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Ich zuckte mit den Schultern. »Ja, ich habe sie gesehen.«
»Ich hab gehört, die sollen Geld haben wie Heu. Wichtige Leute und so.«
»Keine Ahnung, Hördi, ich hab sie ewig nicht gesehen und gesprochen.«
*
Mark saß am Klavier. Ich wusste gar nicht, dass er spielen konnte. Er war einmal Schlagzeuger gewesen, und was für einer. Der beste, den ich kannte.
Der Messdiener war beiseite getreten und hatte ihm den Platz am Instrument überlassen. Der Pfarrer machte eine einladende Geste.
Nichts an Mark ließ den Freak erkennen, der er einmal gewesen war.
Der dunkle Anzug stand ihm gut. Ich erinnerte mich, dass er früher immer einen Parka getragen hatte. Und eine Matte bis zu den Brustwarzen.
Hier und jetzt sah ich einen Mann in den besten Jahren. Kein Grau in den kurzen Haaren. Das Gesicht und die Hände zeigten eine dezente Bräune. Es ließ ihn jugendlich wirken.
Mark hatte Karriere gemacht. Als Musikproduzent.
Obwohl ich ihn drei Jahrzehnte nicht gesehen und gesprochen hatte, war ich bei meiner Arbeit als Journalist ein paar Mal auf seinen Namen gestoßen. Zu Beginn der neunziger Jahre erschienen die ersten vom ihm produzierten Musiktitel, die alle nach einem bestimmten Muster gestrickt waren. Drei-Minuten-Songs, ein Rapper und eine sexy Sängerin, die eine schlichte Ohrwurmmelodie trällerte. Die Trommelstöcke hatte er gegen die Schieberegler am Mischpult eingetauscht. Sein Studio entwickelte sich zur Hitfabrik. Und so fuhr er bald die erste Nummer eins ein. Bis heute folgten weitere Charterfolge, ich habe sie nicht gezählt. Die Wände seines Hauses – irgendwie ging ich davon aus, dass es eine Villa war, alle Produzenten hatten eine – durften mittlerweile mit einer beeindruckenden Sammlung an Platin- und Goldauszeichnungen dekoriert sein. Dann tauchte er im Fernsehen auf. Es fing damit an, dass er in Talkshows saß, wo er als einer der erfolgreichsten Produzenten der letzten Jahre vorgestellt wurde und sich zum Popstandort Deutschland äußerte. Mark war plötzlich so was wie ein Promi. Selbst die Zeitung mit den vier großen Buchstaben berichtete über ihn. Eines Tages trug ein Privatsender Mark an, die Jury einer dieser Talentshows, die den nächsten Pop-Superstar suchen, zu leiten. Mark wusste auf diesem Parkett zu glänzen. Er blieb sachlich und teilte fachlich kompetent den Kandidaten sein Urteil mit. Selbst wenn es vernichtend war, verzichtete er auf markige Sprüche. Die Quoten mussten die Verantwortlichen im Sender zuversichtlich gestimmt haben, denn bald sollte eine neue Staffel anlaufen.
Der Siegertitel – produziert von Mark – war auf Platz drei eingestiegen. Es war ebenjener Song, den Maja so toll fand und den wir auf der Hinfahrt im Radio gehört hatten. Jenes Lied, bei dem mich jedes Mal ein merkwürdiges Gefühl überkam. Ich hatte es schon mal gehört, da war ich mir sicher, wusste aber noch immer nicht, wann und wo.
Jetzt kam Bewegung in das Geschehen am Altar. Mark war aufgestanden und wandte sich ans Publikum.
»Sehr geehrte Gäste, Familie und Freunde von Karen.«
Seine Stimme hallte durch den Raum.
»Eigentlich war das nicht geplant. Aber ein guter Freund«, Mark zeigte auf Don, »hat mich darum gebeten. Bitte erlauben Sie mir, Ihnen ein kleines Lied vorzuspielen. Ich widme es Karen. In Erinnerung an eine gute Freundin und einen wunderbaren Menschen.«
Getuschel. Ich schaute nach Hördi, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Mein Blick wanderte über die Menschen, die um mich herum standen, und ich erkannte ein paar Gesichter. Von meinem Platz links neben dem Eingang, wo ich wieder Position bezogen hatte, entdeckte ich Sonny und Moses. Direkt neben ihnen standen drei Typen, die mir bekannt vorkamen. Na klar, das waren Skip, Gero und Paul.
