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Entfaltung der kindlichen Kreativität
Der Ansatz orientiert sich an der individuellen Entwicklung eines Kindes durch Förderung der kindlichen Kreativität. Dem Kind wird genügend Freiraum gegeben, sich selbst Übungen und Geschichten in Praxissituationen auszudenken. Der Therapeut versucht dabei die spontanen Handlungen und deren „innewohnende Symbolik“ zu verstehen. Aucouturier spricht in seiner Förderstunde drei Bereiche an und stellt im Raum die entsprechenden Materialien zur Verfügung, deren Auswahl den Kindern selbst überlassen wird:
■ Den sensomotorischen Bereich: Das Kind verwendet Material, um elementare sensomotorische Aktivitäten zu erleben. Gleichgewichtssinn, Tiefensensibilität und Tastsinn werden angesprochen. Das Kind soll mit seinem Körper experimentieren, um seine Bedürfnisse und Stärken, aber auch Grenzen zu erfahren.
■ Den symbolischen Bereich: Die verwendeten Materialien lassen Freiraum für die kindliche Phantasie. Mit Hilfe von Tüchern,Schaumstoffblöcken oder Kleidungsstücken soll das Kind zum symbolischen Spiel/Rollenspiel angeregt werden. Es kann in andere Rollen schlüpfen, Erfahrungen aufarbeiten oder Wunschvorstellungen ausleben. Die Rolle des Therapeuten ist eher begleitend und passiv.
■ Den Konstruktionsbereich: Über Bautätigkeiten oder Spiel mit Knete etc. soll das Kind zu Ruhe und Konzentration kommen.
Schlüsselbegriffe
Als Grundvoraussetzungen der Therapie gilt, das Kind in seiner Einzigartigkeit zu akzeptieren, von seinen Fähigkeiten auszugehen und es in seinen Möglichkeiten zu unterstützen. Es sollen „die Handlungsfähigkeit, Eigenständigkeit und die Autonomie gestärkt und die Beziehungen zur Umwelt stabilisiert werden“ (Esser 2011, 84). Auch die französische Psychomotorik identifiziert sich über Schlüsselbegriffe: Körperschema (schéma corporel), Tonus als Kommunikationsmittel (de dialogue tonique) im Rückgriff auf Entspannungsmethoden (relaxation), Bewegung (le mouvement) und die Beziehungserfahrung im tonisch-emotionalen Dialog.

Als deutschsprachige Überblicksdarstellungen sei auf Amft (1990), Guillarmé (1990) und Prévost (1990) verwiesen.
Die französische Psychomotorik verfügt über kein einheitliches Konzept. Neben der Früherkennung und Vorbeugung in der école maternelle hat sich der Arbeitsschwerpunkt französischer Psychomotoriker auf den klinisch-psychiatrischen Bereich verlagert. Hier ergeben sich jedoch Identifikationsprobleme, da die Psychomotorik als ganzheitliches Konzept auf ein symptomorientiertes medizinisches System trifft (Contant/Calza 1994). Trotz der Widersprüche hat sich die Psychomotorik in Frankreich als anerkannte Therapieform etabliert. Auch wenn es der französischen Psychomotorik im Vergleich zur deutschen an Strukturiertheit im wissenschaftlichen Diskurs mangelt (vgl. Bathke 2007, 91), ist es ersterer letztlich konzeptionell gelungen, die Dichotomie von Geist und Körper aufzuheben.
Italien, Spanien, Portugal
Von Frankreich ausgehend werden psychomotorisch orientierte Ausbildungen in den romanischen Ländern (Italien, Spanien, Portugal) initiiert, unterliegen aber sehr schnell eigenen Entwicklungen. Die italienische Berufsausbildung folgt noch relativ eng dem französischen Modell einer klinisch-therapeutischen Schwerpunktsetzung. Allerdings existiert eine konkurrierende Strömung, die psychomotorische Inhalte eher als Bestandteile pädagogischer und psychologischer Hochschulausbildungen vermittelt sehen möchte (Caliari 2004). In Italien sind Berufsausbildungen in Psychomotorik lediglich auf der Ebene privater Fachschulen organisiert und haben eine Dauer von drei Jahren (180 ECTS).
