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Beginnen wir mit einem Beispiel, dem Doku-DramaDoku-Drama „Flick“ (Arte/ARD 2010) (Abb. 1), und betrachten wir zunächst den Anfang des Films: Bild und Ton blenden auf: Auf der visuellen Ebene erscheinen seltene Archivbilder eines Mannes aus dem Jahr 1969, Filmaufnahmen des 86-jährigen Großindustriellen Friedrich Flick, der allein auf der Konstanzer Seestraße spazieren geht. Die Trickkamera springt in einer Montage an die Archivaufnahmen (Fotos und Filme) heran, zeigt den Protagonisten in Großaufnahme, entfernt sich wieder, kommt erneut näher usw. Es entsteht ein ‚verwackeltes‘, sprunghaftes Bild von Flick. Auf der auditiven Ebene beginnt der Film mit Musik, die sich dem SchnittSchnittrhythmus anpasst, und auf die das Voice-OverVoice-Over eines verbalen Erzählers geblendet wird. Er ist kein innerfilmischer Erzähler, sondern ein unsichtbarer außerfilmischer Erzähler. Er beginnt seine Erzählung mit der Nennung von Ort, Zeit und Person und authentifiziert so das Archivmaterial auf der visuellen Ebene: „Konstanz 1969. Seltene Aufnahmen von einem der umstrittensten Männer Deutschlands. Friedrich Flick, Unternehmer und Multimilliardär.“ Das Voice-OverVoice-Over verstärkt das unstete Bildergemisch durch den Hinweis, dass Flick einer der „umstrittensten“ Männer Deutschlands sei. Diese Divergenz unterstreichen mehrere knappe Statements von ZeitzeugenZeitzeugen und Flick-Forschern in Bild und Ton: „Er war ein Genie“ (Otto Kaletsch, Patensohn Flicks), „Das war ein brillanter Kenner, ein unglaublich fleißiger Mann“ (Eberhart von Brauchitsch, Generalbevollmächtigter Flicks), „Friedrich Flick ist sicherlich eine Ausnahmegestalt“ (Norbert Frei, Historiker), „Er war ein großer Manipulator“ (Tim Schanetzky, Historiker), „Man traute ihm eigentlich alles zu“ (Johannes Bähr, Historiker). Im Anschluss an die Statements folgt ein Bild-Ton-SchnittSchnitt in zeitlich noch weiter zurückführendes Archivmaterial: [29]Bilder der US-Wochenschau von 1946 zeigen Flick als Angeklagten vor dem Nürnberger Militärtribunal. Der Richter fragt ihn: „Friedrich Flick, how do you plead to this indictment? Guilty or not guilty?“ Flick antwortet: „Ich bin unschuldig.“ Auf ein grafisch gestaltetes Foto von Flick wird der Filmtitel geblendet: „Flick. Der Aufstieg.“

Abb. 1 DVD-Cover des Doku-Dramas „Flick“ (Arte/ARD 2010).
Der Film „Flick“ fokussiert von Beginn an den Protagonisten. Die visuelle Ebene zeigt ihn am selben Ort in unterschiedlichen Einstellungen. Die Bilder verstehen sich aber nicht von selbst, da weder Ort, Zeit noch Person den meisten Zuschauern gegenwärtig sind. Die Bildebene benötigt einen verbalen Erzähler, der den Bildinhalt erklärt. Der Voice-Over-Erzähler versteht sich dabei als ein populärer Erzähler, er geht nicht auf Distanz zu den Bildern, sondern baut mit ihnen erzählerische Spannung auf. Die Spannung wird durch die widersprüchlichen Statements von ausgewiesenen Flick-Kennern verstärkt und erreicht mit Flicks Auftritt vor dem Nürnberger Tribunal ihren Höhepunkt. Flick, als Kriegsverbrecher angeklagt, erklärt sich für „unschuldig“ – eine Selbsteinschätzung, die er, so lässt der Filmanfang vermuten, offensichtlich bis zu seinem Lebensende beibehält. Die unausgesprochene Botschaft des verbalen Erzählers an das Publikum lautet: Dieser Friedrich Flick ist eine tatsächliche historische Person, ein interessanter, umstrittener Mann, dessen audiovisuell erzählte Geschichte sich anzusehen lohnt (Flick 2010, Teil 1, TC: 00:11–01:05).
