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Der Verstehende Ansatz
Eine Besonderheit ist der Verstehende Ansatz von Seewald (2007). Er favorisiert eine phänomenologische Grundlegung und integriert tiefenpsychologische Aspekte. Gegenstand der Methode sind Bewegungs- und Spielsituationen, in denen Lebensthemen bespielt werden können. Es geht um das Ausleben von Erlebnissen, Gefühlen und Bedürfnissen der Kinder. Es werden Geschichten und Spielsituationen inszeniert, um ein dialogisches Verstehen der dahinterstehenden Lebensthemen zu ermöglichen.
Die ökologischsystemische Perspektive
Die ökologisch-systemische Perspektive: Dieser Ansatz zielt auf eine Perspektivenerweiterung, da das Kind nicht länger individuumszentriert, sondern im Zusammenhang mit seiner Umwelt betrachtet wird. Zur Entwicklung braucht das Kind Sozialpartner, vor allem die Eltern, Geschwister und Gleichaltrigen sowie die Zeit und den Raum für gemeinsame Aktivität. Somit wird Bewegung zum sozialen und sozialräumlichen Phänomen, weil ein Verstehen der kindlichen Verhaltensweisen nur im Kontext sinnvoll ist (Fischer 1996b, d). Das neue Interesse des Pädagogen oder Therapeuten richtet sich auf den partnerschaftlichen Dialog in der Fördersituation, um die dominierenden Lebensthemen des Kindes zu verstehen (Seewald 1993) und entwicklungsfördernde Angebote zu machen. Das Interesse richtet sich aber auch auf die Frage, unter welchen Bedingungen (z.B. bei Überforderungen) Probleme sichtbar werden und wie Lebensräume (z. B. Spielräume) und Beziehungen gestaltet sein müssen, um eine Vermittlung zwischen individuellen, sozialen und kulturellen Anforderungen zu ermöglichen (Balgo 1998a, 2004, 2009).
Die dargestellten Perspektiven sind fachhistorisch nacheinander entstanden, setzen in der Betonung der zu erklärenden Aspekte im Theorie-Praxis-Bezug der Psychomotorik unterschiedliche Schwerpunkte. Im Praxisfeld existieren sie praktisch nebeneinander. So geht es in der „Ansatzdiskussion“ (Seewald 2009) eher um eine komplementäre Erklärungsweise und die psychomotorischen Forscher verfolgen heute eine integrative oder mehrperspektivische Vorgehensweise (Richter-Mackenstein 2014), was in eine veränderte Fachsystematik einmündet (Abb. 4).
Allgemeine Grundlagen• Historische Perspektive des Faches• Gesellschaftliche Funktion• Wissenschaftstheorie• MethodologieThemenfelder• Wahrnehmung/Bewegung• Körper/Leib/Embodiment• Entwicklung• Gesundheit• Diagnostik• Gesellschaftlicher BezugParadigmen und Perspektiven/Ansätze Entwicklungsförderung• Funktionale Perspektive• Kompetenztheoretische Perspektive• Verstehender Ansatz• Ökologisch-systemische PerspektiveGesundheitsförderung Therapie Bildung/ ErziehungAngrenzende Fachdiskurse• Sportpädagogik• Heil- und Förderpädagogik; Reha-Wissenschaften• Kindheitswissenschaften• Teilgebiete der Psychologie• Teilgebiete der Medizin• Entwicklungs-/Neurowissenschaften• PM in Europa• Adapted Physical Activity• KörperpsychotherapiePraxis Qualitätsentwicklung und Evaluation, z. B.:• Effekte- und Wirkungsforschung• spezifische und unspezifische Wirkfaktoren• FallstudienAbb. 4: Weiterentwicklung des Faches Psychomotorik/Motologie (Seewald 2007; Fischer 2017)
Die Etablierung der Psychomotorik als Wissenschaftsdisziplin führte schließlich zu zahlreichen Schwerpunkten in Hochschulausbildungen der Lehrerbildung und in Studiengängen für psychosoziale Berufe, Kindheitswissenschaften und der Behindertenarbeit (z. B. in Bochum, Braunschweig-Wolfenbüttel, Darmstadt, Dortmund, Emden, Koblenz, Köln). Gegenwärtig gibt es zahlreiche Bestrebungen, die Konzepte in konsekutive Bachelor-Master-Modelle zu integrieren und auch die Motopädenausbildung zu akademisieren. Auf vier der Studiengangsentwicklungen wird nachfolgend wegen der konzeptionellen Besonderheiten überblicksartig hingewiesen. Zur Vertiefung sei auf die Homepages (Adressen im Anhang) verwiesen.