Wurden in Italien, Spanien und Portugal in der ersten Entwicklungsphase viele Literaturübersetzungen aus dem Französischen verwendet, so ändert sich dieses seit den 1980er Jahren. Mit dem südamerikanischen Sprachraum hat dabei die spanische Fachliteratur die größte Verbreitung. Die spanische Fachzeitschrift Psicomotricidad: Revista de Estudios y Experiencia erscheint seit 1981 als erste, die italienische Revista Psycomotrictà ReS (ab 1993) und A Psicomotricidade (Portuguese Review of Psychomotricity) (seit 2003) folgen und zeugen von einer lebhaften Fachdiskussion.
In Spanien ist die Psychomotorik im therapeutischen Feld nicht offiziell anerkannt; psychomotorische Inhalte haben in vielen klassischen Berufsausbildungen (Psychologie, Logopädie, Sondererzieher) eine stärker pädagogische Ausrichtung erfahren. In den 1990er-Jahren wurde der spanische Dachverband der Psychomotoriker gegründet, dem fünf Teilorganisationen angehören. Auch wenn die staatliche Anerkennung der Psychomotorik als Fachberuf noch nicht erreicht ist, sind psychomotorische Inhalte in den Curricula von 10 spanischen Universitäten und zahlreichen weiteren Instituten und Ausbildungsstätten ausgewiesen.

Einen sehr guten Überblick (in spanischer Sprache) zur Psychomotorik im Erziehungfeld gibt der Revisionsband von Pescador et al. (2000).
Den größten Sprung in der fachlichen, wissenschaftlichen und fachpolitischen Anerkennung der letzten zwanzig Jahre hat die Psychomotorik in Portugal vorgenommen. An fünf Universitäten bestehen seit einigen Jahren BA-Ausbildungen in Psychomotorik mit einem Schwerpunkt in der Erziehung; an der Universität Lissabon sogar ein MA-Studiengang.

Für eine fachliche Vertiefung sei auf Fonseca (2004), Neto (2004) und Martins (2006) verwiesen.
Niederlande
In den Niederlanden ist der Terminus Psychomotorische Therapie (PMT) vorherrschend. Nach Bosscher (2006) sowie Bosscher/Probst (2001) etabliert sich die PMT historisch zuerst im psychiatrischen Kontext und wird dabei vor allem durch die „aktivere Krankheitsbehandlung“ psychiatrischer Patienten des deutschen Psychiaters Simon (1929) beeinflusst. Entsprechend übernimmt sie den Terminus „Aktivere Therapie“. Dahinter verbirgt sich die aus heutiger Sicht durchaus ressourcenorientierte Vorgehensweise, den „gesunden Teil“ des Patienten durch Arbeit, Körperübungen und Erholung zu aktivieren, wodurch das bisherige Fehlen von sinngebenden Aktivitäten in den psychiatrischen Krankenhäusern ausgeglichen werden sollte. Nach einer bewertenden Übersicht von van Praagh (2003) handelt es sich bei der Aktiveren Therapie bereits um einen systematisch durchgeführten therapeutischen Ansatz, denn es werden nach den Kriterien nötige Konzentration, Maß an selbstständigem Denken und Grad der Verantwortlichkeit fünf Niveaus unterschieden, auf denen mit den Patienten gearbeitet werden kann. Ausgehend von diesem Basiskonzept wird in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg systematisch ein Therapiekonzept entwickelt, das von den Wirksamkeiten der Bewegungsaktivitäten ausgeht und unter Hinzunahme anthropologischer und phänomenologischer Erkenntnisse ein umfassendes Erkenntnisinteresse entwickelt (Gordijn et al. 1975) und sowohl pädagogische als auch therapeutische Anwendungsfelder begründet (vgl. Bosscher 2006, 240; Emck 2004).