Tatsächliche Welt und erzählte Welt
Das Feld historischer Tatsachen ist das Metier der an Geschichte interessierten Dokumentarfilmer. Sie erzählen nur das, was sich durch Quellen belegen lässt. Ihnen ist auch nicht daran gelegen, in der dokumentarischen Erzählung die zeitliche Distanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufzuheben. Im Gegenteil, die Dokumentarfilmer wollen die Vergangenheit nicht filmisch inszenieren, sondern dokumentarisch von ihr erzählen. Dabei müssen sie zwei Probleme lösen. Das erste Problem ist ein narratives. Die Erzähler müssen eine erzählerische Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit bauen, sie müssen zwischen dem [30]Hier und Jetzt ihrer Erzählung und dem, „was damals passiert ist“, vermitteln. Das geschieht mit Hilfe von historischen Quellen, die in die dokumentarische Erzählung eingebaut werden. Als Überreste sind sie gegenwärtige Zeugnisse der Vergangenheit. Verwendet werden vor allem Bild-, Film- und Tonquellen aus der erzählten Zeit, die einen Eindruck vermitteln sollen, ‚wie es damals war‘. Eine große Rolle spielen aber auch ZeitzeugenZeitzeugen, die dem gegenwärtigen Publikum erzählen, was sie ‚damals‘ erlebt haben, und die so ebenfalls eine Brückenfunktion übernehmen (→ Kap. 2.3.2 und Kap. 3.7). Das zweite Problem ist ein Glaubwürdigkeitsproblem. Die dokumentarischen Erzähler müssen sicher stellen, dass ihrer Erzählung Vorgänge zugrunde liegen, die sich in der Vergangenheit tatsächlich ereignet haben, dass sie eine Tatsachenerzählung ist. Das geschieht auf ganz unterschiedliche Weise: Außerfilmisch wird durch das Label ‚Dokumentation‘ darauf aufmerksam gemacht, dass der Film sich auf tatsächliche Ereignisse und Sachverhalte bezieht; filmisch wird der verbale ErzählerVerbaler Erzähler als ein der historischen Wahrheit verpflichteter Erzähler etabliert, er ist in gewisser Weise nüchterner Historiker und ambitionierter Erzähler in einer Person; darüber hinaus sollen die vom Erzähler verwendeten visuellen, auditiven und verbalen Quellen (Film- und Tondokumente, ZeitzeugenZeitzeugen, ExpertenExpertenstatements) die AuthentizitätAuthentizität, authentisch, Authentifizierung der Erzählung belegen (→ Kap. 2.3.1).
Der verbale ErzählerVerbaler Erzähler
Charakteristikum des dokumentarischen Geschichtsfilms (Geschichtsdokumentation) ist der verbale ErzählerVerbaler Erzähler, der entweder sichtbar als ‚PresenterPresenter‘ bzw. ‚Moderator‘ auftritt oder unsichtbar als Voice-OverVoice-Over agiert. Hin und wieder tritt der verbale ErzählerVerbaler Erzähler auch in beiden Rollen auf. Ein Erzähler ist deswegen unverzichtbar, weil der dokumentarische Geschichtsfilm meist ein Konglomerat aus heterogenem Filmmaterial ist: Bild-, Film-, und Ton- und Textdokumente aus diversen Archiven in unterschiedlicher Qualität stehen nebeneinander. Dazu kommen neu gedrehte Aufnahmen von historischen Schauplätzen sowie ZeitzeugenZeitzeugen- und Expertenstatements. Vieles davon versteht sich nicht von selbst, sondern ist erklärungsbedürftig. Der verbale ErzählerVerbaler Erzähler hält das Material zusammen, nutzt es als Beleg für seine Erzählung, rückt es dicht an den Zuschauer heran oder hält es auf Distanz und fungiert bei alledem auch noch als Geschichtsexperte, der dafür einsteht, dass alles, was erzählt wird, tatsächlich auch passiert ist.