■ Der Masterstudiengang Motologie (Universität Marburg) integriert seit 2006 einen Studienschwerpunkt in Körperpsychotherapie in der Arbeit mit Erwachsenen und akzentuiert die Themenbereiche der Gesundheitsförderung und der Organisationsentwicklung (Wolf 2010a, b, 2016). Für Seewald (2010) hat diese Erweiterung neben inhaltlichen auch studienstrategische und berufspolitische Gründe.
Studiengangsentwicklungen
■ Eine Verknüpfung motologischer Inhalte mit Grundlagen anderer Gesundheitsberufe im Schnittfeld von Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention bietet der Interdisziplinäre Bachelorstudiengang Physiotherapie – Motologie – Ergotherapie an der Hochschule Emden/Leer (FH). Dieser zielt darauf ab, die Kooperation der im Gesundheitswesen tätigen Professionen Physiotherapie, Motologie und Ergotherapie transdisziplinär zu vernetzen, ohne das fachspezifische Profil zu vernachlässigen. Inhaltlich stellt der Studiengang ein bio-psycho-soziales Menschenbild in den Mittelpunkt seines Konzepts.
■ Die Neuorientierung der Bildungslandschaft in der Bundesrepublik Deutschland hat ein Zusammenwachsen der vorschulischen und der Grundschulausbildung in den Fokus des Interesses gebracht. Exemplarisch genannt seien die Bildungspläne des Landes Nordrhein-Westfalen (MGFFI & MSW 2010) und Hessen (HSM & HKM 2011), die einen Bildungsplan bzw. Bildungsgrundsätze für Kinder von null bis zehn Jahren aus einem Guss formulieren. Dieses wirft Schlaglichter auf eine veränderte Ausbildung von Erziehern und Erzieherinnen einerseits und Grundschullehrern und Grundschullehrerinnen andererseits. Dabei hat die Akademisierung der Erzieher und Erzieherinnen in Deutschland inzwischen zu der stattlichen Anzahl von über 115 BA- und 25 MA-Studiengängen geführt (WIFF 2017; Bahr 2017, 49). Ein synoptischer Blick auf die Bildungs- und Erziehungspläne aller Bundesländer für den Elementarbereich (vgl. Beudels 2010) verdeutlicht ein Dilemma: Zwar findet der Bereich Bewegung in allen Plänen eine Berücksichtigung, aber kaum eine adäquate Verortung in den Ausbildungsgängen (BiK 2011; Fischer et al. 2016).
Der BA-Studiengang Kindheitspädagogik (Hochschule Niederrhein FH in Mönchengladbach) und das Masterfach Bildung und Förderung in der Frühen Kindheit sowie der neue Master-Studiengang Psychomotorik als Frühe Hilfe in Institutionen der Kindheit (Universität Köln) setzen hier Akzente.
1.6 Nationale und europäische Entwicklungen der Psychomotorik
Die Akademisierung der Psychomotorik im neuen Jahrtausend führt parallel zu neuen berufsverbandsspezifischen Orientierungen, die bald eine fachliche und wissenschaftliche Verständigung und Identitätsbildung erfordern.
WVPM e.V. und DGfPM e.V.
Erste Meilensteine der Neustrukturierung der Psychomotorik in Deutschland sind die Gründung der Wissenschaftlichen Vereinigung Psychomotorik und Motologie (WVPM e.V.) am 27./28. Januar 2006 in Marburg und die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Psychomotorik und Motologie (DGfPM e.V.) am 6.Mai 2007 in Hamm.Letztere resultiert aus der enormen Ausweitung und der damit verbundenen zunehmenden Unübersichtlichkeit der psychomotorischen Landschaft und der Intention der Bündelung der Ressourcen. Mit der Gründung der Gesellschaft gibt es in Deutschland zum ersten Mal eine fachspezifische Dachorganisation mit Sitz in Hamm. Damit erreicht in der Lippestadt ein historischer Entwicklungsprozess eine neue Qualität, der mit dem Westfälischen Institut als Wirkungsstätte Kiphards in den 1950er-Jahren seinen historischen Ausgangspunkt genommen hat.
