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Geschichtssendungen in Film und Fernsehen, die sich im Zeithorizont der Erinnerungskultur bewegen, werden deshalb in diesem Buch gesondert behandelt und ausführlich diskutiert. Geschichtssendungen sind Vermittler zwischen der Gegenwart, in der sie laufen, und der Vergangenheit, von der sie erzählen. Sie greifen dabei auf vergangene Erzählungen zurück, die einstmals aktuelle Ereignisse dokumentierten (z.B. Nachrichtenerzählungen). Und so wie die alten TV-Nachrichten mit Hilfe aktueller audiovisueller Aufzeichnungen von ihrer aktuellen tatsächlichen Welt erzählt haben, so erzählen spätere Geschichtsdokumentationen mit Hilfe historischer AV-Dokumente von vergangenen Welten und stärken damit den ‚flow‘ generationsübergreifender Vergangenheitserzählungen.
Weiterführende Literatur
Bentele 2008: Günter Bentele, Objektivität und Glaubwürdigkeit. Medienrealität rekonstruiert. Wiesbaden 2008.
Bietz 2013: Christoph Bietz, Die Geschichten der Nachrichten: Eine narratologische Analyse telemedialer Wirklichkeitskonstruktion. Trier 2013.
Drews 2008: Albert Drews (Hg.), Zeitgeschichte als TV-Event: Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung im deutschen Fernsehfilm. Loccum 2008.
Erll 2008: Astrid Erll, Erinnerungskultur und Medien – In welchem Kontext spielt sich die Diskussion um Geschichtsvermittlung im Fernsehfilm ab? In: Albert Drews (Hg.), Zeitgeschichte als TV-Event: Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung im deutschen Fernsehfilm. Loccum 2008, 9–27.
Gergen 1998: Kenneth Gergen, Erzählung, moralische Identität und historisches Bewußtsein. In: Jürgen Straub (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a.M. 1998, 170–202.
Schmid 2014: Wolf Schmid, Elemente der Narratologie. Berlin 20143.
Straub 1998b: Jürgen Straub, Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung. In: Jürgen Straub (Hg), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a.M. 1998, 81–169.
[21]2.1 Audiovisuelle Geschichte
Audiovisuelle Geschichte macht in ihren Erzählungen vergangene Lebenswelten wieder sicht- und hörbar, die in der tatsächlichen Welt unsichtbar und stumm geworden sind. Dies gelingt auf zweierlei Weise: entweder unmittelbar, durch Vergegenwärtigung der lebensweltlichen Vergangenheit im szenischen Spiel, oder mittelbar, durch eine verbale Erzählung, bei der Dokumente aus der Vergangenheit gezeigt und zu Gehör gebracht werden.
Szenische Geschichtsfilme
Betrachten wir zuerst die Dramatisierung von Vergangenheit im szenischen Spielfilm. Als Beispiel wählen wir den deutschen Fernsehfilm „Die Himmelsleiter“ aus dem Jahr 2015, der die Zuschauer in die Lebenswelt der Stadt Köln im Jahr 1947 zurückführt. Das Köln jener Tage ist schwer gezeichnet vom Bombenkrieg. Große Teile der Innenstadt liegen in Trümmern. Viele Ausgebombte leben auf engsten Raum zusammen, nicht wenige warten verzweifelt auf vermisste Familienangehörige. Kleine und große Nazis sind untergetaucht, manche von ihnen arbeiten schon wieder an einer zweiten Karriere. Die Versorgung der Bevölkerung funktioniert nur notdürftig, Tauschhandel, Schmuggel und Schwarzmarkt prägen das Alltagsleben. Viele Menschen leben von der Hand in den Mund. Es ist eine Zeit der Ungewissheit: der Krieg ist zwar vorbei, aber eine neue politische und gesellschaftliche Normalität noch nicht erreicht.