Die dokumentarische Erzählung
Die dokumentarische Erzählung sucht sich je nach Erzählinteresse und erwartetem Publikumszuspruch historische Personen, historische Schauplätze oder historische Ereignisse aus unterschiedlichen Geschichtsepochen als Erzählgegenstände. Die Auswahl treffen meist die für Geschichtssendungen zuständigen [31]FernsehredakteureRedakteur nach vorgegebenen Kriterien (→ Kap. 2.3 und 3.2). Als Tatsachenerzählung hält sich die dokumentarische Erzählung an die historischen Fakten. Der verbale ErzählerVerbaler Erzähler ist darum bemüht, die Erzählung so zu gestalten, dass eine spannende Geschichte entsteht (→ Kap. 3.3). Zugleich muss er streng darauf achten, dass er immer wieder Belege zur Hand hat, die seine Erzählung beglaubigen. Diese Belege müssen als Dokumente explizit kenntlich gemacht werden (verbal oder als Textinserts). Quellen, darunter vor allem alte Fotos und Filme, sind deshalb der audiovisuelle Rohstoff für dokumentarische Geschichtsfilme. Sie führen den heutigen Betrachter bis ins 20. und 19. Jahrhundert zurück, in die Zeit, als die Techniken zur Speicherung der Welt als Bilderwelt alltagstauglich waren. An Tonquellen stehen digitale Aufnahmen, Tonbänder, Schallplatten und einige wenige Wachswalzen zur Verfügung, die bis in die 1880er Jahre zurückreichen. Zeitlich noch weiter zurück führen Gemälde, Fresken, Skulpturen, Baudenkmäler und viele andere sichtbare Dokumente, die unseren Zeithorizont rückwärts in die Neuzeit, das Mittelalter und bis hin zu fernen antiken Welten erweitern. Die Zahl der Dokumente nimmt dabei allerdings immer mehr ab und damit auch die Möglichkeiten der AuthentifizierungAuthentizität, authentisch, Authentifizierung. Praktischerweise unterscheiden wir deshalb zwischen dokumentarischen Erinnerungsfilmen und dokumentarischen HistorienfilmenDokumentarischer Historienfilm. Die ErinnerungsfilmeErinnerungsfilme handeln von der Vergangenheit, die sich noch im Zeithorizont der Zeitgenossen befindet und etwa 80 bis 100 Jahre zurückreicht. Sie wurde erlebt und kann erinnert und erzählt werden. Das ist auch der Grund für die Anwesenheit vieler ZeitzeugenZeitzeugen in zeitgeschichtlichen Dokumentationen (→ Kap. 2.3.1). Die dokumentarischen HistorienfilmeDokumentarischer Historienfilm handeln hingegen von weiter zurückliegenden Epochen, für die es keine ZeitzeugenZeitzeugen mehr gibt, und denen es oftmals an Film-, Foto- und Tondokumenten fehlt. Für diese Epochen sind spezielle ErzählformErzählformen vonnöten, auf die an anderer Stelle genauer einzugehen ist (→ Kap. 2.3.2).
In der folgenden Tabelle sind die wichtigsten Aspekte des Kapitels grafisch zusammengefasst:
[32]Audiovisuelle Geschichte Szenische Erinnerungsfilme Szenische Historienfilme Dokumentarische Erinnerungsfilme Dokumentarische Historienfilme Erzählte Zeit Innerhalb des Erinnerungshorizonts der Zuschauer Außerhalb des Erinnerungshorizonts der Zuschauer Innerhalb des Erinnerungshorizonts der Zuschauer Außerhalb des Erinnerungshorizonts der Zuschauer Erzählmodus Unmittelbar darstellend (szenisches Spiel) Unmittelbar darstellend (szenisches Spiel) Mittelbar erzählend (Voice-OverVoice-Over) Mittelbar erzählend und unmittelbar darstellend (Voice-Over + Spielszenen) Verweise auf die tatsächliche Welt = AuthentifizierungAuthentizität, authentisch, Authentifizierung Voice-Over oder Textinserts im Vorspann – Szenenbild, Kostüme etc. Voice-Over oder Textinserts im Vorspann – Szenenbild, Kostüme etc. ArchivmaterialArchiv(film)material (Text, Bild, Film, Ton), ZeitzeugenZeitzeugen, ExpertenExperten Überreste, ExpertenExperten plus historisch-szenische Rekonstruktionen Erzählte Welt/tatsächliche Welt Erzählen von möglichen historischen Welten Erzählen von möglichen historischen Welten Erzählen von tatsächlichen historischen Welten Erzählen von tatsächlichen und möglichen historischen WeltenTab. 1
Szenische und dokumentarische Erinnerungsfilme sowie szenische und dokumentarische Historienfilme und ihre Charakteristika
Weiterführende Literatur
Arnold/Hömberg/Kinnebrock Arnold/Hömberg/Kinnebrock 2010: Klaus Arnold/Walter Hömberg/Susanne Kinnebrock (Hg.), Geschichtsjournalismus: zwischen Information und Inszenierung. Münster 2010.
Bietz 2013: Christoph Bietz, Die Geschichten der Nachrichten: Eine narratologische Analyse telemedialer Wirklichkeitskonstruktion. Trier 2013.
Bösch 2009: Frank Bösch, Der Nationalsozialismus im Dokumentarfilm: Geschichtsschreibung im Fernsehen, 1950–1990. In: Frank Bösch/Constantin Goschler (Hg.), Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft. Frankfurt a.M., New York 2009, 52–76.
Hißnauer/Schmidt 2012: Christian Hißnauer/Bernd Schmidt, Die Geschichte des Fernsehdokumentarismus in der Bundesrepublik Deutschland. Forschungsdefizite und Forschungstrends. Ein Überblick. URL:
Hohenberger/Keilbach 2003: Eva Hohenberger/Judith Keilbach (Hg.), Die Gegenwart der Vergangenheit: Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte. Berlin 2003.
Latour 2015: Jerome Latour, Gespräch mit Szenenbildner Jerome Latour. Zeitreise 1947. URL:
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