Mark begann zu spielen. Das Echo der Kapelle verlieh jedem einzelnen Ton, den er auf dem Klavier anschlug, etwas Dramatisches.
Es war der Song aus dem Radio, sein Hit.
Plötzlich fügte sich alles zusammen. Mir wurde von einer Sekunde auf die andere heiß, ich spürte den Schweiß in meinen Handflächen. Aber nicht, weil ich von dem allgemeinen Gefühlsausbruch ergriffen wurde, den Marks Klavierspiel ausgelöst hatte. Jetzt erkannte ich es: Es war Andis Lied.
Der Song, den Andi einst für Karen geschrieben hatte.
Mark spielte eine einfache Version, ohne Schnickschnack. Die Tonfolge war eindeutig, die Melodie eindringlich, wenn auch ein wenig sentimental. Aus den Augenwinkeln registrierte ich, wie neben mir eine Frau sich schnäuzte und die Augen rieb.
Warum war ich nicht schon früher darauf gekommen? Manchmal stand ich regelrecht auf der Leitung.
Doch nun war ich mir ganz sicher. Das Lied, das Mark am Klavier spielte, war Andis Song, den er vor mehr als dreißig Jahren für Karen komponiert hatte. Den Billy mit seinem Kunstkopf aufgenommen hatte. Auf der Mother Universe war dann das Tonband verschwunden. Das Lied, das Mark auf dem Klavier spielte und das ich auf der Hinfahrt im Auto gehört hatte, war identisch mit »Karen’s Song«. So hatte Andi das Lied getauft.
»Aufhören, sofort aufhören!«
Der Ruf kam aus der ersten Reihe. Ein hochgewachsener Mann, Mitte dreißig, mit halblangen schwarzen Haaren, die er hinter die Ohren geklemmt hatte, war von seinem Platz aufgesprungen. Der Stuhl polterte auf den gefliesten Boden. Der Mann fuchtelte mit den Armen, sein jungenhaftes Gesicht war vor Zorn gerötet.
»Sofort Schluss damit!«
Diesmal brüllte er es heraus, der Schrei hallte von den Wänden wider.
Die Frau neben mir zuckte zusammen.
Unruhe brach aus. Die Gäste reckten die Köpfe, nicht wenige waren von ihren Plätzen aufgestanden, um das Schauspiel zu verfolgen. Die Frage, die mich und jeden hier beschäftigte: Wer wagte es, die Feier durch einen solchen Eklat zu stören?
Ich schob mich an ein paar Leuten vorbei und drängte zum Mittelgang, um besser sehen zu können. Ich war so aufgeregt, dass ich alles um mich herum vergaß.
»Passen Sie doch auf!«
Ich war mit jemandem zusammengestoßen und drehte mich um.
Moses schaute verdattert. »Satti, bist du das?«
»Weißt du, was da los ist, kennst du den Typen?«, fragte ich.
»Das ist William«, antwortete er.
»Du sagst es so, als müsste ich wissen, um wen es sich handelt.«
»William, der Sohn von Karen.«
»Du machst Witze.«
»Komm mit.«
Moses zog mich weiter. Vorbei an Sonny, Skip, Gero und Paul. Sie blickten überrascht auf, als sie mich sahen, ich nickte ihnen kurz zu. Dann standen Moses und ich auch schon vor dem Altar.
Mark hatte sich vom Klavier erhoben und wollte gehen. William stellte sich ihm in den Weg. Die Haare hingen ihm wirr in die Stirn. Karens Sohn.
»Dieses Lied ...«, sagte William.
Mark unterbrach ihn. »Das kann ich erklären.«
William ließ sich nicht beirren. »Sie haben es gestohlen!«
Mark schien etwas erwidern zu wollen. Doch er entschied sich anders. Langsam drückte er sich an William vorbei. Als Mark seinen Stuhl erreicht hatte, beugte er sich zu Don. Mit einer Kopfbewegung machte er seinen Freund auf meine Anwesenheit aufmerksam. In diesem Moment trat ein Mann vor den Altar.