Es gibt sehr viele verschiedene Geschichten, die von diesen historischen Tatsachen erzählen. Sie finden sich in Zeitungen, Tagebüchern und Romanen. Der Film „Die Himmelsleiter“ erzählt die Kölner Nachkriegsgeschichte auf seine Weise, und er beginnt so:
DIE HIMMELSLEITER (D 2011), ANFANGSSZENE
Bild und Ton blenden auf, der Film beginnt: auf der visuellen Ebene wird bildfüllend eine Kirchenglocke sichtbar. Sie trägt die Inschrift „St. Peter bin ich genannt / schütze das deutsche Land / geboren aus deutschem Leid / ruf ich zur Einigkeit“. Die Kamera schwenkt langsam nach links, verliert die Inschrift aus dem Blick und erfasst aus der Perspektive des Glockenstuhls die Silhouette einer zerbombten Stadt. Ein breiter Fluss ist tief unten erkennbar, in dem über die gesamte Breite hinweg eine zerstörte Eisenbahnbrücke liegt. Während des Schwenks beginnt auf der auditiven Ebene ein Soundgemisch aus Windgeräuschen und einem hohem Geigenton, das nach wenigen Momenten in ein gesungenes Kirchenlied durchblendet. Auf der visuellen Ebene wird das Rätsel nach der Quelle des Gesangs durch eine Bildblende von der fernen Trümmerlandschaft in das nahe Kircheninnere geklärt. Die Trickkamera fährt durch den Glockenturm nach unten und erfasst nach einer weiteren Bildblende die Kirchengemeinde aus Richtung des Altars. Die ersten Reihen der Gemeindemitglieder werden vom rechten Seitenschiff hin zum Mittelschiff abgefahren. Alle Personen tragen Feiertagskleidung der 1940er Jahre. Die Kamera verlangsamt ihre Querfahrt und hebt aus der Gruppe zwei Frauen heraus. Auf der auditiven Ebene wird diese visuelle Fokussierung dadurch unterstützt, dass die Gesangsstimmen der Frauen aus dem Gesamtchor herausgehoben werden. Dann wechselt der Schauplatz. Auf der visuellen Ebene wird nun aus einer obersichtigen Perspektive die städtische Trümmerlandschaft in einer ‚Totalen‘ gezeigt. Auf der auditiven Ebene erklingt die Titelmusik. Der Titel des Films wird auf die Trümmerlandschaft geblendet: „Die Himmelsleiter. Sehnsucht nach Morgen“. Es folgt eine weitere Texteinblendung: „Nach einer wahren Begebenheit“. Auf der auditiven Sprachebene beginnt unmittelbar nach dem Titel eine Frauenstimme im rheinländisch eingefärbten Dialekt Voice-OverVoice-Over zu erzählen:
„Es war Sommer 1947 und der Krieg war seit zwei Jahren aus. Es war nicht so gelaufen, wie es gedacht war. Wir hatten zweihundertzweiundsechzig schwere Luftangriffe hinter uns, darunter den Tausendbomberangriff und die grausame Peter-und-Paul-Nacht. Mit den Trümmern konnten wir leben, aber wirklich schlimm war der Hunger. Unser Leben bestand aus Stehlen, Schmuggeln, Schachern und Hamstern, kurz ‚Fringsen‘. Denn unser Kölner Erzbischof, Kardinal Frings, hatte ja gepredigt, in der Not sei fast alles erlaubt, um seine Kinder durchzubringen. Aber sogar die Kinder selber mussten ran, zum ‚Rabatzen‘, sind mit Kupfer oder sonst was von Wert über die ‚Himmelsleiter‘ nach Belgien, um Kaffee einzutauschen. ‚Himmelsleiter‘, so haben sie den verminten Weg durch die Eifel genannt, weil er für viele direkt in den Himmel führte.“
Während des Voice-OverVoice-Over wird auf der visuellen Ebene ein von einem Trümmerberg heruntersteigender Junge sichtbar. Er hat ein geschminktes Karnevalsgesicht und versucht, sich eine ‚Kippe‘ anzuzünden. Beim Voice-Over-Wort „Fringsen“ erfolgt ein Umschnitt auf das Titelblatt der „Rheinischen Tageszeitung“, das ein Großfoto von Köln in Trümmern zeigt und so den Film als historische Erzählung beglaubigt. Die kleine dokumentarische Schnittfolge endet mit der Etablierung einer Szene: eine Menschenschlange steht an einem Milchgeschäft an. Die Frau, die bereits aus der Kirchengemeinde visuell und auditiv herausgehoben wurde, stellt sich mit einem kleinen Jungen dazu. Ein Dialog zwischen beiden beginnt, der sich mit dem Voice-Over mischt. Die Erzählstimme aus dem Off ist als Stimme der Frau in der Schlange zu identifizieren, offensichtlich die Protagonistin des Films. Es ist also ihre Geschichte, die aus ihrem Rückblick erzählt wird. Auf der auditiven Ebene geht das Voice-Over nun in szenische Dialoge über, entsprechend werden auf der visuellen Ebene szenische Handlungen sichtbar: das raumzeitliche Filmgeschehen nimmt seinen Lauf. Die Handlung hat längst begonnen, da gibt es noch einmal eine Texteinblendung: „Köln im Sommer 1947“. Dieser außerfilmische Hinweis stellt noch einmal heraus, dass die Erzählung sich auf Ereignisse beziehen will, die sich 1947 in Köln und Umgebung tatsächlich zugetragen haben sollen.
