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Veyron schnaubte ungehalten und brachte Moore mit einer Geste zum Schweigen.
»Hören Sie mit diesem zusammenhangslosen Gequatsche auf, Moore! Erstatten Sie mir einen präzisen Bericht, bitte ohne Sentimentalitäten, wie Sie es gegenüber Ihrem Chefinspektor auch täten.«
Tom biss sich auf die Lippe. Es war Moore anzusehen, dass er die Zurechtweisungen Veyrons nicht mehr lange hinnehmen würde.
»Wie Sie meinen«, entgegnete der Inspektor, jetzt schon deutlich unfreundlicher im Ton. Pater Felton rutschte verlegen von einer Gesäßhälfte auf die andere.
»Vor zwei Wochen wurde eine junge Frau ins örtliche Krankenhaus gebracht. Es war draußen auf der Smalton Road, bei Congleton, wo diese durch ein Waldstück führt. Die junge Frau, sie nennt sich Julia - vermutlich osteuropäisch, so wie sie ihren Namen ausspricht – Iulia – ist aus diesem Wald aufgetaucht und einfach auf die Straße gerannt. Das war mitten in der Nacht, so gegen elf Uhr. Unglücklicher Weise war zum gleichen Zeitpunkt Roger Wetherlay mit seinem Auto unterwegs. Er hat sie noch rechtzeitig gesehen und eine Vollbremsung hingelegt, aber sie dennoch erwischt und sich eine Beule im Kotflügel eingefangen. Sie hat kurz nach dem Zusammenstoß das Bewusstsein verloren. Nachdem Wetherlay sofort den Rettungsdienst und die Polizei alarmiert hatte, wurde die junge Frau ins örtliche Krankenhaus gebracht und behandelt. Zum Glück nur ein paar Prellungen, nichts Ernstes«, berichtete Moore, nicht zur Gänze Veyrons Bitte entsprechend. Er wischte sich mit einem Taschentuch die schweißglänzende Stirn ab und fuhr dann fort.
»Wetherlay war vorbildlich langsam unterwegs, hat in allen Belangen richtig reagiert und die Unfallstelle ist aufgrund des dichten Strauchbewuchses am Straßenrand auch sehr unübersichtlich. Zudem war er sehr rührig und ehrlich betroffen. Es gibt für mich keinen Grund, gegen den armen Mann Anzeige zu erstatten.«
Veyron zuckte nur mit den Schultern. »Das ist alles ziemlich uninteressant und belanglos«, sagte er. »Warum sind Sie nun eigentlich hier? Der Weg von Congleton nach London ist ja kein Katzensprung und die Preise im Starrington Panorama Hotel sind nicht gerade billig.«
Moore schnappte überrascht nach Luft. »Wie können Sie wissen, dass wir dort unsere Zimmer haben?«, fragte er.
Veyron gestattete sich für einen Sekundenbruchteil ein triumphierendes Lächeln. »Ihr Taschentuch ist mit dem Logo der Starrington Panorama-Kette bedruckt. Da Sie durchgehend schwitzen – selbst jetzt – liegt es auf der Hand, dass Sie einen enormen Taschentuschverschleiß haben. Folglich kann das aktuelle Tuch nur aus dem Starrington Panorama London kommen, da es nirgendwo zwischen London und Edinburgh ein anderes Starrington Panorama gibt. Sie haben Ihren letzten Urlaub, der erst kurz zurückliegt, allerdings nicht in Schottland verbracht, sondern im Süden, Spanien oder Portugal würde ich sagen. Das erkenne ich an der Bräunung Ihrer Haut, besonders stark im Gesicht und im Nacken. Folglich bleibt nur das Hotel in London übrig.«
Moore warf einen fast schon schockierten Blick auf das Taschentuch und steckte es rasch in die Hosentasche. Er brauchte einen Moment, um den Faden wieder aufzunehmen.
»Das ist ja erstaunlich, nein wirklich. Echt erstaunlich. Nun ja, der Fall ist eigentlich dieser: Die junge Frau redet nur wirres Zeug. Sie fantasiert die ganze Zeit. Offenbar liegt dem ein schweres Trauma zugrunde. Darum hat das Krankenhaus Pater Felton hinzugezogen. Er arbeitet dort als Seelsorger.«
Nun ergriff der weißhaarige Pater das Wort.