»Meine Damen und Herren, bitte beruhigen Sie sich. Nehmen Sie Ihre Plätze wieder ein. Ich bitte Sie von ganzem Herzen, setzen Sie sich!«
Er sprach mit gefasster Stimme. Er schien mein Jahrgang zu sein, vielleicht ein wenig älter. Er holte ein Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn. Kräftige Statur, breite Schultern. Der Anzug, den er trug, verbarg nicht, dass ihm körperliche Arbeit nicht fremd war. Seine Hände, die er nun verschränkt vor dem Bauch hielt wie ein Mönch auf dem Weg zur Messe, zitterten.
»Verehrte Damen und Herren, ich bitte Sie, die Störung zu entschuldigen. Alle, die heute hier sind, haben Karen gekannt. Ich bin sicher, sie hätte sich sehr gefreut, wenn sie wüsste, dass Sie alle wegen ihr gekommen sind. Herr Pfarrer, bitte fahren Sie mit der Zeremonie fort.«
Die Leute nahmen wieder ihre Plätze ein. Mark setzte sich auf seinen Stuhl neben Don. Hilflos blickte ich mich um.
Wo war Moses abgeblieben? Auch Sonny, Skip, Gero und Paul konnte ich nirgends mehr entdecken. Hördi war anscheinend auch schon weg. Durch den Mittelgang ging ich zurück zu meinem Platz an der Tür.
Mark hatte Williams Frage nicht beantwortet. Was waren seine Worte gewesen? Dass Mark den Song gestohlen hatte? Ja, das hatte William behauptet. Vor mehr als dreißig Jahren hatte ich Mark schon einmal damit konfrontiert.
Mit großen Schritten eilte William an mir vorbei. Als er die Klinke der Kapellentür herunterdrückte, sprach ich ihn an. »Ich muss mit Ihnen reden.«
*
Zum zweiten Mal an diesem Morgen rauchte ich eine Zigarette. William gab zuerst mir, dann sich selbst Feuer. Er steckte die Hände in die Taschen seines Anzugs. Kein Mantel, kein Schal, nur ein einfaches Jackett.
»Ist Ihnen nicht kalt?«
»Geht so.«
»Wer war der Mann, der die Leute beruhigt hat?«
»Das war Daniel, mein Vater«, sagte William mit weicher Stimme. Sein Groll schien verflogen.
Ich erkannte nun die Augen und die Gesichtszüge seiner Mutter. Eine Ähnlichkeit mit Daniel konnte ich jedoch nicht entdecken. Aber was wusste ich schon über ihn? Ich hatte einst den Kontakt zu seiner Mutter abgebrochen, hatte nie wieder etwas von mir hören lassen, damals, als Karen nach Christiania ging.
»Sie haben ganz schön für Aufregung gesorgt da drinnen«, sagte ich.
»Ich habe eine Stinkwut auf diesen Typen«, platzte es aus ihm heraus.
»Wir sollten uns duzen. Ich bin Satti, so nannte man mich hier früher.«
Er schüttelte ohne zu zögern die Hand, die ich ihm hinhielt. »Karen hat oft von dir gesprochen. Ich freue mich, dich kennenzulernen.«
Nichts Falsches oder Verstelltes lag in der Art, wie er es sagte.
Ich schaute ihn freundlich an. »Ich würde mir gern ein wenig die Beine vertreten. Lust auf einen kleinen Spaziergang?«
Er zuckte mit den Schultern. Ein paar Schritte folgten wir schweigend dem Weg entlang der Friedhofsallee.
»Satti? Was ist das für ein Name?«, fragte er.
»Ich hatte mal eine Phase, in der ich alles satt fand. Satter Sound, satte Platte und so weiter. So wie andere toll, super oder dufte sagen, war bei mir irgendwie alles satt. Aber das ist lange her. Nur meine Frau und alte Freunde nennen mich noch so«, antwortete ich.