[22]Der Spielfilm „Die Himmelsleiter“ (D 2015) ist darum bemüht, bereits mit den ersten Bildern die Lebensbedingungen der Kölner Bevölkerung des Jahres 1947 wieder sichtbar zu machen und ‚tote‘ Geschichte in eine lebendige filmische Gegenwart zu verwandeln. Die eingeblendeten Texte und die Voice-OverVoice-Over-Erzählung zeigen schon im Vorspann an, dass der Film ein Geschichtsfilm sein und vergangene Ereignisse im Hier und Jetzt glaubwürdig darstellen will. Zu diesem [23]Zweck konstruiert er eine sicht- und hörbare historische Lebenswelt, in der Schauspieler tatsächliche, mögliche oder fiktive historische Personen darstellen und Ereignisse nachspielen, die sich so oder so ähnlich tatsächlich zugetragen haben können.
Der sichtbare Raum
Die Trümmerwelt der Jahre 1947/48, in der der Film durchgängig spielt, symbolisiert nicht nur die innere Verfassung der filmischen Akteure, sondern steht sichtbar und ganz konkret auch für die vielen zerstörten Städte der Nachkriegszeit. Die Glaubwürdigkeit des Films, die in den Textinserts des Filmanfangs behauptet wird, hängt deshalb in starkem Maße auch davon ab, dass dieser zerstörte Lebensraum authentischAuthentizität, authentisch, Authentifizierung gestaltet wird. Daran hat sich das Filmteam tatsächlich gehalten, allerdings nicht in Köln, sondern im entfernten Prag, wo man die passendere Location und auch die Fachkräfte für den Aufbau einer historischen Szenerie fand: Skulpteure, Stuckateure, Oberflächengestalter, Maler, Schreiner, Schlosser und so weiter. Jerome Latour (2015), der Szenenbildner des Films, erklärt: „Die Arbeit an dieser Produktion unterteilt sich in drei wesentliche Blöcke. Zum einen haben wir diese unglaublich große Industriebrache gefunden – eine ehemalige Zuckerfabrik, die wir als Ausgangspunkt für zwei zerstörte Kölner Stadtteile genommen haben. Nach aufwendigen Erdbewegungs- und Sicherungsarbeiten an den Ruinen haben wir angefangen, unsere eigenen Pflastersteinstraßen zu verlegen. Häuserfassaden und Gebäudefragmente bis zum zweiten Stockwerk wurden in die bestehenden Ruinen eingefügt, drei bespielbare Sets wurden im Inneren errichtet, Bäume wurde gepflanzt, um auch die unterschiedlichen Jahreszeiten leichter erzählen zu können. Zum anderen haben wir ein komplettes Studioset gebaut, um das Innere einer ruinierten Wohnung besser und kontrollierter drehen zu können. Und der große dritte Block bestand darin, existierende Originalmotive zu finden, die wir entsprechend auf Zeitreise schicken konnten. Das heißt, eine geeignete Grundstruktur vorzufinden, die wir mit historischen Ausstattungsgegenständen glaubwürdig auf 1947/48 herrichten konnten.“ In diesen, nach Ansicht vieler Kritiker überzeugend gestalteten filmischen Schauplätzen, entwickelt sich die Handlung.