»Auch ich konnte der jungen Frau nicht weiterhelfen. Wir wissen nicht, woher sie kommt. Sie ist furchtbar aufgeregt, hat fast vor allem Angst, selbst vor Straßenlaternen oder Fahrrädern. Sie hat sich vor den Ärzten auf den Boden geworfen, als wären sie der leibhaftige Messias. Auf der Straße hält sie sich die Ohren zu, im Krankenhausgebäude versteckt sie sich unter dem Bett, wenn ein Flugzeug über uns hinwegfliegt. Ich fürchte, sie hat den Verstand verloren. Uns wird wohl nichts anderes übrigbleiben, als sie in eine Anstalt zu bringen, wo man ihr helfen …«
»Kein einziges Irrenhaus in Großbritannien vermisst eine Frau, auf die ihre Beschreibung passt, es liegt nirgendwo eine Vermisstenanzeige vor, sie taucht auf keiner Fahndungsliste auf«, schaltete sich Moore wieder ein und würgte damit die Worte des Paters ab, der ihn daraufhin mit einem vorwurfsvollen Blick strafte.
»Deswegen hatte ich mit Gregson telefoniert. Sie wissen ja, die meisten Irren kommen aus Berlin oder Paris. Vielleicht war sie Opfer einer Entführung, ein Mädchenhandel vielleicht. Gregson weiß über solche Dinge eigentlich immer Bescheid. Ihr in London seid näher am Puls der Welt als wir oben in Congleton. Natürlich wollte Gregson mehr über den Fall erfahren, also schilderte ich ihm alles und …«
Nun gab der Pater das Kompliment zurück und fiel dem Inspektor ins Wort.
»Es gibt ein paar auffällige Wörter, welche unsere arme Miss ständig wiederholt: Simanui und Maresia. Sie sagt das immer wieder. Sie kommt aus Maresia und muss zu den Simanui«, versuchte er sein altes Thema wieder aufzugreifen.
Moore räusperte sich und musterte den Geistlichen scharf.
»Ist ja gut, Pater«, raunte er ungehalten. Er wandte sich wieder Veyron zu, der nicht nun nicht länger gelangweilt im Sessel lümmelte, sondern aufrecht und voller Anspannung dasaß. Tom erkannte, dass Veyrons Gehirn gerade zu Höchstleistungen warmlief.
»Als Gregson das hörte, schlug er vor, dass ich mich mit Ihnen treffen soll. Sie könnten mir weiterhelfen. Also, wie sehen Sie die Lage? Glauben Sie, Sie können dieses Mysterium aufklären?«, endete Moore und warf dem Monster-Ermittler einen ratlosen Blick zu.
Veyron legte die Fingerspitzen aneinander und schloss kurz die Augen. Blitzartig sprang er aus dem Sessel und begann hastig im Wohnzimmer auf und ab zu gehen.
»Zwei Wochen! Da haben Sie tatsächlich ganze zwei Wochen vertrödelt, ehe Sie zu mir kamen? Du liebe Zeit, nur selten habe ich solche Nachlässigkeit erlebt«, hielt er den beiden Herren in strengem Tonfall vor.
»Ich nehme an, die Lady befindet sich in Ihrer Begleitung? Lassen Sie sie bitte hereinrufen. Ich muss mich mit ihr unterhalten. Dann werde ich Ihnen sagen, woher sie kommt und wer sie ist.«
Moore zückte ein Funkgerät und gab den beiden Constables Anweisungen durch. Nur kurze Zeit später klingelte es erneut an der Haustür. Tom eilte los. Sein Zorn auf Veyron war für den Moment verraucht. Die Aussicht, wieder in ein spannendes Abenteuer gezogen zu werden, ließ ihn vor Aufregung und Freude fast in die Luft springen. Er eilte den Flur hinunter, öffnete die Haustür und ließ die beiden Constables eintreten. In ihrer Begleitung befand sich eine junge Frau, vielleicht Anfang zwanzig, relativ schlank und wie Tom fand, auch recht hübsch. Sie hatte eine auffallend helle Haut trotz ihrer südländischen Herkunft. Zumindest ließen ihn das ihre dunklen Augen und das ebenso dunkle Haar vermuten. Sie trug es in einer altmodisch wirkenden Frisur aus winzigen Locken, am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden. Ihr Blick wirkte jedoch sehr verstört. Sie zuckte zusammen, als die Constables sie ins Haus schoben. Tom hatte sofort Mitleid mit ihr und begann, sich zu fragen, was für schreckliche Erlebnisse die arme Frau plagten. Hoffentlich konnte Veyron ihr helfen.