»Alte Freunde wie Mark?«
»Ja, das waren wir, damals ... Ich habe ihn heute das erste Mal seit mehr als dreißig Jahren wiedergesehen.«
William blickte mich direkt an. Ich konnte deutlich ein nervöses Zucken in seinem Gesicht erkennen. »Einmal ist er bei uns in Hamburg aufgekreuzt.«
»Was wollte er?«
»Er hat sich mit Karen unterhalten. Unter vier Augen. Irgendetwas Geschäftliches, mehr weiß ich nicht. Das war etwa ein dreiviertel Jahr vor ihrem Tod. Sympathisch war er mir schon damals nicht. Er hat irgendwie so was Arrogantes. Ich weiß auch nicht.«
»Verstehe.«
»Er war mal Mutters Freund. Aber seine Freunde beklaut man nicht.«
»Wie meinst du das?«
»Er hat dieses Lied als sein eigenes ausgegeben. Es läuft ständig im Radio und ist in die Charts eingestiegen.«
»Die Lieder sind wirklich identisch?«
»Für mich gibt es keinen Zweifel. Ich habe die Noten gesehen, sie waren in ihrem Nachlass, den ich vor ein paar Tagen einsehen durfte.«
Karen, das hübsche Hippie-Mädchen, dachte ich.
Ich fragte ihn: »Hat sie sehr gelitten?«
»Sie musste schmerzstillende Medikamente nehmen. In immer höheren Dosen. Am Ende ist sie friedlich eingeschlafen.«
»Sie hat bestimmt davon erzählt, was wir damals so alles angestellt haben. Es war eine verrückte Zeit. Kiffen, lange Haare, und ständig ging es um Musik«, sagte ich.
»Wie in Christiania. Obwohl ich noch zu klein war, um das zu verstehen. Ich weiß noch, bei uns lief dauernd diese psychedelische Musik. Das meiste war grauenhaft, aber schräge Töne fand ich schon als Kind toll. Vielleicht habe ich daher meine Liebe für Jazz und solche Sachen.«
»Wie lange habt ihr in Christiania gelebt?«
»Vier oder fünf Jahre, dann sind wir nach Hamburg gezogen.«
»Und dann? Bitte entschuldige, dass ich dich regelrecht ausquetsche, aber ich weiß im Grunde nichts über das spätere Leben von Karen.«
»Meine Eltern bauten sich ein Geschäft auf. Karen entwarf eine eigene Modelinie. Es hat mit einem kleinen Laden angefangen. Heute sind es drei. Daniel, mein Vater, ist Schreiner, er hat die Inneneinrichtung übernommen und sich dann um die Buchhaltung gekümmert, Karen um das Kreative. Das hat gut funktioniert. Der Anzug, den ich trage, ist übrigens von ihr.«
»Und irgendwann wirst du das Geschäft übernehmen?«
»Nein, meine Schwester. Alice, so heißt sie. Sie ist sechs Jahre jünger als ich. Alice hat das Talent von Karen geerbt, sie schneidert auch selbst. Sie wird das Geschäft übernehmen.«
»Jetzt weiß ich aber immer noch nicht, was du machst«, sagte ich.
»Ich habe Musik studiert, Fachrichtung Komposition. Ich spiele Klavier seit meinem sechsten Lebensjahr; kurz nachdem wir von Christiania nach Hamburg gegangen sind, schickte Karen mich zum Unterricht. Heute habe ich eine eigene Band, es läuft ganz gut. Wir sind gerade dabei, unsere erste Platte aufzunehmen, in Eigenproduktion, mit Stücken von mir. Wir machen experimentelle Sachen. Damit ist es allerdings schwer, Geld im Musikgeschäft zu verdienen. Ich habe auch Theatermusiken geschrieben. Nichts Großes bislang, aber es macht sehr viel Spaß. Am liebsten würde ich nur das machen, komponieren.«
Darauf war ich nicht vorbereitet. Bilder, die in den Tiefen meines Unterbewusstseins lange verborgen schienen, zuckten jetzt wie Blitzlichter vor meinem inneren Auge auf. Erst einzelne Fetzen, dann überfluteten ganze Sequenzen meine lückenhafte Erinnerung.
