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Veyron kniff die Augen kurz zusammen. Iulia atmete mehrmals tief durch, rang um Fassung. Die vergangenen Ereignisse nahmen sie immer noch mit. Tom fürchtete, sie könnte jeden Moment ohnmächtig zusammenbrechen.
»Also habt Ihr Euch jemanden anvertraut«, erkannte Veyron. Tom konnte aus dem Gesicht seines Paten ablesen, dass dieser schon viel weiter dachte. Veyron wusste bereits, was geschehen war noch ehe die Prinzessin davon berichtete.
»Was hätte ich tun sollen? Was Nero da tat, war Hochverrat. Er meinte sogar, dass es klug wäre, mit aller Gewalt gegen Consilian vorzugehen. Er hoffte, er könne den Senat gegen diesen Mann aufbringen. Ich hatte keine Wahl, ich musste jemanden davon erzählen. Ein Blutbad stand zu befürchten und ich wusste nicht, was in meinen Mann gefahren war. Nero war immer so ein netter und guter Mensch gewesen, mit dem Herz eines Künstlers und dem Verstand eines Philosophen. Für Politik oder das Militär hatte er sich nie viel interessiert. Doch jetzt schien er mir wie ausgewechselt, ein Intrigant und Usurpator!
Also erzählte ich meiner Mutter davon, und sie wiederum vertraute sich Consilian an. An ihn konnte sie sich stets wenden, seit mein Vater verstorben war, auch davor zog sie ihn schon des Öfteren ins Vertrauen. Er ist ein meisterhafter Zuhörer, voller Verständnis und weiser Ratschläge. Nie hat er dafür einen Gefallen erbeten, ein wahrer Ritter, wenn Ihr versteht was ich meine.«
»Consilian hat – als Ehrenmann – natürlich keine Anklage erhoben, sondern die Entscheidung dem Augustus und dem Senat überlassen«, schlussfolgerte Veyron. Iulia bestätigte das.
»Ich sehe, Ihr beginnt, Consilian zu begreifen. Was für ein anständiger Mensch er doch ist. Es wäre sein gutes Recht gewesen, vor dem Senat Anklage gegen diese Verleumdungen zu erheben; vom Verrat am Augustus ganz zu schweigen.
Mein Großvater war nicht so nachsichtig. Er erhob Anklage und fällte auch das Urteil. Verbannung aus der Hauptstadt und Kerker auf Loca Inferna, der schrecklichsten Insel im ganzen Reich. Ich versichere Euch, das wollte ich nicht. Zwei Jahre ist das jetzt her, solange ist der arme Nero schon in jenem schrecklichen Gefängnis eingekerkert. Was habe ich nur getan? Was ist, wenn er dort stirbt noch bevor ihm vergeben wurde? Es heißt, sie lassen ihre Gefangenen dort verhungern. Ich weiß nicht, ob ich mir das jemals verzeihen kann.«
Iulia wirkte regelrecht verzweifelt, biss sich in die Fingernägel. Sie zitterte am ganzen Körper.
Veyron blieb natürlich davon gänzlich ungerührt.
»Die Ehe mit Nero wurde natürlich umgehend geschieden.«
Iulia nickte stumm. Es brauchte einen Moment, ehe sie wieder Worte fand.
»Er wurde aus der Thronfolge ausgeschlossen und verstoßen. Sein jüngerer Bruder, Claudius Caesar, empörte sich gegen den Ratschluss des Augustus und erhob Anklage gegen Consilian, den er als gemeinen Verschwörer bezeichnete. Das erregte ebenfalls den Zorn des Augustus. Mein Großvater ließ nun auch den Claudius verhaften und in den Stadtkerker sperren. Dort sollte er bleiben, bis er wieder zu Verstand käme. Dieses Urteil erschien mir zu hart, viel zu hart. Zusammen mit ihren ältesten Söhnen wurde dann auch noch Marcia Pelena verbannt und ins Exil geschickt. Mein Großvater war ihres stolzen Gehabes schon lange überdrüssig. Sie war einfach zu ehrgeizig und ihr Einfluss auf ihre Söhne verderblich gewesen.