Er führte die Polizisten und die Frau ins Wohnzimmer und bedeutete ihnen, auf der Couch Platz zu nehmen. Aber die Constables bevorzugten es zu stehen. Sie nahmen Positionen am Fenster und an der Tür ein. Fürchteten sie etwa, die junge Frau könnte fliehen? Tom verstand dieses Misstrauen nicht. Ratlos, was sie tun sollte und was man mit ihr vorhatte, setzte sich die Frau auf das Sofa. Sie erschrak, als ein paar alte Federn in der Sitzauflage quietschten.
Veyron Swift wirbelte zu ihr herum, als hätte ihn eine Wespe gestochen und musterte sie einen Moment eingehend. Dann wandte er sich an Pater Felton und Inspektor Moore.
»Was haben Sie in den vergangenen zwei Wochen mit der jungen Miss gemacht«, fragte er. Seine Stimme klang kalt und emotionslos, nur auf Wissen aus und enthielt keinerlei Anschuldigung.
»Nach dem Unfall blieb sie zunächst ein paar Tage im Krankenhaus, in der geschlossenen Abteilung und unter Bewachung. Ein paar Mal hat sie versucht zu fliehen, kam aber nicht weit. Draußen auf der Straße ist sie sofort wieder umgekehrt und ins Krankenhaus zurückgerannt. Der Verkehr machte ihr noch größere Angst, als Spritzen und Bandagen. Man hat sie mit Beruhigungsmitteln versorgt und ich habe zwei erfahrene Constables abgestellt, falls sie wieder zu fliehen versuchte. Ich werde sie einweisen lassen müssen, wenn wir nicht bald mehr über sie erfahren«, erklärte Moore.
»Sie behauptet, eine Art Prinzessin zu sein, die Tochter eines Cäsars, eine Nobilissima. Ich fürchte, um ihren Verstand ist es geschehen, vielleicht wegen des Unfalls. So was soll es doch durchaus geben«, mischte sich Felton wieder ein.
Veyron brachte beide Männer mit einem Handzeichen zum Schweigen.
»Vielen Dank für Ihre Ausführungen, Gentlemen«, sagte er. »Ihre Annahmen sind zutreffend – von Ihrem Standpunkt aus. Natürlich standen Ihnen nicht die Informationen zur Verfügung, über die ich verfüge. Anderenfalls hätten Sie beide Ihren Fehler sofort begriffen und erst gar nicht der Suggestion Inspektor Gregsons bedurft, um den Weg zu mir zu finden. Nun lassen Sie mich die Identität unseres Schützlings lüften.«
Er trat vor Iulia und verbeugte sich knapp. »Ich würde gerne einen Blick auf Eure Füße und Hände werfen, wenn Ihr es gestattet. Habt keine Angst, diese Untersuchung dient nur zu Demonstrationszwecken.«
Die junge Frau rümpfte die Nase, weil Veyron so nahe vor ihr stand, aber sie nickte dennoch.
»Ita«, sagte sie.
»Das ist Latein und heißt ja«, glaubte Felton kundtun zu müssen. »Ich hatte ganz vergessen zu erwähnen, dass sie lateinisch spricht, wenn sie schimpft oder betet, was sie oft tut. Sie bittet immer wieder Jupiter und Minerva um Beistand, vollkommen lächerlich. Ansonsten spricht sie ein sehr gutes Englisch, wenngleich mit einem Akzent, vielleicht südländischer Herkunft.«
Veyron bückte sich, nahm ihr rechtes Bein in seine Hände, schob die Hose zurück und schnüffelte an der glatten Haut auf. Er wiederholte das an ihren Händen und Unterarmen. Jeder konnte es hören. Tom war das oberpeinlich, wie auch allen anderen Anwesenden. Veyron trat zurück, erhob sich wieder und bedankte sich mit einem ehrfurchtsvollen Nicken bei der jungen Frau. Mit einem triumphierenden Lächeln wandte er sich wieder seinen anderen Gästen zu.