Plötzlich sah ich deutlich Andi vor mir, wie er in seiner Einzimmerwohnung über dem Hot Rats am Piano sitzt und diesen Song spielt. Jenes Lied, das Mark in der Kapelle anstimmte. Und nun ein Hit ist.
In meinem Kopf begann es zu hämmern, ich fasste mir an die Schläfe.
»Was ist los? Du bist auf einmal kreidebleich!«
»Schon gut, es geht gleich wieder.«
Es entstand eine Pause.
Ich fasste mir ein Herz. »Der Song da drinnen, der, den Mark spielte. Das Stück, das überall im Radio läuft und weit oben in der Hitparade steht. Es ist Ton für Ton ...?«
»... exakt das Lied, dessen Noten ich aus dem Nachlass von Karen erhalten habe. Ja, so ist es«, antwortete er.
Das Musikfieber, das Festival und jener schicksalhafte Segeltörn rauschten an mir vorbei wie ein Film im Schnelldurchlauf.
»Dann weißt du auch, wer das Lied in Wirklichkeit komponiert hat?«
»Andi, mein leiblicher Vater.«
Er sagte es, als sei es das Normalste der Welt. Mich traf es wie ein Blitz.
»Dann ...« Weiter kam ich nicht.
»Karen und Daniel haben es mir gesagt, da war ich fünfzehn oder sechzehn Jahre alt«, sagte William.
»Das war vernünftig«, antwortete ich.
»Daniel wird für mich immer mein Vater bleiben. Von Andi weiß ich so gut wie überhaupt nichts. Wir haben noch nicht mal ein Foto von ihm.«
»Ich auch nicht. Aber sein Gesicht habe ich nicht vergessen. Wenn ich dich anschaue ... Du hast einiges von ihm«, sagte ich.
»Wie war er?«
»Hat Karen dir nichts von ihm erzählt?«
»Sie hat Tagebuch geführt«, antwortete er, »aber nur in Christiania. Darin steht, dass Andi den Song für sie komponierte und ihr die Noten schenkte. Um ein Tonband ging es auch.«
»Ja, das Tonband. Ich habe damals schon vermutet, dass Mark es an sich genommen hat. Aber ich konnte es nicht beweisen.«
»Dieser Typ scheint die Leute nur zu benutzen«, sagte William, »er stiehlt das geistige Eigentum eines anderen und gibt es als das seine aus. Früher Freak und heute ehrenwertes Mitglied der Gesellschaft.«
»Er war nicht immer so«, sagte ich.
»Dann erzähl mir mehr über ihn und eure Freundschaft. Wie war das in euren ach so tollen Zeiten von Krautrock und Kiff? Damit ich verstehe, was das, was damals passiert ist, mit dem Durcheinander von heute zu tun hat.«
Ja, wie war das damals?
Das Pochen in meiner Schläfe nahm an Intensität zu.
»An das meiste kann ich mich gar nicht mehr erinnern«, wehrte ich ab. Ich hatte Angst vor dem, was die alten Geschichten bei mir auslösen würden.
William schaute mich an. Er wartete, schien es ernst zu meinen.
»Ich will auch alles über Andi erfahren«, sagte er schließlich.
Womit beginnen? Wann und wie hatte alles angefangen?
Während ich noch überlegte, begann ich auch schon zu erzählen. Wie tonnenschweres Gestein löste sich der Druck, der allzu lange auf meinem Herzen gelastet hatte.
Selbst Mila wusste kaum etwas davon. Und während ich zu erzählen begann, fühlte ich mich mehr und mehr erleichtert. Mir wurde bewusst, dass ich froh war, diese Last endlich loszuwerden. Das alles zu verdrängen hatte ich lange Zeit allzu gut beherrscht und geradezu perfektioniert.
Ja, wie hatte alles angefangen? Dieser Irrsinn, der bis heute nachwirkt?
zwei Sweet Smoke
Es war heiß und trocken an jenem Samstag im Juni 1971. Die Sonne brannte erbarmungslos. Das Kaff lag wie ausgestorben da.
Die Geschäfte in der einzigen Einkaufsstraße hatten bereits geschlossen, die Bürgersteige waren gekehrt und hochgeklappt.