Mir tut es vor allem um Nero leid. Ich verstehe immer noch nicht, wie er sich zu solch einem abscheulichen Verhalten hinreißen lassen konnte.«
Tom fand die ganze Erzählung dramatisch und traurig. Er mochte sich gar nicht ausmalen, welche Qualen die beiden jungen Prinzen in den schrecklichen Verliesen litten. Veyron allerdings schmunzelte. Tom fand das nicht nur absolut unpassend, sondern obendrein geschmacklos. Veyron sollte sich ruhig was schämen.
»Ich nehme jedoch nicht an, dass Prinz Neros sonderbares Verhalten der Grund dafür ist, dass Ihr die gefährliche Reise von Maresia nach Fernwelt unternommen habt, um dort die Simanui zu finden«, meinte Veyron schließlich.
Iulia verneinte das. »Es war gar nicht meine Absicht gewesen, überhaupt nach Fernwelt zu gelangen. Schuld daran ist die alte Ennia, meine Großmutter mütterlicherseits«, erklärte sie.
»Eines Abends verlangte sie nach mir. Sie ließ mir bestellen, sie hätte dringende Angelegenheiten mit mir zu besprechen und wollte nicht, dass meine Mutter oder Consilian von unserem Treffen erfuhren. Ich fand dieses geheimnisvolle Getue albern, aber Ennia war eine Nichte des vergöttlichten Illaurian, ich schuldete ihr also Gehorsam, selbst ihren Schrullen gegenüber. Sie ist nicht mehr die Jüngste, wenn Ihr versteht worauf ich hinaus will.
›Ah, Iulia, gut, dass du kommst. Wir haben wichtige Dinge zu bereden, die keinerlei Aufschub dulden. Zulange habe ich geschwiegen, doch jetzt, wo die Familie der Aurelier darnieder liegt, muss ich mein Schweigen brechen‹, begrüßte sie mich. Mir fiel auf, dass sie in ihren Räumen alle Vorhänge zugezogen und die Fenster geschlossen hatte. Niemand sollte uns sehen. Sie hatte sogar alle Sklaven nach draußen geschickt, wir waren vollkommen allein.
›Sicher hast du bereits von den neuen Morden unter dem Senatorenadel gehört?‹, fragte sie mich. Ich hatte durchaus davon gehört; jeder in Gloria Maresia wusste davon. Fünf Senatoren waren in den letzten Wochen auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen. Die Vigiles, die Stadtpolizei, sprach von Todesfällen, aber nicht von Morden. Das sagte ich ihr auch, aber Ennia lächelte nur hämisch und winkte ab.
›Es sind Morde, das versichere ich dir. Ich habe mit dem Präfekten Lucius Antoninus gesprochen. Weißt du, wie die Senatoren ums Leben gekommen sind, Marcus Blasius, Gaius Gilbadius und die anderen drei? Sie wurden versteinert!‹
Natürlich wusste ich das bereits. Aber mir wollte beim besten Willen niemand einfallen, der in der Lage war, einen Menschen zu versteinern. Würde ein Mörder nicht jemanden einfach erstechen oder erdrosseln? Dann holte Ennia plötzlich eine kleine Figur unter ihrer Tunika hervor. Es war ein kleines, kunstvoll gestaltetes Gorgonenhaupt, gemacht aus weißem Marmor, mit vergoldeten Schlangenhaaren.
›Der Orden der Medusa, so nennen sie sich. Es ist eine professionelle Mörderbande. Schon seit Jahren schlagen sie immer wieder vereinzelt zu und hinterlassen bei jedem ihrer Opfer ein solches Gorgonenhaupt. Schon lange haben sie unsere Familie im Auge. Wir sind alle in Gefahr, Iulia, Aurelier wie Livier. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der Orden der Medusa erneut zuschlägt und einen von uns erwischt‹, erklärte meine Großmutter. Sie klang ganz gefasst, überhaupt nicht aufgeregt oder verängstigt. Da wusste ich, dass sie es absolut ernst meinte.