Aufgaben und Ziele der DGfPM
Die DGfPM und ihre Mitgliedsvereinigungen verfolgen das Ziel der stärkeren Vernetzung und der Bündelung gemeinsamer Ziele: Die Aufklärung und Information von Öffentlichkeit, Politik und Verwaltung sowie die gemeinsame Verfolgung wissenschaftlicher, erzieherischer und therapeutischer Interessen von Psychomotorik, Motologie und Motopädie im Bildungs- und Gesundheitswesen. Unter dem Dach sammeln sich der Aktionskreis Psychomotorik e.V. (Sektion 1), der Deutsche Berufsverband der MotopädInnen/MototherapeutInnen e.V. (DBM) (Sektion 2), der Berufsverband der Motologen – Diplom/Master e.V.– (Sektion 3), die Wissenschaftliche Vereinigung für Psychomotorik und Motologie e.V. (WVPM) (Sektion 4), der Bundesverband der Ausbildungsstätten für staatlich anerkannte Motopädinnen und Motopäden e.V. (BAM) und die AG Klinisch Orientierte Psychomotorik (KOPM) im Zentralverband Krankengymnastik (Physiotherapie) (Sektion 5) sowie der MOVERE – Verein für Psychomotorische Entwicklungsförderung (Sektion 6) (Abb. 5).
Europäische Entwicklungen
Ein herausragendes Beispiel der Ausgestaltung der psychomotorischen Idee ist der Prozess der Internationalisierung. Im Jahre 1994 treffen sich Fachleute aus Deutschland, Belgien und den Niederlanden unter dem Motto „Psychomotorik in Europa – ein länderübergreifender Erfahrungsaustausch“ auf Initiative der Europäischen Akademie des Sports e.V., Rhede, und des Aktionskreises Psychomotorik. Zur Diskussionstehen die Entwicklungstendenzen der psychomotorischen Konzepte der beteiligten Länder sowie ein Erfahrungsaustausch zu den nationalen Ausbildungsbedingungen. Hieraus entwickelt sich ein regelmäßiger Austausch in einem immer größer werdenden Teilnehmerkreis. Im Mai 1995 findet ein Symposium in Marburg statt. 55 Delegierte aus 15 europäischen Ländern (Norwegen, Schweden, Dänemark, Belgien, Niederlande,Luxemburg, Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, Schweiz, Österreich,Slowenien, Tschechien, Deutschland) kommen zusammen, um über das Verständnis von Psychomotorik, wissenschaftliche und Ausbildungskonzepte, Verbandstätigkeiten und über Erwartungen im Europa des Jahres 1995 zu diskutieren. Bereits im Vorfeld konnten die Stellungnahmen der Partnerländer eingeholt werden und in einer zweisprachigen Dokumentation (deutsch und französisch) den teilnehmenden Delegationen zur Verfügung gestellt werden. Dieses Treffen wird zur Geburtsstunde einer europäischen Bewegung, vereinbaren die Teilnehmer doch,

Abb. 5: Struktur der Deutschen Gesellschaft für Psychomotorik und Motologie (www.dgfpm.org)
■ die wissenschaftliche Literatur zur Psychomotorik sowie zu Bewegung, Spiel und Sport für Behinderte auf europäischer Ebene zu einem stärkeren Austausch zu bringen und möglicherweise in einer gemeinsamen Datenbank zusammenzubringen;
■ ein Europäisches Forum für Psychomotorik zu gründen, dessen Ziele und Statuten von einer Kommission erarbeitet werden sollen;
■ vom 19.–21. September 1996 den 1. Europäischen Kongress für Psychomotorik unter dem Motto „Psychomotorik in der Entwicklung“an der Universität Marburg unter Beteiligung aller Partnerländer durchzuführen (Abb. 6).