Die sichtbaren Personen
Die in historischen Spielfilmen sichtbaren Personen können historische Personen repräsentieren, zum Beispiel Bruno Ganz (Hitler) in „Der Untergang“ (D 2004) oder Christian Friedel (Elser) in „Elser“ (D 2015). In diesen Fällen sind die Ansprüche an AuthentizitätAuthentizität, authentisch, Authentifizierung hoch, weil es sich um Personen der ZeitgeschichtePersonen der Zeitgeschichte handelt, über die viel bekannt ist. Die Regisseure von „Der Untergang“ und „Elser“ haben deshalb auch immer wieder öffentlich bekundet, dass sie sich bei ihren Figuren [24]streng an die historischen Tatsachen gehalten hätten. Diesen Bekundungen ist allerdings nicht recht zu trauen, da die erzählte Vergangenheit, insbesondere dann, wenn sie inszeniert ist, die tatsächliche Vergangenheit niemals abbilden kann (→ Kap. 2.5). Deswegen setzen die meisten historischen Spielfilme auch auf fiktive Personen, die als Prototypen bestimmter historischer Konflikte oder gesellschaftlicher Gruppen auftreten. So etwa in dem Spielfilm „Unsere Mütter, unsere Väter“ (ZDF 2013), in dem alle Protagonisten zwar fiktiv sind, aber die Generation der 20-jährigen repräsentieren, die 1941 am Krieg gegen die Sowjetunion teilnahmen. Ihre Glaubwürdigkeit gewinnen die Protagonisten daraus, dass sie so agieren, wie viele Namenlose es damals tatsächlich taten. Entsprechend sind auch die Protagonisten in „Die Himmelsleiter“ konstruiert.
DIE HIMMELSLEITER (D 2011), PROTAGONISTEN
Anna Roth (Christiane Paul), eine tapfere dreifache Mutter und junge Großmutter, hofft auch zwei Jahre nach Kriegsende noch immer auf die Rückkehr ihres Mannes (Ernst Stötzner) aus einem Konzentrationslager, in das er während der NS-Herrschaft unter Mithilfe des ehemaligen NSDAP-Ortsgruppenführers Armin Zettler (Axel Prahl) verschleppt wurde. Zettler macht nach dem Krieg wieder Karriere, muss sich aber wegen seiner NS-Vergangenheit vor der städtischen Spruchkammer verantworten und befürchtet, dass Anna Roth gegen ihn aussagen wird. Deswegen stellt er ihr nach, bedrängt sie und legt ihr, nachdem er mehrere Abfuhren bekommen hat, immer größere Steine in ihren ohnehin mühsamen Weg des Neuanfangs. Auch alle anderen Akteure des Films, hauptsächlich die Kinder von Anna Roth und Armin Zettler, richten ihre ganze Kraft darauf, durch Geschäfte und Kungeleien aller Art den Übergang vom Zusammenbruch der NS-Herrschaft zum Beginn einer neuen gesellschaftlichen Ordnung möglichst erfolgreich zu nutzen. Das führt zu vielen persönlichen Konflikten und Krisen, zu unerwarteten Ereignissen und überraschenden Wendungen, die die Handlung des Films temporeich vorantreiben. Alle Akteure bewegen sich auf schwankendem Boden, sind eher Getriebene als Treibende, weil es keinen gesellschaftlich und politisch sicheren Rahmen mehr gibt, in dem sie sich planend bewegen könnten. Erst als im Sommer 1948 in Westdeutschland die Währungsreform stattfindet und die D-Mark zum Maßstab für Erfolg und Misserfolg wird, endet das Beziehungschaos, und der Kampf jeder gegen jeden läuft nach klaren ökonomischen Regeln: Das Durcheinander der westdeutschen Umbruchsjahre mündet in der gespurten Dynamik der Wirtschaftswunderwelt.