›Aber wer steckt dahinter‹, fragte ich.
Ennia lachte kurz auf, offenbar amüsiert ob meiner Ratlosigkeit.
›Eine uralte und böse Macht, mein Kind. Uralt und den Menschen feindlich gesonnen. Allein Medusa ist in der Lage Menschen in Statuen zu verwandeln. Sie will Rache an uns nehmen, an jedem Menschen. Mit dieser Gefahr können wir nicht fertig werden, nicht mit Medusa, der Gorgonenkönigin. Wir brauchen die Simanui. Jemand von uns muss sie um Beistand bitten. Ich aber bin zu alt dafür. Die Strapazen einer solchen Reise würde ich nicht überleben‹, sagte sie.
Ich schlug vor, sie solle doch einfach Boten aussenden, aber sie war sofort dagegen.
›Niemand außerhalb der Familie darf auf diese Reise gehen. Du musst das tun, Iulia. Ich kann weder deine Mutter noch deinen Onkel Livius schicken. Er ist ein Trottel, der viel zu viel herumschwätzt. Auch den jungen Gaius Aurelius, oder eine seiner Schwestern, wage ich nicht einzuweihen. Ich fürchte, dass sofort Verdacht auf sie fallen wird. Sie sind von aurelischem Blut und stehen unter Beobachtung. Deiner Mutter kann ich auch nicht mehr vertrauen, Consilian hat ihr Herz erobert.‹
Ich wurde sofort wütend, weil selbst Ennia in diese verächtliche Haltung gegenüber Maresias fähigstem Mann verfiel. Sofort verteidigte ich den Prokurator, aber Ennia wurde zornig. Der Ernst in ihrer Stimme ließ mich sofort wieder verstummen.
›Consilian ist nicht vertrauenswürdig! Ich verdächtige ihn, und das mit gutem Grund. Woher, denkst du, habe ich dieses Gorgonenhaupt? Glaubst du, es lag einfach vor meiner Haustür herum, oder ich habe es auf dem Markt gekauft? Nein, ich habe es aus Consilians Villa! Dort lag es, auf einem Tisch, einfach so!‹ Sie schrie beinahe und schüttelte ihre kleinen Fäuste.
Ich war zu erstaunt und schockiert, um etwas zu erwidern.
›Vielleicht hat der Orden der Medusa auch Consilian im Visier‹, versuchte ich eine andere Erklärung zu finden, denn dies erschien mir viel wahrscheinlicher als Ennias Paranoia. Sie litt selbst nach sieben Jahren noch immer unter dem vorzeitigen Tod ihres geliebten Sohnes Talarius. Auch die Verhaftungen von Pelena, Nero und Claudius hatten sie schwer mitgenommen. In jeder Ecke vermutete sie Verrat gegen das Haus der Aurelier. Ihr Zorn richtete sich dabei auf den armen Consilian.
Ich dagegen wusste, dass die erst kürzlich ermordeten Senatoren allesamt Freunde und Unterstützer Consilians waren. So war es für mich nur logisch, dass der Orden nach Consilians Leben trachtete. Aber mit Ennia brauchte ich das nicht zu erörtern.
›Ich gehe zu den Simanui, ich werde die alten Zaubermeister um Hilfe ersuchen, ganz so, wie du es wünschst‹, tat ich meinen Entschluss kund. Wenn Medusa und ihre Leute es schafften, selbst in Consilians Villa einzudringen und dort ihre Warnungen zu hinterlassen, dann war tatsächlich ganz Maresia in höchster Gefahr.
Ennia fiel mir sofort um den Hals, küsste mich auf die Stirn und begann, vor Freude zu weinen. Ich half ihr auf die nächste Liege. Sie beruhigte sich wieder.