»Ganz eindeutig. Die junge Frau ist eine echte Prinzessin«, schlussfolgerte er.
Moore und Felton sprangen zugleich auf und protestierten.
»Das ist lächerlich! Woher wollen Sie so was wissen?«
Veyron seufzte. Er setzte sich wieder in seinen alten Ohrensessel und warf den beiden Gentlemen vorwurfsvolle Blicke zu. Etwas beschämt ob ihres Ausbruchs, setzten sie sich wieder.
»Sie übersehen die Fakten, Inspektor, Sie ebenso, mein lieber Pater. Zunächst einmal sind da ihre Hände. Perfekt manikürte Fingernägel, die Handflächen weich, keine Narben, fast keine Hornhaut, keine Schwielen. Diese Hände tun nicht viel, es sind keine Arbeiterhände. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass unsere Klientin seit ihrer Jugend noch nie viel arbeiten musste. Außerdem hat sie zahlreiche helle Stellen an den Fingern, die auf das Tragen von Ringen hindeuten, großen und teuren Ringen. Sie stammt also aus bestem Hause, wurde seit jeher mit Schmuck verwöhnt, den sie gewohnt ist, ständig zu tragen. Wo ist der Schmuck abgeblieben?«
»Sie trug keinen Schmuck, als sie gefunden wurde«, ergänzte Moore.
Veyron nickte.
»Also hat sie ihn abgenommen, um ihre Identität zu verschleiern. Anhand des Schmucks hätte man sie ansonsten zu leicht identifizieren können. Das deutet nicht nur auf Kostbarkeiten hin, sondern auch auf Siegel- und Zeremonienringe. Sie muss also eine Person von herausragender Stellung sein – da wo sie herkommt, versteht sich.
Nun zu ihren Füßen. Dasselbe wie an den Händen. Sehr weiche Sohlen, kaum Hornhaut, manikürte Zehennägel. Ihre Füße tragen für gewöhnlich weiche Schuhe und Sandalen, keine engen Stiefel, auch keine Turnschuhe. Ihre Beine sind schlank, die Muskulatur weich. Sie betreibt also nur wenig Sport und überhaupt bewegt sie sich nicht allzu viel. Sie ist Reiterin; seit Kindheitstagen. Das verrät mir die O-Formung ihrer Beine, aber keine Sport- oder Jagdreiterin, wegen der etwas schwachen Muskulatur. Also benutzt sie ihr Pferd nur gelegentlich als Reisemittel, um von A nach B zu kommen. Diesen Luxus können sich nur Personen in gehobener Stellung leisten.
Zuletzt noch eine Analyse ihrer Haut. Sie ist sehr weich und sauber. Obwohl das meiste inzwischen abgewaschen wurde, konnte ich noch leichte Spuren von Honig und verschiedenen Duftölen ausmachen, die bei uns absolut unüblich sind. Auch das ein eigentlich unübersehbarer Hinweis darauf, dass Lady Iulia aus allerbestem Hause kommt. Sie ist eine Prinzessin, normalerweise von einer ganzen Schar Diener umschwärmt, die ihr alle Lasten abnehmen.
Ach ja, ich hatte Maresia vergessen. Nun, dieses Land können Sie gar nicht kennen, Pater. Es ist auf keiner Landkarte zu finden und auch in keinem Lexikon. Das Imperium Maresium liegt nämlich in Elderwelt.«
Moore und Felton sahen sich ratlos an. Ihren Mienen nach zu urteilen, waren sie sich darüber einig, dass Veyron sie zum Narren hielt. Moore sprach es auch aus.
Veyron zischte ungehalten und drückte mit den Fingern seine Augenlider zu.
»Halten Sie Inspektor Gregson für einen Idioten?«, fragte er Moore unwirsch.
»Natürlich nicht! Bill ist ein guter Mann. Der weiß, was er tut.«
»Halten Sie sich selbst für einen Idioten?«
»Jetzt werden Sie aber unverschämt!«
»Ja oder nein?«, Veyrons Strenge duldete kein Widerwort.
»Nein, natürlich nicht«, grummelte Moore.