Europäisches Forum für Psychomotorik
Tatsächlich wird der Marburger Kongress ein großer Erfolg, kommen doch fast 800 teilnehmende Fachleute aus 16 europäischen Ländern zusammen, die über 200 Vorträge, Workshops, Praxisdemonstrationen, Film- und Posterausstellungen einbringen. Während des Kongresses entsteht ein großer Bilderreigen, der die Vielfalt der Psychomotorik Europas in Theorie und Praxis widerspiegelt. Es wird aber auch die Notwendigkeit deutlich, diese Vielfalt zu vergleichen, zu analysieren, um die zugrunde liegenden Konzepte zu verstehen. Dazu wird das Europäische Forum für Psychomotorik gegründet. Tilo Irmischer, der 1. Präsident des Forums, verdeutlicht den inhaltlichen Konsens über den gemeinsamen Gegenstand, der nach langen Diskussionen in einer Präambel definiert wird.

Abb. 6: Einladung zum Europäischen Kongress für Psychomotorik 1996
Auf Grund eines holistischen Menschenbildes, das von einer Einheit von Körper, Seele und Geist ausgeht, beschreibt der Begriff Psychomotorik die Wechselwirkung von Kognition, Emotion und Bewegung und deren Bedeutung für die Entwicklung der Handlungskompetenz des Individuums im psychosozialen Kontext. Das übergeordnete Ziel des „Europäischen Forums für Psychomotorik“ ist die Förderung der Psychomotorik in Europa, in der pädagogischen und therapeutischen Anwendung in der Aus- und Weiterbildung, in der Professionalisierung und wissenschaftlichen Forschung. Daraus abgeleitet stellt sich das „Europäische Forum für Psychomotorik“ folgende konkrete Aufgaben:
■ Förderung der Zusammenarbeit zwischen Psychomotorikern und Psychomotorikerinnen in den Europäischen Ländern und Regionen (Austausch, Kongresse, Projekte, Forschungsvorhaben);
■ Unterstützung für Länder und Regionen, in denen die Psychomotorik noch nicht ausreichend etabliert ist: organisatorische und finanzielle Hilfen, Unterstützung in der Fort- und Weiterbildung;
■ Koordination der Aus- und Weiterbildung: Abstimmung von Inhalten, Richtlinien, Prüfungen, Förderung der Harmonisierung der beruflichen Ausbildung auf dem Niveau staatlicher Anerkennung;
■ gegenseitige Anerkennung;
■ Vertretung gemeinsamer berufspolitischer Interessen, Anerkennung durch die Krankenkassen, Lohnniveau, Schutz der Ausbildung (Irmischer 1998, 136).
EFP
Die Arbeit des EFP ist tatsächlich eine Erfolgsgeschichte gemeinsamer Aktivitäten und der fachlich definierten europäischen Verständigung. Im Jahr 2007 erzielt das EFP das wichtigste politische Ziel: die offizielle Anerkennung als Vertretungsorganisation der Psychomotorik durch die Europäische Kommission. Das EFP erscheint jetzt als anerkannte Organisation auf der Homepage der Europäischen Kommission. Die Homepage des EFP (psychomot.org) informiert über die Aktivitäten und Erfolge seit den Gründungsjahren.
Kommission
Kommission Ausbildung:
■ Internationale Datenbank von Psychomotorik-Experten
■ Entwicklung einer verbindlichen Minimalqualifikation in der Psychomotorik
■ Fachglossar der Psychomotorik
■ Liste von Fachschulen mit einer Grundausbildung sowie von Hochschulen mit einer Masterqualifikation in Psychomotorik
Kommission Berufe:
■ Internetauftritt aller EFP-Mitgliedsländer mit Auflistung der jeweiligen Aus-, Fort- und Weiterbildungssituation sowie der gesetzlichen Anerkennung der Berufssituation:
■ Kompetenzprofil für Fachleute in Wissenschaft und Praxis (2017)
Kommission Wissenschaft und Forschung:
■ Leitlinien für Themenfindung und Projektorganisation der EFP-Forschungsstrategien
■ Taxonomien des Forschungs- und Anwendungsfeldes
■ Listen mit Zeitschriften und ausgewählten Publikationen in der Psychomotorik
■ Methodologische Zugänge der Erforschung von Wirkfaktoren in der Psychomotorik
Kongresse
Seit 1996 findet in der Regel alle vier Jahre ein großer internationaler Kongress statt (s. nachstehende Auflistung). Darüber hinaus findet seit 1998 jedes Jahr turnusmäßig in den Mitgliedsländern eine dreitägige Studentenakademie statt, auf der neben kulturellen Angeboten der fachliche Austausch der Studierenden der Psychomotorik in Workshops, Fachseminaren und Hospitationen erfolgt.