›Du wirst mit nur wenigen Getreuen reisen können, deine Sklavinnen müssen zuhause bleiben. Du wirst erklären, dass du nach Neavenna reist, um dich ein paar Tage zu erholen. Ich gebe dir mein schnellstes Pferd und zwei treue Sklaven mit, die mir schon seit Jahrzehnten ohne jeden Tadel dienen. Lass eine deiner Freundinnen mit deiner Kutsche nach Neavenna fahren. Ich bin sicher, du findest eine, der du vertrauen kannst. Vielleicht weihst du sie besser gar nicht erst ein, sondern machst ihr diese Luxusreise einfach zum Geschenk. Danach begibst du dich nach Osten. über die Grünen Hügel hinweg, bis in das Hochland. Von dort zum Mons Coronus, dem höchsten Berg Maresias. Es ist eine Reise von drei Tagen, wenn du keine langen Pausen machst. Meine Sklaven kennen den Weg. Meide alle Herbergen, reise mit nur wenig Gepäck. Kleide dich einfach, du darfst kein Aufsehen erregen .Deinen Schmuck lass zurück, auch die Siegelringe. Meine Sklaven werden Proviant für eure Reise dabei haben.‹
Ich erkannte, dass sie alles bereits geplant und vorbereitet hatte. Darum willigte ich in ihre Anweisungen ein. Eigentlich mag ich keine Abenteuer und ihre Maßnahmen erschienen mir übertrieben verrückt. Doch die Aussicht, den Simanui zu begegnen, machte mich dennoch neugierig. Nur wenige Maresier hatten bislang die Ehre, diese edlen Zauberer zu sehen oder gar mit ihnen zu sprechen.
›Wie gelange ich zu den Simanui? Es heißt, sie leben auf einer fernen Insel im Meer, nicht im Norden‹, warf ich ein. Ennia nickte eifrig und erklärte, dass es in den Wäldern auf dem Mons Coronus ein Tor gäbe, durch das man sofort im Land der Simanui landen würde.
›Vor langer Zeit wurde es von einem uralten Zaubervolk geschaffen, den Illauri. Noch niemand aus Maresia ist jemals dort hindurch gegangen, aber ich habe lange Zeit Nachforschungen angestellt und bin überzeugt, dass dies der richtige Weg zu den Simanui ist. Meister Daring kam jedenfalls immer vom Mons Coronus herunter, wenn er unser Reich besuchte, auch wenn das jetzt siebzehn Jahre zurückliegt.‹
Ich war noch immer skeptisch, aber einverstanden. Es war ja nur eine Reise von drei Tagen. Zudem lag unser Ziel innerhalb sicherer Grenzen, was sollte da schon passieren?«
Während sich Veyron alle Details durch den Kopf gehen ließ, nippte Iulia ein weiteres Mal am Wasserglas. Felton und Moore saßen wie zwei brave Schuljungen auf der gegenüberliegenden Couch, während Tom neben der Prinzessin Platz genommen hatte und ihr gebannt zuhörte.
Die Pause dauerte Veyron offenbar zu lange. Darum machte er eine ungeduldige Geste mit der Hand.
Iulia fuhr fort.
»Zwei Tage später brachen wir auf, mitten in der Nacht und nur zu dritt: die Sklaven Titus und Ursus und ich selbst. Die Stadt ließen wir rasch hinter uns. Titus schlug den geraden Weg nach Norden ein. Zunächst folgten wir dem Lauf der Via Imperia, der großen Hauptstraße, doch sobald die Stadtmauern Gloria Maresias außer Sicht gerieten, wichen wir von der Straße ab und ritten querfeldein in Richtung Osten. Niemand schien uns bemerkt zu haben. Zur gleichen Zeit verließ meine Freundin Lucretia Bassia in meiner persönlichen Kutsche die Hauptstadt. Alle Welt sollte glauben, ich wäre es, die nach Neavenna reiste.