»Wenn also Gregson kein Idiot ist und Sie auch nicht, wieso denken Sie dann, er hätte Sie zu einem Idioten geschickt?«
Moore schnappte nach Luft, doch er wusste nichts, was er darauf antworten könnte. Veyron sprang zornig aus seinem Sessel und marschierte mit forschem Schritt durchs Wohnzimmer.
»Gentlemen, ich muss Sie bitten, mir vollkommen zu vertrauen. Elderwelt ist ein Reich, das für die Augen der Menschen unsichtbar ist. Dennoch existiert es und ist keine Fantasie. Ich bin selbst schon dort gewesen und Tom ebenso. Wenn Sie immer noch Zweifel haben, rufen Sie Inspektor Gregson an und fragen sie ihn. Er wird es bestätigen.«
Moore und Felton waren ganz kleinlaut geworden. Tom empfand eine gewisse Genugtuung, denn natürlich sprach sein Pate die Wahrheit.
Veyron hatte sich inzwischen wieder Iulia zugewandt und überließ die beiden Gentlemen ihren eigenen Gedanken.
»Prinzessin, entschuldigt, dass ich mich erst jetzt vorstelle. Ich bin Veyron Swift, Berater für ungewöhnliche Fälle. Ich bin ein Freund der Elbenkönigin Girian und ebenso des Zaubererordens der Simanui. Ihr müsst mir erzählen, was Euch hierher gebracht hat und warum Ihr die Simanui so verzweifelt sucht.«
Veyron setzte sich wieder in seinen Sessel.
Prinzessin Iulia, offenbar überglücklich, dass ihr endlich jemand Glauben schenkte, begann vor Freude fast zu weinen. Mit einem Schlag wich alle Verzweiflung aus ihrem Gesicht. Sie fiel auf die Knie und dankte den Göttern, dass ihre Gebete endlich erhört wurden. Die Polizisten und der Priester sahen sich nur überrascht an. Veyron lächelte vielsagend, Tom dagegen vor Erleichterung. Es brauchte ein paar Augenblicke, ehe Iulia sich wieder fasste, hinsetzte und mit ihrer Geschichte begann.
2. Kapitel: Iulias Geschichte
»Das Unglück verfolgt mich. Ich weiß gar nicht, wo es seinen Ursprung nahm. Schon immer hatte die kaiserliche Familie viele Gründe zum Trauern, doch so schlimm wie in den letzten vier Jahren war es nie zuvor. Ich fürchte um all meine Verwandten. Der Tod bedroht sie.
Wie Ihr vielleicht wisst, bin ich Iulia Livia, Tochter des Honorius Livius Caesar. Dort, wo ich herkomme nennt man mich nur Iulia, daher bitte ich Euch, es ebenfalls zu tun. Ich bin die Enkeltochter des Tirvinius Caesar Augustus. Er ist Kaiser des Imperium Maresium. Wir Maresier sind Abkömmlinge des legendären Römischen Reiches. Unsere Vorfahren gelangten in der Zeit Kaiser Neros nach Elderwelt, und bis heute hat sich die römische Lebensart in unserem Reich erhalten. Doch es war erst der vergöttlichte Illaurian, der unsere Stadt, Gloria Maresia, nach dem Vorbild Roms umbauen ließ und viele vergessene Sitten wiederbelebte. Mein Großvater ist sein Nachfolger als Augustus. Seither teil sich die kaiserliche Familie in zwei Zweige: die Aurelier, die ihre Abstammung direkt auf Illaurian zurückführen, und die Livier, die dem Haus meines Großvaters entspringen.«
Veyron hielt die Augen geschlossen, doch sein Gesicht verriet die tiefe Konzentration, in die er versunken war.
»Ich verstehe, dass Ihr sehr stolz auf Euren großen und edlen Stammbaum seid, Prinzessin. Bitte konzentriert Euch dennoch lediglich auf jene Elemente, die für das Problem, welches Euch plagt, von Bedeutung sind«, sagte er.
Die maresische Prinzessin nickte gehorsam.
»Wie Ihr wünscht. Der oberste der Aurelier war Talarius, der Neffe meines Großvaters und verheiratet mit Marcia Pelena, der Enkeltochter des vergöttlichten Illaurian. Den beiden wurden viele Kinder geschenkt: drei Töchter und drei Söhne, deren Ältester Nero Caesar ist.