Mark und ich standen vor dem Eckfritz, der schlimmsten Spießerkneipe der Stadt. »Ich will das Spiel sehen«, sagte Mark.
Ich schaute ihn zweifelnd an. »Da drin?«
Er ließ nicht locker. »Es ist der einzige Laden, der eine Glotze hat. Jetzt sogar in Farbe.«
Fußball war nicht unbedingt eine Herzensangelegenheit von mir. Aber ein Pokalfinale war etwas Besonderes, da stimmte ich Mark insgeheim zu. Bayern München gegen den 1. FC Köln. Live aus dem Neckarstadion in Stuttgart.
In meinem Dachzimmer abhängen, ein bisschen Amon Düül II oder Kraftwerk hören, das hätte mir mehr Spaß gemacht. Doch dafür konnte ich Mark nicht begeistern. Für ihn war Fußball die angemessene Beschäftigung, um die Zeit bis zu dem Ereignis totzuschlagen, auf das wir seit Wochen hinfieberten und das heute Abend endlich anstand.
Er war fest entschlossen. »Ich geh da jetzt rein.«
»Wir werden gelyncht und anschließend noch geteert und gefedert«, warnte ich.
Mark schüttelte den Kopf. »Du übertreibst wie immer.«
Das Eckfritz war beliebt wegen seiner regionalen Küche und den volksnahen Preisen. Der Besitzer hieß, wie sollte es anders sein, Fritz und hatte sie alle um sich geschart, die Gartenzaunnazis und reaktionären Parolenschwinger. Bei ihm tranken sie ihr Bier, spielten Skat und verputzten »Russisch Ei«, Kartoffelsalat mit hart gekochten Eiern und Mayonnaise, ein in unserer Gegend beliebtes Schnellgericht.
Fritz war Anfang sechzig und trotz der Trommel, die er vor sich hertrug, noch gut in Form. Es hieß, er kraule jeden Morgen seine fünfzig Bahnen. Er stand einer freien Wählerliste vor, die er gegründet hatte und die es bei der nächsten Kommunalwahl in den Stadtrat schaffen wollte, um dann die Einsetzung einer Bürgerwehr durchzudrücken. Angeblich sei die Polizei notorisch unterbesetzt und könne deshalb nicht energisch genug gegen Verbrecher und ähnliches Gesindel vorgehen. So hatte er sich zumindest in einem Interview mit dem Lokalblatt geäußert.
Auf die Frage, wen er mit »Gesindel« meine, hatte er geantwortet: »All die, die die FDGO, die freiheitlich-demokratische Grundordnung, gefährden.« Mir schwante, an wen er dabei dachte, nämlich all jene, die nicht in seinen beschränkten Kleinstadthorizont passten: Langhaarige, Kiffer und Freaks, die ins Lager oder nach drüben gehörten.
»Komm endlich«, drängelte Mark.
Ich folgte ihm, wenn auch widerwillig.
Ich hätte auf mein Bauchgefühl hören sollen.
Als wir eintraten, empfing uns ein Geräuschpegel wie im Stadion. Der Fernseher dröhnte. Der Laden war proppenvoll, alle verfügbaren Stühle besetzt. Selbst im Gang zwischen Theke und Schankraum standen die Leute. Die Luft stank nach Männerschweiß, Zigaretten und Bier.
Niemand nahm Notiz von uns.
Die Glotze hing hoch über den Köpfen an der Decke in einem extra dafür konstruierten Gestell. Der 1. FC führte mit 1:0. Jetzt zeigten sie Franz Beckenbauer in Nahaufnahme. Der zog ab, und der Ball kullerte ins Netz.
»1:1! Die Bayern holen auf. Zu sehr haben die Kölner das Spiel schleifen lassen«, kommentierte der Sprecher, dessen Stimme sich fast überschlug.
Jubel im Neckarstadion. Entsetzen im Eckfritz.
Einige riefen wild durcheinander und fluchten. Andere waren von den Sitzen aufgesprungen. Am Tresen fiel ein Barhocker zu Boden. In der Stammtischecke, an der sie dicht gedrängt saßen, klirrte es verdächtig.