Der aktuelle psychomotorische Ansatz wird als eine Sichtweise beschrieben, die sowohl bewegungsorientierte als auch körperorientierte Behandlungsweisen integriert. Obwohl in der Praxis entstanden, etabliert sich die PMT in den Niederlanden zunehmend als theoriegeleitetes Konzept, das zudem in einem Zwei-Wege-System studiert werden kann. Weg eins führt über ein praxisorientiertes BA-Studium (vier Jahre) an den Fachhochschulen Windesheim in Zwolle und Arnheim Nijmegen und anschließender mindestens zweijähriger Berufspraxis zu einem Master-Abschluss. Der zweite Weg führt als wissenschaftliches Studium über den Bachelor of Science in Bewegungswissenschaften an der Freien Universität Amsterdam und anschließender (mindestens) zweijähiger Berufspraxis zu einem Master of Arts an der FH Windesheim/Zwolle. Aufgrund des sich wandelnden Anspruches im Gesundheitswesen verbunden mit einem erhöhten Kostendruck steigern sich die Anforderungen an die wissenschaftlichen Kompetenzen der Absolventen. Die Forderungen nach Qualitätssicherung und Effektivitätsnachweisen lassen die holländischen Kollegen mit ihren Partnern im Europäischen Forum für Psychomotorik bzw. den Hochschulausbildungsstätten der Nachbarländer zusammenrücken (vgl. Bosscher 2006, 246; Fischer 2006, 238).
Belgien
Enge konzeptionelle Verbindungen bestehen zum flämischen Teil Belgiens. Hier ist – wie in den Niederlanden – die psychomotorische Ausbildung seit etwa den 1980er Jahren universitär ausgerichtet (Leuwen) und den Fakultäten für Bewegungswissenschaften zugeordnet. Nach Simons (2000a, b) können in der PMT zwei Richtungen unterschieden werden. Die eine platziert sich im Rahmen der allgemeinen Therapiediskussion zwischen neurobiologischen, phänomenologischen und verhaltenstherapeutischen Modellvorstellungen, die andere Richtung entspricht dem holländischen Modell einer spezifischen und eigenständigen Behandlungsform mit den entsprechenden Erklärungsansätzen. Das belgisch-wallonische Ausbildungssystem folgt eher dem französischen Muster mit recht unterschiedlichen berufsspezifischen Akzentsetzungen zwischen Therapie und Pädagogik. Interessant ist, dass insbesondere der Ansatz von Aucouturier eine starke Berücksichtigung in der psychomotorischen Therapie gefunden hat.
Luxemburg
Die psychomotorische Erziehung in Luxemburg untersteht dem Erziehungsministerium und wird von einer kleinen Gruppe von Spezialisten, die meistens eine Aus- oder Weiterbildung in Frankreich oder Deutschland genossen haben, in unterschiedlichen Ausbildungsbereichen (Vorschule, Schule, klinischer und rehabilitativer Bereich) vertreten. Dabei hat das mehrsprachige Luxemburg schon immer eine Mittlerfunktion zwischen den deutschen und französischen Konzeptentwicklungen in Europa innegehabt. Robert Decker analysiert seit den 1960er-Jahren die spezifischen Entwicklungen und macht die psychomotorischen Prinzipien als Grundelemente für die Aus- und Fortbildung in Luxemburg nutzbar (Decker 1967; 1984; 2002). Schon im Jahre 1983 wird der „Letzeburger Aktiounskrees Psychomotorik“ (LAP) gegründet. Die therapeutischen Arbeitsfelder werden heute eher von in Frankreich ausgebildeten Psychomotoriktherapeuten, die pädagogischen eher von in Deutschland ausgebildeten Spezialisten besetzt. In jüngster Zeit wird die Frage der Sozialen Gerechtigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Themas „Kinderarmut und Bildung“ diskutiert (Caritas Luxembourg 2008). Achten et al. (2008) nehmen dabei eine kindorientierte Perspektive ein und weisen der Bewegung/Psychomotorik eine herausragende Rolle für die nationale Bildungsdiskussion zu. Insbesondere in der (Vor-)schulischen Erziehung der drei- bis sechsjährigen Kinder (classe précoce und classe d’éducation préscolaire) hat die Vermittlung psychomotorischer Handlungskompetenzen – etwa durch das Konzept der Neuen Bewegungsbaustelle (Miedzinski/Fischer 2006) – Fuß gefasst (Koppes 2007).