Talarius und mein Vater Honorius verstanden sich prächtig. Sie waren wie Brüder, Talarius ein begabter Feldherr, mein Vater dagegen ein geschickter Redner. Keiner neidete dem anderen seinen Erfolg. So kamen sie auf die Idee, ihre ältesten Kinder miteinander zu vermählen, um die Verbindung der beiden kaiserlichen Familienzweige zu stärken. Wir waren erst vierzehn und kannten uns seit Kindheitstagen. Der junge Nero wurde mein Gemahl. Das liegt jetzt acht Jahre zurück.
Es hätte eine glückselige Zeit werden können, doch nur kurz nach unserer Hochzeit verstarb Talarius, von einem alten Neider feige vergiftet. Es war eine abscheuliche Tat; die Empörung im ganzen Imperium war immens. Talarius galt als ein Volksheld, der die wilden Barbaren aus Turanon im Norden erfolgreich bekämpft hatte. Umso entsetzlicher waren daher die Umstände seines Ablebens.«
Die Prinzessin machte eine kurze Pause und befeuchtete mit der Zunge ihre Lippen.
Tom eilte sofort in die Küche und holte ihr ein Glas Wasser. Ohne jeden Dank nahm sie es entgegen, schaute ihn dabei nicht einmal an. So was Unhöfliches hatte Tom bisher kaum erlebt. Er schüttelte den Kopf.
Iulia schien ihren Fehler zu bemerken.
»Verzeiht mir, junger Herr. Ich bin die Sklaven im Palast gewohnt, die einem alles reichen. Bitte nehmt meine Entschuldigung an«, sagte sie.
Veyron räusperte sich laut.
»Zurück zum Tod des Helden Talarius«, raunte er ungeduldig.
Iulia nickte und fuhr fort. »Um diese Zeit geschah es, dass wie aus dem Nichts Marcus Corvinus Consilianus auftauchte, ein junger Soldat der Prätorianergarde. Zunächst fiel er niemandem groß auf. Seine Herkunft war unbedeutend, der Sohn eines einfachen Eques, eines Mitglieds des Ritteradels. Doch es begab sich etwas, das ihn bis in die Spitze des Reiches beförderte. Durch einen seltsamen Zufall rettete er Großvater Tirvinius das Leben, als dieser während einer Reise in den Hinterhalt einer Räuberbande geriet. Aus Dank beförderte ihn Tirvinius in den Rang eines Gardepräfekten. Consilian gehörte fortan zum engsten Beraterkreis des Kaisers. Ich habe nie erlebt, dass einer seiner Ratschläge schlecht oder unklug gewesen wäre. Tirvinius begann immer öfter auf ihn zu hören und Consilians Einfluss wuchs beständig weiter.
Was für politisches Talent! Sogar der Senat, ansonsten der Streitsucht anheimgefallen, schenkte Consilian sein Vertrauen, so klug und weise wusste er Reden zu halten. Er war tüchtig, hatte mit Erlaubnis des Kaisers die gesamte Reichsverwaltung reformiert und sie effizienter gemacht. Die Einführung des kaiserlichen Verwaltungsamtes geht allein auf Consilian zurück.
Einem einzigen Mann war Consilian nichtsdestotrotz ein Dorn im Auge: meinem Vater. Honorius fühlte sich zurückgesetzt und es störte ihn sehr, dass ein einfaches Mitglied des Ritterstandes größeren Einfluss am Hofe genoss als der leibliche Erbe des Augustus.«
Veyron hob interessiert die Augenbrauen, als er all das hörte.
»Aha, ein zweiter Seian«, erkannte er.
Iulia schüttelte aufgebracht den Kopf.
»Ihr könnt Consilian nicht mit dieser Gestalt unserer Ahnen vergleichen. Seianus war ein vom Ehrgeiz angetriebener Verräter und Mörder, aber Consilian ist bescheiden, weise und gütig. Er hat noch nie irgendetwas für sich verlangt. Das Amt als Präfekt der Garde wurde ihm vom Kaiser verliehen, ohne dass er sich darum beworben hätte. Consilian arbeitet allein zum Wohl des Reiches«, verteidigte Iulia den Mann.
Veyron nickte. »Ich verstehe«, behauptete er. Ein spitzbübisches Lächeln huschte über seine dünnen Lippen.