Die fiktiven Protagonisten dieses Films repräsentieren bestimmte Typen der bundesdeutschen Nachkriegszeit, sie agieren hin und wieder klischeehaft und stereotyp, dennoch wirken sie glaubwürdig, weil sie Menschen darstellen, die in der Erinnerung der meisten Zuschauer so oder ähnlich präsent sind.
[25]Die filmische Handlung
Wie bei sehr vielen szenischen Filmen steht auch in „Die Himmelsleiter“ am Beginn der Handlung ein bedeutsames Ereignis, das die filmischen Akteure in eine kritische, existenziell bedrohliche Lage bringt. Hier ist es der verlorene Krieg, der alle bisherigen Lebenspläne Makulatur werden lässt und die Überlebenden dazu zwingt, sich eine neue Zukunft aufzubauen und verloren gegangene Positionen wiederzugewinnen. Der Film folgt damit einem vielfach angewandten und (nicht nur im Film) erprobten Erzählmuster: Eine gravierende Zustandsveränderung der Lebenswelt von Protagonisten (= Ereignisanfang) bewirkt diverse Handlungen, die zur (Wieder-)Herstellung einer stabilen Lebenswelt oder, seltener, zum Untergang der Protagonisten führen (= Ereignisende). Das Publikum wird einer solchen stereotypen Erzählweise deshalb wahrscheinlich widerspruchslos folgen. Aber es sind nicht allein die stereotypen Erzählklischees, wiedererkennbaren Erzählbausteine und schablonenhaften Charaktere, die eine Erzählung massentauglich machen, es ist auch die Eigenlogik des Mediums ‚Film‘ selbst, die sehr oft dazu führt, dass die filmisch erzählte Welt den Erzählstereotypen folgt, die sich in den Alltagserzählungen unserer tatsächlichen Welt bewährt haben. Denn wie die tatsächliche Welt ist eben auch das Medium ‚Film‘ raumzeitlich strukturiert, und dieser Umstand begünstigt das Erzählen von chronologisch ablaufenden katastrophalen Ereignissen oder zwischenmenschlichen Konflikten und sperrt sich gegen die Darstellung ‚zeitloser‘ Strukturen. Die erzählte Welt des szenischen Films ist genauso wie die tatsächliche vergangene Welt auf ihrer optisch-akustischen Oberfläche eine Welt von Ereignissen. Die in den Tiefen dieser Welt wirksamen politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen sind als Filmbilder direkt kaum darstellbar und werden nur indirekt sichtbar in den Motiven, Verhaltensweisen, Konfliktlösungsstrategien und sozialen Beziehungen der Akteure. Der historische Spielfilm hat jedenfalls das Potenzial, solche Tiefenschichten der Ereignisse zu zeigen, er nutzt es nur nicht immer (→ Kap. 2.2.1 und 2.2.2).
Tatsächliche Geschichte und szenisch erzählte Geschichte
Der szenische Geschichtsfilm hebt die zeitliche Distanz zwischen Ereignis und Erzählung auf, lässt Ereignis und Erzählung zusammenfallen: Die Vergangenheit ereignet sich als filmische Gegenwart. Eine historische Lebenswelt erscheint auf der Leinwand, in der auch Dinge sichtbar werden, die mit Quellen nicht zu belegen sind (wie z.B. Mimik und Gestik der handelnden Personen, ihre Positionierung und Bewegung im Raum etc.) und die in jeder geschichtswissenschaftlichen Darstellung eine Blackbox sind. Durch die Visualisierung des Unbekannten wird die erzählte Welt bestenfalls zu einer von vielen möglichen Welten, die plausibel, aber nicht belegbar sind (zur „Theorie der möglichen Welten“ siehe [26]Bietz 2013, 182ff.). Die meisten szenischen Geschichtsfilme legen es aber auch gar nicht darauf an, Geschichte durchgängig faktengetreu zu erzählen. Sie nutzen im Gegenteil die Gelegenheit, in ihre erzählte historische Welt auch Personen und Ereignisse einzubauen, die in der tatsächlichen Welt keine Entsprechung haben. Es entstehen so fiktive Ereignisse mit fiktiven (oder auch historischen) Personen, Schauplätzen und Handlungsabläufen, wie beispielsweise im Film „Die Himmelsleiter“. Wenn sich die Erzählung dabei an die Gesetze der Logik und Kausalität hält, die Personen plausibel agieren und die Ereignisabläufe konzise