Schweiz
Das schweizerische Psychomotorikkonzept ist ursprünglich durch eine enge Zusammenarbeit der Tanzpädagogin Suzanne Naville und des Psychiaters de Ajuriaguerra entstanden, hat sich aber von dem ursprünglich klinischen Vorbild Frankreichs sehr schnell zu einer anerkannten Ausbildung zum Psychomotorik-Therapeuten mit einer Qualifikation für den heilpädagogischen Bereich entwickelt. In der Schweiz werden in Zürich, Basel und Genf die Ausbildungen in Psychomotorischer Therapie auf Hochschulebene vermittelt. Von der heutigen Warte zurückblickend muss festgestellt werden, dass sich die klassische Klientel (nicht nur) in der Schweiz grundlegend verändert hat. Hartmut und Susanne Amft (2003) weisen mit ihrer groß angelegten Studie zu über 1300 Psychomotoriktherapien in der deutschen und französischen Schweiz mit Kindern im Grundschulalter nach, dass die Klientel der mit Psychomotorik geförderten Kinder umdefiniert werden muss. Nicht mehr Kinder mit „Bewegungsschwierigkeiten“ sind Hauptklientel der Psychomotorischen Therapie (so der offizielle Begriff in der Schweiz), sondern „Kinder mit komplexen Auffälligkeiten und Störungen, welche auf psychosozial bedingte Ursachen- und Entstehungszusammenhänge hinweisen. Diese Kinder sind nicht behindert, sondern sie weisen problemanzeigende Verhaltensweisen auf. Der heilpädagogische Auftrag beinhaltet daher nicht in erster Linie die Förderung von Bewegungskompetenzen, sondern von psychosozialen Bewältigungsressourcen. Dies sollte Konsequenzen für das Selbstverständnis und die paradigmatische Zuordnung der PMT haben“ (Amft/Amft 2003, 30–31). Entsprechend hat die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik in Zürich ab dem Studienjahr 2006 das Curriculum verändert und bietet einen interdisziplinär ausgerichteten Bachelor-Studiengang „Psychomotoriktherapie“ an, der den neuen fachwissenschaftlichen Qualifikationskriterien entspricht (Amft et al. 2013). Ein weiterer BA-Studiengang wurde an der Hochschule für Soziale Arbeit in Genf eingerichtet.
Österreich
Österreich folgt stark dem Entwicklungsweg Deutschlands und versucht Psychomotorik durch die bevorzugte Verwendung der Begriffe Motologie und Motopädagogik eher wissenschaftlich-universitär mit einer Akzentsetzung im (heil/sonder-)pädagogischen Feld zu etablieren. Ein interdisziplinär und international begleiteter Modell-Studiengang an der Donau-Universität Krems und der Niederösterreichischen Landesakademie St. Pölten entwickelt in den Jahren 1996–1998 ein Fachcurriculum nach europäischem Standard (zu den Ergebnissen s. Weiß/Ullmann 2003). Leider ist der Abschluss anfangs trotz hoher Qualität national nicht anerkannt. Ab dem Wintersemester 2001/2002 wechselt der Studiengang an die Universität Wien. Heute ist die Ausbildungssituation in Österreich verändert. Die Universität Wien bietet einen vollwertigen Masterstudiengang (Weiß 2018) als Universitätslehrgang Psychomotorik an und auch die Donauuniversität Krems einen sechssemestrigen Universitätslehrgang Mototherapie (Ullmann 2003). Auch die Fortbildungskonzeption zur „Zusatzqualifikation Motopädagogik“ des 1993 gegründeten Aktionskreises Motopädagogik Österreich (akmö) nach ursprünglichem Vorbild des Aktionskreises Psychomotorik e.V. in Deutschland (Stehno 1997) entwickelt sich in Kooperation mit zahlreichen Initiativen und Ausbildungsstätten im pädagogisch/therapeutischen Tätigkeitsbereich zu einem differenzierten und anerkannten Anwendungskonzept (Pinter-Theiss/Theiss 1997).