Internationale Psychomotorikkongresse:
■ 19.–21.9.1996 in Marburg (D):
Thema: Psychomotorik in der Entwicklung
■ 19.–21.5.2000 in Strassburg (F): Thema: Psychomotorik im Wandel der Gesellschaft auf der Schwelle in das 3. Jahrtausend
■ 31.3.–2.4.2004 in Lissabon (P): Thema: Psychomotorische Identität – Besonderheit und Verschiedenartigkeit:
■ 21.–23.5.2008 in Amsterdam (NL): Thema: Crossing Borders
■ 9.–11.5.2013 in Barcelona (SP): Thema: Different Faces in Psychomotricity
■ 5.–7.5.2016 in Luzern (CH): Thema: Movement and Lifelong Development
Inhaltlich hat sich die Psychomotorik in den Ländern Europas relativ eigenständig entwickelt. In Erweiterung früherer Auflagen der Einführung in die Psychomotorik werden die landesspezifischen Quellen der psychomotorischen Fachdiskussion hier differenzierter rezipiert, nicht zuletzt um historische und vergleichende Bearbeitungen und Forschungen in zukünftigen Bachelor- und Masterarbeiten anzuregen.
Dänemark
Dänemark hat im europäischen Vergleich die längste Tradition. Schon in den 1940er-Jahren gründen Gerda Alexander und Morrussia Bergh die ersten Ausbildungsinstitute zum „Entspannungspädagogen“, dessen berufliche Qualifikation im Spannungsfeld zwischen Kunst, Ballet,Rhythmik, Theater und der Gesundheitspädagogik angesiedelt ist. Die seit 1978 existierende Berufsvereinigung entwickelt eine dreijährige Ausbildung an sieben Ausbildungsstätten und erreicht eine staatliche Anerkennung des Berufsbildes durch konzeptionelle Abgrenzung und Absprache mit dem Berufsbild der Physiotherapeuten. Im Jahre 2002 kann der Berufsverband mit dem Erziehungsministerium das Curriculum für eine akademische BA-Ausbildung von dreieinhalb Jahren (210 ECTS) vereinbaren, die seither an den Universitäts-Colleges von Kopenhagen und Randers angeboten wird. Die dänische Psychomotorik untersucht die Beziehung von muskulärem Tonus und der Psyche (Persönlichkeit) des Menschen. Als Teil der Gesundheitslehre beschäftigt sie sich mit der Bewegungsqualität insbesondere über die Entspannungsfähigkeit des Klienten. Schwerpunkte liegen sowohl in der Praxis als auch der Beratungstätigkeit. Es werden Fragen gestellt, gemeinsam Entscheidungen, Antworten und Lösungen gesucht und die passenden Realisierungsmöglichkeiten erörtert. Im Vordergrund steht das Prinzip Hilfe zur Selbsthilfe im Kontext der Gruppe und der Familienarbeit. Hat die klassische Arbeit sich stärker auf Erwachsene konzentriert,erreicht heute die Arbeit mit Kindern zwischen sechs und zehn Jahren annähernd den gleichen Anteil. Bei den Erwachsenen konzentriert sich die Arbeit auf Stress- und Beziehungsthematiken mit den damit verbundenen Haltungsproblemen und Körperspannungen; entsprechend verfügt die Psychomotorikerin über ein reichhaltiges Repertoire an Entspannungsmethoden (Frimodt 2003; Akasha 2004).
Finnland und Schweden
Die beiden anderen skandinavischen Länder haben erst in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts eigene Psychomotorikorganisationen gegründet (Finnland 1994 und Schweden 1996). Seit den 1970er-Jahren bestehen intensive Fortbildungskontakte zu Personen und Einrichtungen vor allem in Deutschland; in der Folge werden psychomotorische Inhalte in zahlreiche Ausbildungsgänge der vor-, grund- und sonderschulischen Lehrerbildung und der Physiotherapie integriert(z.B. an den Universitäten Helsinki und Jyväskylä). Seit der Gründung des Europäischen Forums gehen Schweden und Finnland verstärkt eigene Wege. In Schweden weisen die Universität Växjö, das Falun College und das Karolinska Institut (Stockholm) psychomotorische Teilcurricula für ihre Lehrer- bzw. Physiotherapeutenausbildungen aus.