erzählt werden, können auch fiktive Personen und Ereignisse glaubwürdig sein und als historisch mögliche Ereignisse auf Akzeptanz beim Publikum stoßen. Zumal dann, wenn der Erzähler, wie im Film „Die Himmelsleiter“, immer wieder verbal, durch Texteinblendungen oder dokumentarische Bilder und Töne darauf hinweist, dass seiner Erzählung tatsächliche Begebenheiten zugrunde liegen. Allerdings erweisen sich manche erzählerischen Legitimationsstrategien, der erzählten Geschichte historische Glaubwürdigkeit zuzusprechen, als erzählerische Tricks. So spricht beispielsweise am Beginn des Films „Die Himmelsleiter“ die Protagonistin aus dem Off zum Publikum und behauptet, dass ‚ihre‘ Erzählung von der im Film sichtbaren Stadt ‚Köln‘ und den dort lebenden Menschen das tatsächliche Köln des Jahres 1947 zeige. Doch dies bleibt bei näherem Hinsehen eine leere Behauptung, denn die Protagonistin ist selbst gar keine historisch belegte Person aus dem tatsächlichen Köln des Jahres 1947, sondern eine rein fiktive Person, die nur im erzählten Köln zu Hause ist. Dessen ungeachtet erweisen sich aber auch die fiktive Protagonistin Anna Roth und ihr fiktiver Antagonist, der umtriebige NS-Wendehals Armin Zettler, als glaubwürdige Akteure, weil ihre Lebenswelten und ihre Problemlagen durchaus typisch sind für die Wiederaufbaugesellschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Personen und Ereignisse des Films „Die Himmelsleiter“ befinden sich noch im Erinnerungshorizont der Zuschauer. Sie haben die Zeit selbst erlebt oder von Familienmitgliedern darüber einiges gehört. Das Thema ‚Nachkriegszeit‘ ist also noch Teil der kollektiven Erinnerung und des gesellschaftlichen Diskurses. Wir nennen solche zeitgeschichtlichen Spielfilme im weiteren Verlauf des Buches ‚szenische Erinnerungsfilme‘ und grenzen sie ab von den ‚szenischen HistorienfilmenSzenischer Historienfilme‘, in denen die erzählte Zeit außerhalb des Erinnerungshorizonts des Publikums liegt (zum Beispiel das Mittelalter oder die Antike). Näheres zu dieser Unterscheidung findet sich in den folgenden Kapiteln.
Darstellen versus Erzählen – Szenische gegen dokumentarische Geschichtsfilme?
Neben der szenischen Darstellung von Geschichte steht der dokumentarische Geschichtsfilm.
[27]Infobox
Szenische Darstellung und verbales Erzählen
Die Unterscheidung von szenischer Darstellung (Mimesis) und verbalem Erzählen (Diegese) ist Teil einer lang anhaltenden erzähltheoretischen Debatte, die in den 1920er Jahren ihren Anfang nahm und teilweise bis heute andauert (näheres bei Bietz 2013, 38ff.). Dabei ging es zunächst um den Unterschied zwischen visueller Weltdarstellung im Film und literarischer Weltdarstellung im Roman, also um die Verwendung unterschiedlicher Zeichensysteme: Der Film verwendet Bild-Zeichen, die Lebenswelten sichtbar machen, die sprachliche Erzählung benutzt dagegen Wort-Zeichen, die Lebenswelten repräsentieren. Setzt man die Bild-Zeichen zu bewegten Bildern zusammen, entstehen ‚lebendige‘ Szenen, die z.B. konkrete Menschen an konkreten Schauplätzen zeigen. Die raumzeitlichen Bild-Zeichen des Films stehen also in einem engen optischen Bezug zur raumzeitlich verfassten tatsächlichen Welt. Ein im Film-Bild sichtbares Hochhaus zum Beispiel hat im Prinzip dasselbe Aussehen wie ein Hochhaus, das außerhalb der filmischen Welt, etwa in einer Stadt, zu sehen ist. Demgegenüber ist ein in einer Erzählung auftauchendes Hochhaus kein konkretes Bild-Zeichen, sondern ein abstraktes Wort-Zeichen. Das H-o-c-h-h-a-u-s in der Erzählung hat keinerlei optische Ähnlichkeit mit dem Hochhaus in einer Straßenschlucht. Das Wort H-o-c-h-h-a-u-s macht dieses nicht sichtbar, sondern nur lesbar, es bildet dies nicht ab, sondern es benennt es. Der Leser macht dann dieses Schrift-Zeichen wieder ‚sichtbar‘, indem er ihm ein passendes Bild-Zeichen zuordnet.