Tschechien und Slowenien
Die beiden (süd-)osteuropäischen Länder im Forum (Tschechien und ehemals auch Slowenien) halten schon seit den 1960er- bzw. 1970er- Jahren sehr intensive Fortbildungskontakte zu E.J. Kiphard und intensivieren seit ihrer Mitgliedschaft im Europäischen Forum und der Europäischen Union Bestrebungen zu eigenen Fort- und Ausbildungskonzeptionen. In Tschechien ist die Psychomotorik insbesondere in der Vorschul- und Grundschulpädagogik verbreitet. Im Sonderschulwesen (Special Education) besteht eine enge Verbindung zur Internationalen Vereinigung Adapted Physical Activity (APA). Gegenwärtig findet eine sehr differenzierte Auseinandersetzung – auch mit den wissenschaftlichen Konzepten des psychomotorischen Paradigmas – statt (Blahus 2004). Eine formale Organisation besteht in der tschechischen „Association Sport for All“. In Slowenien existiert eine „Gesellschaft für Motopädagogik und Psychomotorik“, die sich sehr um die therapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen bemüht.
Griechenland
Griechenland ist bisher nicht Mitglied des Europäischen Forums für Psychomotorik. Dennoch gibt es in Griechenland eine kleine, vorwiegend in Deutschland ausgebildete Gruppe von Fachspezialisten. Deren Aktivitäten sind inzwischen so weitreichend, dass nicht nur im Jahre 2002 eine wissenschaftliche Vereinigung „Hellas“ der Psychomotoriker (Kambas 2003) gegründet wurde, auch wurden inzwischen geeignete Inhalte in die Curricula der (Sport-)Lehrerausbildungen der Universitäten Athen, Thessaloniki und Kreta sowie der Vorschulerziehung integriert. Darüber hinaus existiert seit 2005 eine wissenschaftliche Online-Zeitschrift.
Mit Bezug auf eine Darstellung Irmischers (1998, 134) und Fischers (2006a) sollen die Gemeinsamkeiten sowie die Unterschiede der europäischen Besonderheiten zusammenfassend dargestellt werden.
Gemeinsamkeiten
Gemeinsamkeiten in der Entwicklung:
■ die Ursprünge der praktischen und theoretischen Überlegungen, die zu den unterschiedlichen Verfahren in den Ländern führen konnten, ergeben sich sehr oft aus der therapeutischen Arbeit mit gesellschaftlichen Randgruppen in klinisch-psychiatrischen Einrichtungen;
■ die jeweiligen Initiatoren und Initiatorinnen hatten erkannt, dass nur ein holistisches Menschenbild Grundlage ihrer Arbeit, die über die Körper-, Sinnes-, und Bewegungsfunktionen hinaus ganzheitlich auf den Menschen wirken sollte, sein konnte;
■ eine differenzierte Analyse der theoretischen Hintergründe lässt gemeinsame philosophische und anthropologische Quellen erkennen, die sicherlich erst auf der Grundlage der gemeinsamen Kulturgeschichte zu verstehen sind;
■ die jeweiligen Initiatoren und Initiatorinnen fokussieren ihre Arbeit auf ein enges Zusammenspiel von motorischen und psychischen Vorgängen, um das Verhalten des Menschen beeinflussen zu können;
■ das jeweilige Zentrum der Bemühungen ist die Behandlung von Beeinträchtigungen, die einen ursächlichen psychomotorischen Hintergrund haben können oder deren Auswirkungen sich in psychomotorischen Veränderungen darstellen lassen;
■ allen gemeinsam ist das Bestreben, die psychomotorische Ausbildung zu akademisieren und in das gestufte europäische Ausbildungssystem von Bachelor- und Masterstudiengängen einzugliedern;
■ für die Psychomotoriker Europas kommt es zunehmend zu den gewünschten fachlichen und persönlichen Austauschprozessen bei Wahrung der kulturellen Identitäten (diversity and specifity);
■ auch die wissenschaftlichen Aktivitäten (Kongresse und Tagungen, Projekte) haben an Momentum zugenommen.