Ich sah mich um. Männer von vierzig an aufwärts, auch etliche Rentner, die fast immer hier hockten, als ob sie kein Zuhause mehr hätten. Eine ältere Bedienung wuselte mit einem Handbesen zwischen den Tischen, räumte Scherben weg und nahm nebenbei Bestellungen auf.
An der Theke, direkt vor uns, stand ein Trupp mürrisch dreinblickender Kerle im Blaumann.
»Vier Bier, aber dalli«, bellte der größte von ihnen. Kurzes Hemd, muskulöse, dichtbehaarte Unterarme. Seine Kumpels konnten sich kaum noch gerade halten. Das waren wohl die städtischen Arbeiter, die am Morgen vor der Tür den Bürgersteig aufgerissen, ein Loch gebuddelt und Rohre verlegt hatten. An einem Samstag zu arbeiten, war ärgerlich genug, nun geriet auch noch ihr geliebter 1. FC in Bedrängnis. Das musste runtergespült werden.
Der Blaumann mit den Muckis drehte sich in unsere Richtung und rief, dass es die gesamte Kneipe hören konnte: »Was wollen denn diese Gammler hier?« Marks Stirn legte sich in Falten. Blaumann registrierte es genau.
»Ja, dich und deinen Freund habe ich gemeint. Arbeitsscheues Pack«, sagte er, setzte das Bier an die Lippen und grinste fies.
Das Grummeln in meinem Bauch wurde stärker. Mark schaute mich an. Ich deutete mit dem Kopf zur Tür.
Besser, wir hauen sofort ab, dachte ich. Obwohl wir keine fünf Minuten in dem Laden waren und noch nicht einmal etwas zu trinken bestellt hatten.
Okay, der Kerl war besoffen, das war offensichtlich. Da wäre eigentlich Nachsicht angebracht, aber Mark konnte seine Klappe nicht halten.
»Nach der Revolution wird man Typen wie dich als Wachsfigur zur Schau stellen. Und zwar als Negativbeispiel. Schulklassen werden vorbeikommen und sagen: Guckt mal, so sahen früher Reaktionäre aus.«
Blaumann wich die Farbe aus dem Gesicht. Sein Mund verzog sich, die Zunge fuhr nervös in der Unterlippe hin und her. Er stellte sein Bier auf dem Tresen ab und baute sich bedrohlich vor uns auf.
Seine Kumpels, auf einmal wieder hellwach, lugten ihm über die Schulter, gespannt, was passieren würde.
»Mit Fremdwörtern angeben und dem Steuerzahler auf der Tasche liegen, das ist alles, was ihr könnt. Ans Fließband mit euch Haschbrüdern. Da treiben sie euch die Flausen schon aus«, keifte er.
Mark war nicht beeindruckt. »Du bist wirklich ein hervorragendes Exemplar deiner Spezies«, sagte er.
Der Muskelmann lief rot an wie das HB-Männchen. Gleich würde er an die Decke gehen. In seinen Oberarmen zuckte es gefährlich. Er holte aus.
Eine Hand schoss aus dem Nichts hervor und hielt ihn fest. »In meinem Lokal wird sich nicht geprügelt«, sagte Mr. Eckfritz.
Er klopfte Blaumann beruhigend auf die Schulter. »Nicht provozieren lassen. Trink noch ein Bier, das geht aufs Haus.«
Dann wandte er sich uns zu. »Verschwindet. Ihr habt hier nichts verloren.«
Mark bewegte sich nicht vom Fleck. »Das ist ein freies Land. Wir können Fußball gucken, wo wir wollen.«
Fritz ignorierte den Spruch und musterte mich. »Bist du nicht der Sohn von dieser SPD-Tante?«
Ich nahm meinen ganzen Mumm zusammen. »Das, was Sie im Lokalblatt von sich gegeben haben, war echt krank.«
Mit einem Ruck fuhr der Arm von Eckfritz hoch. Ob es eine Geste in Richtung Ausgang war, um uns die Tür zu weisen, oder ob er wirklich zuschlagen wollte, das war nicht eindeutig auszumachen. Sein Ellenbogen aber sauste wenige Millimeter an Marks Nase vorbei.