Wir schliefen nur wenig, und Titus gab den Rhythmus vor: alle drei Stunden eine Stunde Schlaf. Die beiden Sklaven waren hart im Nehmen, ihnen schien das zu reichen. Ich dagegen schlief mehrmals auf dem Pferd ein. Nicht nur einmal wäre ich beinahe aus dem Sattel gefallen.
Auch am darauffolgenden Morgen blieben wir auf unserer Reise unerkannt. Das lange Reiten war ich nicht gewohnt und mein Gesäß schmerzte bereits. Darum marschierten wir viele Stunden neben den Pferden. Erst später setzten wir unseren Ritt fort. Wir kamen auf diese Weise gut voran und schafften annähernd achtzig Meilen an unserem ersten Tag.
In der nächsten Nacht entdeckte Titus einen Reiter, der uns folgte. Gegen das Licht des Mondes konnten wir seine schlanke Statur erkennen. Es war eine Frau, daran bestand kein Zweifel, vielleicht nur eine Reisende wie wir. Als wir anhielten, um die Reiterin nach ihrem Weg zu fragen, stoppte sie ebenfalls und blieb in sicherer Entfernung. Titus kam dies sofort verdächtig vor, auch Ursus war vorsichtig. Wir beschlossen, diese Nacht durchzureiten und erst bei Tagesanbruch ein Lager aufzuschlagen. Wer war die Unbekannte, warum blieb sie auf Abstand? Fürchtete sie uns, oder sollten wir uns besser vor ihr fürchten?
Mit den ersten Sonnenstrahlen verschwand unsere Verfolgerin plötzlich. Wir gönnten uns etwas Ruhe, glaubten sie abgehängt zu haben. Mittags war sie jedoch wieder da, immer in Sichtweite, doch weit genug entfernt, um nicht mehr von ihr erkennen zu können. Sie trug einen weiten schwarzen Kapuzenmantel, darunter ein schwarzes, ledernes Gewand. Ihr Gesicht war durch einen dunklen Schleier verborgen. Das beflügelte unsere Ängste noch mehr. War es etwa die schreckliche Gorgone? Der ganze Plan Ennias war dahin, alle Heimlichkeit umsonst. Jetzt gab es nur noch eines: Wir mussten den Mons Coronus so schnell als möglich erreichen.«
Iulia legte eine weitere kurze Pause ein und rieb sich die Oberarme, als würde es sie frieren.
Veyron hörte ihr konzentriert und mit geschlossenen Augen zu. Tom konnte jedoch erkennen, wie sie hinter den Lidern hin und her sprangen und die rasenden Gedanken seines Paten verrieten.
»Bitte erzählt Eure Geschichte weiter, Hoheit«, forderte Veyron Iulia auf.
Die Prinzessin blinzelte erschrocken, als hätte er sie aus einem Traum geweckt.
»Verzeiht, Meister Swift. Aber mich erfüllt diese Verfolgerin noch immer mit Schaudern. Nun gut … Inzwischen hatten wir weitere zweihundert Meilen zurückgelegt, die Grünen Hügel lagen direkt vor uns. Es ist eine Kette von Hügeln, keiner sonderlich hoch, aber es sind annähernd fünfhundert, die sich, einem grünen Meer gleich, wie Wellen aneinanderreihen. Dahinter beginnen die ruhigen Gegenden Maresias, wo es kaum Städte gibt, dafür aber viel Ackerbau und Viehzucht. Selbst hier durchzieht die Via Imperia das Reich und riesige Aquädukte leiten Wasser in die wichtigsten Städte des Imperiums. Hinter diesen einfachen Ländereien liegt das Hochland. Dank unserer Verfolgerin wurden wir immer schneller, selbst die kurzen Schlafpausen ließen wir bald aus.