Unterschiede
Unterschiede in der Entwicklung:
■ die Begründer hatten durch ihre jeweilige Ausbildung unterschiedliche Ausgangspositionen (Entspannungstherapeutin, Beschäftigungstherapeutin, Tanztherapeutin, Sportlehrer, Mediziner), die bei ähnlichen Grundannahmen im Detail zu unterschiedlichen theoretischen und praktischen Konzepten führen mussten;
■ in der französisch beeinflussten südeuropäischen, der dänischen und holländischen Psychomotorik wird intensiver mit dem Körper und am Körper gearbeitet. Hier findet das „Symbolische“ eine stärkere Beachtung;
■ in der deutschen, schweizerischen und flämisch-belgischen Psychomotorik werden die Konstrukte Wahrnehmung und Bewegung intensiver in die Arbeit einbezogen, gleichzeitig der symbolische Anteil der Bewegungsaktivität betont;
■ in Frankreich und Dänemark sind differenzierte Modelle der Entspannung entwickelt worden;
■ im deutschsprachigen Raum ist der Aspekt des Erlebnisses, der Sensation viel stärker berücksichtigt worden.
Zukünftiges
Und welche sind die gemeinsamen neuen Herausforderungen?
Handlungsbedarf gibt es noch an einer Intensivierung der fachidentitätsbildenden Konzeptdiskussionen. Wir brauchen mehr Praxisforschung und –evaluation unseres Fachgebietes selbst (Qualitätsentwicklung): Mehr Beobachtungen, Erfahrungsberichte, Studien über Fördergruppen und deren reale Lebenskontexte in ganz Europa, mehr Forschungen über die Wirkfaktoren des psychomotorischen Methodenkanons. Dieses erfordert zwingend die Fortführung und Intensivierung der interdisziplinären und internationalen Zusammenarbeit und die Akquisition von Mitteln für Forschung und wissenschaftliche Nachwuchsförderung. Das sind neue Herausforderungen unter einer Perspektive der Psychomotorik als Wissenschaftsdisziplin in Europa.
1.7 Evaluations- und Wirksamkeitsforschung in der Psychomotorik
Qualität im Gesundheitswesen
Vor dem Hintergrund der Verknappung öffentlicher Mittel hat sich in Deutschland seit Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts eine Debatte entwickelt, die die Qualität der Arbeit im Gesundheits- und Sozialwesen in den Fokus des Interesses rückt. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird der Begriff der Qualität nur selten gemäß seiner ursprünglichen Bedeutung (lateinisch qualitas für Beschaffenheit oder Eigenschaft) wertneutral verwendet, sondern eher, um die Güte einer Sache, einer Person oder deren Arbeit zum Ausdruck zu bringen. Dementsprechend versteht die Deutsche Gesellschaft für Qualität unter diesem Begriff „die Gesamtheit von Eigenschaften und Merkmalen einer Leistung oder Tätigkeit, die sich auf deren Eignung zur Erfüllung gegebener Erfordernisse bezieht“ (zit.n. Burmeister 1996, 26). Die eigentliche Qualitätsdiskussion entwickelt sich erst mit der gesetzlichen Umorientierung der Finanzierung von Hilfeleistungen. In der Novellierung des § 93 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) wird erstmals die Qualität von Leistungen erwähnt und stellt die Leistungserbringer vor neue Herausforderungen. „Zum einen sollen Qualitätsmerkmale im Rahmen der Leistungsvereinbarungen verbindlich festgelegt werden, zum anderen soll die Qualität der erbrachten Leistung überprüft werden können“ (Frühauf 1997, 10; Pothman/Trede 2014; Welsche 2018b).