Frankreich
Die weitestgehende Anerkennung im gesellschaftlich-staatlichen Sinne hat die Psychomotorik in Frankreich mit einer Tradition von mehr als einem halben Jahrhundert. Durch die Arbeiten des Psychiaters de Ajuriaguerra und der Beschäftigungstherapeutin Soubiran etabliert sich die psychomotorische Arbeit zuerst im klinischen Bereich mit eher funktionellen Methoden, die im Laufe der Zeit zu einer ganzheitlichen Methode der Körperarbeit mit Unterstützung von Entspannungstechniken weiterentwickelt werden. Heute existieren in Frankreich elf staatlich anerkannte Ausbildungsinstitute zum „Psychmotricien“ verteilt über ganz Frankreich. Das Berufsbild des Psychomotorikers (BA und MA) ist gesetzlich geschützt. Parallel dazu hat sich eine erzieherische Strömung der Psychomotorik im Kindergarten und im Grundschulbereich etabliert.
Das Feld der Psychomotorik in Frankreich speist sich aus mehreren Disziplinen: Kinderpsychiatrie, Neurologie, Sportpädagogik, Psychologie. Beeinflusst wurde sie von unterschiedlichen Entwicklungstheorien (Wallon, Piaget), Entspannungstechniken (Schultz, Jacobson), die Leibeserziehung (Demeny, Hebert etc.) und von der rhythmischen und gestuellen Erziehung (Duncan, Popard, Dalcroze) (Guillarmé 1990).Trotz verschiedener Einflussquellen verfolgen die verschiedenen Konzepte ein gemeinsames Ziel: die Erziehung des Menschen durch seinen Körper (Eggert 1994/2008). Heute existieren im Wesentlichen vier Ansätze: der kinderpsychiatrische, der psychopädagogische, der sportpädagogische und der tiefenpsychologische Ansatz (Übersicht nach Bathke 2007).
Der kinderpsychiatrische Ansatz nach Ajuriaguerra
Die Kinderpsychiatrie beschäftigte sich schon in den 1950er- und 1960er-Jahren mit den Zusammenhängen von Verhaltensstörungen,Schulschwierigkeiten und Störungen der psychomotorischen Entwicklung. Der Neuropsychiater Ajuriaguerra interessierte sich für die Zusammenhänge von Störungen der Psychomotorik und der Sprache und erforschte das Fundament des Körpers für die Entwicklung des Kindes.Das Kind entwickelt zunächst über die motorische Funktion eine Vorstellung seines Körpers und der Körperteile; in der Folge entsteht ein innerer Plan seines Körperaufbaus und letztlich werden die erworbenen Körperbewegungen automatisiert. Eine besondere Rolle für Ajuriaguerra spielen die „tonischen und motorischen Funktionen in der Aktivität und der Organisation von Beziehungen“ (Heintz 1983, 105). Diese ermöglichen eine aktive Kontaktaufnahme zur Umwelt, so wird der Körper zum Kommunikationsmittel. Ihre ersten Erfahrungen machen Kinder durch ihren Körper und ihre Handlungen. Eine psychomotorische Störung tritt nach Ajuriaguerra nicht isoliert auf, sondern hängt mit weiteren Problemen des Kindes zusammen. Deswegen richtet sich seine Therapie auf die Gesamtpersönlichkeit des Patienten und vermeidet eine reine symptomorientierte Vorgehensweise. Das Ziel der Therapie richtet sich auf die indirekte Behebung der Störungssymptome und die Kontrolle des Tonus. Grundlegend für Ajuriaguerra ist die Sichtweise der „tonisch-affektiven Dialektik“, das Verständnis, dass „jede Gemütsbewegung auch eine tonische Veränderung zur Folge“ hat (Heintz 1983, 248). Mittel der Intervention sind für Ajuriaguerra vor allem Entspannungsmethoden. Interessant sind hier Parallelen zur deutschen Psychomotorik. Diese liegen im ganzheitlichen Zugang zum Kind mit einer Betonung der Bedeutung des Körpers. Unterschiede liegen in der Rolle der Bewegung, die im Ansatz von Ajuriaguerra eine geringere Rolle spielt.