Es waren vor allem die Filmwissenschaftler, die aus zeichentheoretischen Gründen die filmische Visualisierung der literarischen Erzählung gegenüberstellten. Unmittelbares Darstellen von Lebenswelten im Film (Mimesis) stand gegen mittelbares Erzählen von Lebenswelten im literarischen Text (Diegese). Es zeigt sich aber, dass auch im Film selbst ein Gegensatz zwischen unmittelbarer Darstellung und mittelbarer Erzählung existiert. Denn sowohl der Spielfilm als auch die Dokumentation konstruieren zwar audiovisuelle Welten, doch unterscheiden sie sich in den Erzählmodi. Der szenische Geschichtsfilm ist bemüht, ohne einen verbalen Erzähler auszukommen, der dokumentarische Geschichtsfilm benötigt ihn dagegen dringend. Aber dieser Unterschied besteht nur graduell. Das Doku-DramaDoku-Drama ist eine hybride audiovisuelle ErzählformHybride Erzählformen, bei der dramatische Lebenssituationen historischer Personen (meist) der Zeitgeschichte in einer ausgewogenen Mischung aus szenischem Spiel und dokumentarischer Darstellung vergegenwärtigt werden.Denn es gibt durchaus szenische Geschichtsfilme, in denen ein (außerfilmischer) verbaler Erzähler eine wichtige Rolle spielt, während es umgekehrt dokumentarische Geschichtsfilme gibt, in denen der verbale ErzählerVerbaler Erzähler sehr zurückhaltend agiert und stattdessen leibhaftige Erzähler aus der tatsächlichen Gegenwartswelt die Geschichte vorantreiben. Beide Formen können also dicht aneinander heranrücken oder sogar miteinander verschmelzen, wie das Doku-DramaDoku-Drama zeigt, bei dem showing und telling ineinander übergehen. Verbales [28]Erzählen ist also bei genauer Betrachtung ein Mittelding zwischen filmischem und literarischem Erzählen, weil es einerseits ‚Worte‘ benutzt und insofern sprachliche und nicht visuelle Zeichen verwendet, andererseits folgt es aber dem Prinzip der Mündlichkeit, ist ein stimmsprachliches, hörbares und kein literarisches, buchstäbliches Erzählen. Das stimmsprachliche Erzählen ist seit der Erfindung des Tonfilms aber ein ganz selbstverständlicher Teil des audiovisuellen filmischen Erzählens. Allerdings ist trotz mancher Gemeinsamkeiten und Überlappungen beim szenischen und dokumentarischen Geschichtsfilm doch festzuhalten, dass der dokumentarische Film in der Regel dem telling und der szenische Film dem showing näher steht.
Eine Sonderrolle spielt der klassische ‚Dokumentarfilm‘, der meist Spielfilmlänge hat und Menschen bzw. Ereignisse der gegenwärtigen tatsächlichen Welt zeigt, ohne dass dabei ein verbaler ErzählerVerbaler Erzähler zu Wort kommt. Wie der Spielfilm, so erzählt sich also auch der klassische Dokumentarfilm scheinbar selbst. Es gibt allerdings auch einige Ausnahmen, insbesondere wenn es im Dokumentarfilm um historische Themen geht. Dann setzen auch viele Dokumentarfilmer auf einen verbalen Erzähler, der die historischen Zusammenhänge verdeutlicht.