Qualitätssicherung
Mit der Neufassung des BSHG und des KJHG (Kinder- und Jugendhilfegesetz) liegen heute Rechtsgrundlagen vor, die der Qualitätsdebatte einen verbindlichen Rahmen geben und sozialen wie pädagogischen Einrichtungen den Auftrag auferlegen, die jeweiligen Leistungen (Angebote, Konzepte etc.) auszuweisen und deren Effekte zu evaluieren.
Was ist in diesem Rahmen unter Evaluation zu verstehen? Unter Evaluation ist ein auf empirischen Methoden beruhendes Verfahren der Bewertung von Interventionen zu verstehen, das bereits in den 1970er-Jahren unter der Bezeichnung „wissenschaftliche Begleitung“ in die soziale und pädagogische Arbeit eingeführt wurde (Beywl 1996).Die empirische Grundlage einer Evaluation baut in der Regel auf einer guten Dokumentation auf. Beispielsweise kann durch Dokumentation des Entwicklungsstandes (oder anderer Aspekte) von Kindern und Jugendlichen zu verschiedenen Zeitpunkten eines Förder-/Therapieprozesses der Erfolg dieser Maßnahmen überprüft werden. Evaluation kann sowohl als Fremdevaluation, das heißt durch unabhängige Spezialisten (ohne Beteiligung der Personen, die mit der zu evaluierenden Intervention befasst sind) oder auch als Selbstevaluation (durch die beteiligten Partner) erfolgen. In der Praxis sind jedoch Mischformen aus beiden Ansätzen am häufigsten anzutreffen (Heiner 1996; Arnold 2006; 2017; Knab/Klein 2017).
SPES
Die Frage nach der Wirksamkeit einer Interventionsform trifft auch die Psychomotorik. Sie wird nicht nur durch das allgemeine Kosten-Nutzen-Interesse (Effizienz) gespeist, sondern ist so alt wie der generelle Anspruch eines Ansatzes auf Anerkennung im Spektrum wissenschaftlich fundierter Förder- und Therapiemethoden (vgl. Knab/Klein 2006, 167). Vor dem Hintergrund dieser Fragestellung hat sich im Jahre 2003 eine Arbeitsgruppe – bestehend aus Vertretern aus Wissenschaft und Praxis – gegründet, die sich dem Feld der Verfahrensentwicklung psychomotorikspezifischer Qualität widmet. Das Ergebnis ist das System psychomotorischer Effekte-Sicherung (SPES) zur Evaluation und Qualitätsentwicklung psychomotorischer Förder- und Therapiemaßnahmen für Kinder und Jugendliche. Die speziell zu diesem Zweck entwickelten Fragebögen können dabei in verschiedenen Arbeitsfeldern (motopädische Praxen, klinisch-therapeutische Institutionen, Fördervereine, Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen, Förderschulen etc.) zur Einzelfalldokumentation von Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf eingesetzt werden. Was leistet das Verfahren?SPES ermöglicht den teilnehmenden Institutionen den Aufbau eines einheitlich strukturierten Dokumentationssystems zur Erfassung von Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität (Donabedian 1982). Darüber hinaus ergeben sich durch den Vergleich der eigenen Evaluationsergebnisse mit denen anderer Teilnehmer grundlegende Erkenntnisse über die Qualität der eigenen Angebote und Leistungen. Die SPES-Daten dienen somit einer wissenschaftlich fundierten Evaluation und Qualitätsentwicklung des eigenen Förder- bzw. Therapiekonzepts.