Als wir in der zweiten Nacht ein Lager aufschlugen, verzichteten wir auf ein Feuer und aßen unseren Proviant roh. Das hatte ich noch nie zuvor getan und ich hoffe, ich muss es auch niemals wieder. Eine Reise dieser Art ist nur etwas für Legionäre, aber nichts für jemanden aus dem Senatsadel – und für Frauen erst recht nicht. Mehr als einmal bedauerte ich jetzt, auf Ennias verrückten Plan eingegangen zu sein. Allein die Angst, unserer Verfolgerin in die Arme zu laufen, hielt mich von einer Umkehr ab.
Es war Titus, der schließlich den Plan ersann, unsere Verfolgerin anzugreifen. Er wollte unbedingt herausfinden, wer sie war und warum sie uns verfolgte. Von uns dreien glaubte er am wenigsten, dass es sich tatsächlich um die Medusa handelte, sondern er hielt sie für eine Dirne, die uns im Auftrag Consilians hinterher spionierte. Ursus war ganz seiner Meinung. Ich hatte deshalb keine andere Wahl, als den beiden Sklaven nachzugeben. Was hätte ich auch tun sollen? Meinen Widerworten wollten die beiden nicht Folge leisten. Sie beriefen sich auf Ennias Befehle, nur ihr allein schuldeten sie Gehorsam.
Also stellten wir unserer Verfolgerin eine Falle. Ich ritt allein mit den drei Pferden weiter, während sich Ursus und Titus im Unterholz versteckten, mit Zweigen und Laub getarnt. Wie erwartet zeigte sich unsere Gegnerin in sicherer Entfernung – und tatsächlich: Sie schluckte den Köder! Ursus und Titus warteten, bis sie auf ihrer Höhe vorbeiritt, dann sprangen die beiden aus ihrem Versteck und fielen über sie her. Ursus, ein Riese von einem Mann, packte ihr Pferd am Zaumzeug und hielt es fest, während Titus die Frau aus dem Sattel zerrte. Ich wendete und ritt so schnell ich konnte, um unsere Verfolgerin zu verhören, ehe die beiden Sklaven sie erschlugen.
Meine Sorgen verwandelten sich bald in schreckliche Furcht, denn unsere Verfolgerin war nicht einfach eine billige Dirne, die auf Geld und Abenteuer aus war. Sie war so stark wie Ursus und schneller als Titus. Mit bloßer Hand schmetterte sie die beiden zu Boden. Ich hielt im Galopp auf sie zu und wollte sie niederreiten. Doch die Fremde wirbelte blitzschnell herum und hob ihre Arme. Zwei schwarze Schlangen schossen aus ihren Ärmeln, giftige Vipern mit glühenden Augen. Die Pferde bäumten sich auf, wieherten voller Panik, ich konnte mich gerade noch festhalten. Fast wären die Gäule durchgegangen, aber Titus war sofort wieder auf den Beinen, fing die Leinen ein und beruhigte die Tiere. Ursus zog sein Schwert und erschlug die Vipern. Unsere Verfolgerin dagegen entkam in die Finsternis.
Nun hatten wir Gewissheit: niemand anderes als Medusa selbst war uns auf den Fersen. Wer sonst könnte Vipern nach einem schleudern? Ursus und Titus hatten sogar noch Glück, dass die Gorgone sie nicht versteinerte, sondern den Rückzug bevorzugte.
Titus war unglücklich wegen des Zeitverlusts, darum ritten wir den ganzen nächsten Tag so schnell wie es die Gesundheit unserer Pferde zuließ. Wir schafften an die hundert Meilen bis zum Sonnenuntergang und erreichten das Hochland, dort, wo nur noch vereinzelt Menschen lebten. Der Mons Coronus türmte sich vor uns auf.
Es wurde bereits finsterste Nacht, als wir die Hänge hinauftrabten. Der Weg schlängelte sich an der Seite des Berges hoch, überwuchert mit Gras und kleinen Sträuchern. Aber da wir eine sternenklare Nacht und obendrein Vollmond hatten, konnten wir genug erkennen und den Aufstieg wagen. Doch nun suchte uns das Unglück endgültig heim.