Der psychopädagogische Ansatz nach Picq und Vayer
Für die Sportlehrer Louis Picq und Pierre Vayer (1965) ist Psychomotorik Folgendes: „Psychomotorische Erziehung ist eine pädagogische und psychologische Handlung, die die Mittel der Leibeserziehung braucht, um das Verhalten des Kindes zu normalisieren und zu verbessern“ (zit.n. Heintz 1983, 112). Ihre Bezugsgruppe sind verhaltensauffällige Kinder, die Zielrichtung eine bessere Integration in der Schule über „eine systematische Erziehung motorischer und psychomotorischer Verhaltensweisen“ (Heintz 1983, 112). Der Ansatz geht von der Untrennbarkeit von Motorik und Psyche aus und versteht sich eher als erzieherische denn als therapeutische Maßnahme. In der Praxis haben motorische Übungen bei „unangepassten Handlungen“ in den Entwicklungsbereichen Koordination, Raumorientierung, räumlich-zeitliche Strukturierung, Lateralität, Rhythmusgefühl etc. vor allem die vorschulische Erziehungspraxis (école maternelle) erobert.
Der sportpädagogische Ansatz von Le Boulch
Als Sportlehrer und Psychologe entwickelt Le Boulch einen persönlichkeitsorientierten Ansatz und nennt diesen „Psychokinetik“ (1977, 1983). Es handelt sich dabei „um eine allgemeine Konzeption der Bewegung als Mittel der Gesamterziehung der Persönlichkeit“ (1983, 4). Le Boulch betont die Wichtigkeit der Förderung der Entwicklung perzeptiver, motorischer und kommunikativer Funktionen in Verbindung mit mentalen Prozessen. Dieser Ansatz weist viele Parallelen zum kindzentrierten Ansatz von Volkamer/Zimmer (1986) auf. Es ist beachtlich,dass Le Boulch schon in den 1960er-Jahren erkannte, dass der Sportunterricht in den Schulen verändert werden muss. Eine reine Stoffvermittlung und Leistungsorientierung lehnte er ab; der Ansatz an der Persönlichkeit des Kindes ist ihm wichtig. Das Körperschema als Grundvoraussetzung für das Selbstbewusstsein steht im Vordergrund.Dabei findet das Prinzip der Autonomie zur Förderung der Selbsttätigkeit des Kindes eine Berücksichtigung.
Der tiefenpsychologische Ansatz nach Aucouturier und Lapierre
Ein neuerer Ansatz ist der von Bernard Aucouturier und André Lapierre.Das psychoanalytische Konzept findet mittlerweile Anhänger in ganz Europa und in Südamerika. Aucouturier, wie sein Kollege Lapierre Sportlehrer, arbeitete in den 1960er-Jahren als Leiter am Centre d’Éducation Physique specialisée in Tours mit Kindern unterschiedlicher motorischer Auffälligkeiten. Durch seine Arbeit erkannte er sehr bald den Zusammenhang von physischen und psychischen Störungen.Er wandte sich psychomotorischen Ansätzen zu und stieß dabei auf die Arbeiten von Le Boulch, Wallon, Piaget und Vayer. Die klassische symptomorientierte praktische Arbeit erzeugte jedoch Widerstände bei den Kindern; diese hielten – bewusst oder unbewusst – an ihren Störungen fest, was sie durch Verweigerung und Passivität ausdrückten. Die Analyse des Problems mündete in dem Eingeständnis, dass die fachliche Aufmerksamkeit sich mehr auf die Störung richtete als auf das Kind selbst. Aucouturier veränderte das Konzept seiner Arbeit und betont jetzt die Ganzheit des Körpers (unité corporelle). Das Kind soll in seiner Gesamtpersönlichkeit unterstützt werden, es ist als ein ganzheitliches Wesen (être global) zu betrachten, das seine motorischen, affektiven und kognitiven Strukturen miteinander verbindet.Der Körper vereint all diese Strukturen und kann sie zum Ausdruck bringen. Er wird hier nicht als ein rein funktionales Instrument betrachtet, er ist vielmehr „Bezugs- und Orientierungspunkt in der Welt“ (Esser 2011, 19).






