Maß an Illusion scheinen wir zur Bewältigung unseres Alltagslebens zu benötigen. Übermäßiger Illusionsverlust hingegen führt zu jener Hoffnungslosigkeit und dem Verlust der Zukunftsperspektive, unter der viele Traumaopfer leiden. Nicht immer ist die Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses so radikal wie infolge der Todesdrohung. Manche Grundannahmen oder „Grundillusionen“ sind umgrenzt. So erschüttern „natürliche“ Katastrophen tendenziell Annahmen des → pragmatischen Realitätsprinzips, nämlich unsere sicherlich illusionäre Überzeugung, dass die Kräfte der Natur und der Technik prinzipiell beherrschbar seien. Beziehungs- und Orientierungstraumata sowie vom Menschen verursachte Desaster erschüttern hingegen Annahmen des kommunikativen Realitätsprinzips und das Vertrauen in die Verlässlichkeit der sozialen Welt. Besonders beim Menschen haben negative soziale Erfahrungen oft auch negative biologische Auswirkungen im Sinne eines „Abwärtseffekts“ im Mehr-Ebenen-Modell vom Aufbau der Wirklichkeit.
Von besonderem Interesse für die Fortentwicklung der Psychotraumtologie als Wissenschaft sind pathogenetische Konzepte, die geeignet sind, Übergänge zwischen den Ebenen des Modells verständlich zu machen. Ein weiteres Desiderat sind Konzepte, die zwei oder mehrere Ebenen „übergreifen“ und eine integrierende Verständnisbasis bereitstellen, ohne dabei notwendigerweise „reduktionistisch“ zu verfahren.
Von besonderer Bedeutung sind hier wie auch sonst in den Wissenschaften die Begriffe Energie und Information. Bekanntlich hat Freud für viele seiner Konzepte den Energiebegriff, teils metaphorisch, teils buchstäblich herangezogen, so auch beim Trauma, das er gelegentlich als Reizüberflutung mit unphysiologischen Energien umschreibt. Trauma lässt sich nach Freud schlagwortartig auch als „Energietrauma“ beschreiben: der psychische Apparat ist außerstande, die anflutenden traumatischen Reizenergien durch Gegenbesetzung zu „binden“. Zudem verwandte Freud wiederholt eine biologische Metapher zur Kennzeichnung der psychischen Traumatisierung, die vom „lebenden Bläschen“, dessen Schutzhülle durch anflutende unphysiologische Außenreize einen Einbruch erfährt (1920, Jenseits des Lustprinzips).
Lindy (1993) hat diese Metapher mit seinem ebenfalls der biologischen Ebene entnommenen Bild der „Traumamembran“ weiter ausgearbeitet. Die biologische Funktion einer Membran besteht darin, aus der Umgebung Nährstoffe ins Zellinnere einzulassen und Schadstoffe abzuweisen oder auszuscheiden. Das wird erreicht durch Durchlässigkeit der Membran, die den selektiven Transport von Molekülen erlaubt. Wird die Membran nun verletzt, so verliert sie ihre selektive Kapazität. Schadstoffe können von Nährstoffen nicht länger unterschieden werden und dringen ins Zellinnere ungehindert ein. Nährstoffe werden wieder ausgeschieden. Die geschädigte Membran verliert nicht nur ihre Reizschutz-Funktion, sondern erleidet eine Funktionsumkehr. Die → Traumatherapie muss in diesem Bild also nicht nur eine Barriere nach außen hin wieder aufrichten, um das Zellinnere bzw. den Binnenraum des Selbst zu schützen. Das Bild von der Traumamembran erfordert vielmehr, dass der Therapeut die Selektionsfähigkeit des Selbst unterstützt, die Fähigkeit zwischen schädlichen und nützlichen Umweltreizen zu unterscheiden. Fast unmerklich hat sich die Freudsche Metapher bei Lindy von der Energie zur Information hin verschoben. Denn die Auswahlfunktion der Zelle beruht auf intakter Analyse der Umwelt und entsprechender Informationsverarbeitung. Eine Störung der Informationsverarbeitung wäre demnach der zentrale pathogenetische Mechanismus des Traumas.