»Ich nehme an, Euer Vater ist schließlich ebenfalls durch ein Unglück ums Leben gekommen?«
Iulia rang erschrocken nach Luft, ihr Gesicht wurde blass. Tom glaubte, die vielen, widerstreitenden Gefühle der jungen Frau deutlich zu erkennen.
»Woher wisst Ihr das?«, schnappte sie.
Veyron zuckte nur mit den Schultern.
»Lediglich eine Vermutung, Prinzessin. Des Weiteren vermute ich, dass der Tod Eures Vaters bis heute noch nicht aufgeklärt wurde.«
»Bei Juno, genauso ist es geschehen. Aber das war noch längst nicht alles.« Ein Hauch von Furcht schwang in ihrer Stimme mit.
»Es ist jetzt fünf Jahre her, dass mein Vater starb. Erneut war die Trauer groß im ganzen Reich. Großvater Tirvinius traf der Tod seines einzigen leiblichen Kindes besonders schwer. Er hat sich auf eine einsame Insel zurückgezogen und seither keinen Fuß mehr in die Hauptstadt gesetzt. Doch das Leben ging weiter. Mein junger Gemahl, Nero Caesar, war der Nächste in der Thronfolge. Das Volk feierte seine Adoption durch den Augustus.«
Veyron schmunzelte, als er das hörte. Er rieb sich die Hände und bedachte Iulia mit einem wissenden Blick. Tom hätte wetten können, dass Veyron längst in der Lage war, das weitere Geschehen genau vorauszusagen.
»Consilians Einfluss beim Kaiser wurde nach dem Tod Eures Vaters noch größer. Das Verhältnis zwischen dem Augustus und seinen neuen Erben verschlechterte sich deshalb«, sagte er.
Iulia nickte, den Kopf beschämt zur Seite gedreht.
»So war es. Ihr könnt Gedanken lesen, Meister«, rief sie.
Veyron lächelte in sich hinein. Mit einem Wink seiner Hand, forderte er Iulia auf, fortzufahren. Die Prinzessin leistete dem gehorsam Folge.
»Marcia Pelena war nun die Herrin des Hauses der Aurelier, überaus stolz darauf, vom direkten Blute Illaurians abzustammen. Sie ist streng, gebieterisch und in Philosophie zeigt sie sich ebenso bewandert wie in Politik. Sie diskutiert mit Senatoren und Philosophen, beherrscht mehrere Sprachen fließend und ist eine ausdauernde Sportlerin. Sie kann sogar mit Schwert und Speer umgehen. Manchmal benimmt sie sich wie eine Amazone, führte sogar einmal eine Legion in die Schlacht. Für eine maresische Fürstin ziemt sich ein solches Verhalten jedoch nicht.
Dieser Stolz nahm weiter zu, nachdem Talarius verstorben war. Ihr gefiel der wachsende Einfluss Consilians nicht, und sie fürchtete, Tirvinius könnte ihn ihren drei Söhnen vorziehen. Daher sprach sie bei zahlreichen Gelegenheiten gegen Consilian und hetzte ihre Söhne gegen den wichtigsten Ratgeber des Augustus auf.
Consilian begegnete diesen Anschuldigungen mit Gleichmut. Bei keiner einzigen Gelegenheit verteidigte er sich, sondern überließ allein dem Senat oder seinem Herrn die Entscheidung. Beispielhaft, wie es jeder Beamte sein sollte, erfüllte er seine Pflicht als Verwalter des Reichs, befolgte loyal die Gesetze und Anweisungen des Augustus. Ich sagte ja schon, einen vorbildlicheren und selbstloseren Politiker hat das Imperium noch nicht erlebt. Natürlich erntete er dafür Hass, ebenso mein Großvater.
Nero begann, böse Reden gegen Consilian zu halten. Vor dem Senat stellte er die Entscheidung meines Großvaters infrage. Das war eine Erniedrigung des Kaisers, und das in aller Öffentlichkeit. Ich war entsetzt, denn selbst mir gegenüber wollte sich Nero nicht zusammen reißen. Er nannte meinen Großvater einen Narren, der auf beiden Augen blind sei. Consilian, den bravsten aller Bürger und tüchtigsten aller Politiker, hieß er einen Verräter und Mörder. Ich war fassungslos, Meister Swift, schlichtweg fassungslos.«