Auf einmal hörten wir lautes Heulen in der Ferne, wie Wolfsgeheul, nur dunkler und bösartiger. Es kam von unten aus dem Tal. Was wir zu sehen bekamen, ließ uns das Blut in den Adern gefrieren.
Acht gewaltige Bestien hielten von Norden her auf uns zu, jedes der Monster größer als ein Pferd. Es waren Fenriswölfe, schreckliche Ungeheuer. Ich kannte sie aus den alten Geschichten, die sich in den Tagen des Dunklen Meisters zugetragen hatten. Sie haben lange Schnauzen voller Reißzähne, runde, kleine Ohren und einen dicken, fleischigen Schwanz. Es heißt, dass die Barbaren im hohen Norden diese Kreaturen noch heute fürchten. Die Pferde bäumten sich auf. Wir bekamen ihre Angst zu spüren. Darum schlugen wir ihnen die Fersen in die Flanken und jagten weiter den Berg hinauf. Der dichte Wald weiter oben war der einzige Schutz vor diesen Bestien, auf den wir hoffen konnten.
Die Fenrisse kamen jedoch nicht allein, sondern trugen Reiter, jeder drei von ihnen. Einmal blickte ich mich um und erkannte, was sie waren: Schrate! Diese krummbeinigen, schiefgesichtigen Unholde mit ihrer krank aussehenden Haut, den fettigen Haaren und Rüstungen aus Stahl, Leder und Fell. Die geheimnisvolle Reiterin war verschwunden – von ihr war weit und breit nichts mehr zu sehen. Vielleicht hatte auch sie vor den angreifenden Fenrissen Reißaus genommen, oder sie hatte die Schrate überhaupt erst alarmiert und auf unsere Fährte geführt.
Die Fenrisse mochten nicht so schnell wie ein Pferd sein, aber sie waren ausdauernder und unsere Tiere waren ob der langen Reise erschöpft. Sie begannen bereits zu stolpern. Die Ungeheuer holten immer weiter auf. Da wendete Ursus plötzlich sein Pferd und stürmte den Schraten mit Gebrüll entgegen.
Titus fluchte und folgte ihm.
›In den Wald, Prinzessin, in den Wald! Findet das Tor der Simanui‹, rief er mir noch zu.
Ich erkannte, dass mir die beiden Zeit verschaffen wollten. Also ritt ich so schnell ich konnte, denn die Angst hatte mich bis tief in die Knochen erfüllt. Noch nie in meinem Leben habe ich mich sosehr gefürchtet. Hinter mir vernahm ich das Kampfgeschrei meiner beiden Begleiter, ihre entsetzten Ausrufe, das mörderische Knurren und Bellen der Fenrisse und das begeisterte, mordgierige Gejohle der Schrate. Die Schlacht war kurz, Reiter samt Pferden wurden vermutlich niedergemacht, erschlagen und zerfetzt. Ich sah sie niemals wieder. Jetzt waren die Schrate hinter mir her.
Mein Tier wurde immer müder, verlor rasch an Geschwindigkeit. Die Fenriswölfe holten auf. Ich trieb mein Pferd weiter an, zwang es die Flanke des Berges hinauf, bis der Wald endlich dichter wurde. Doch so leicht wollten die Schrate nicht aufgeben. Einige waren mit Pfeil und Bogen bewaffnet und schossen wütend hinter mir her. Zum Glück waren sie keine begnadeten Schützen, aber ein einziger glücklicher Treffer würde reichen, um mir den Tod zu bringen. Und tatsächlich: ein Pfeil erwischte mein Ross. Es bäumte sich vor Schmerz auf, verlor das Gleichgewicht, stürzte und warf mich aus dem Sattel. Schnell war mein verwundetes Tier wieder auf den Beinen, stürmte davon und ließ mich zurück. Mein Knöchel war verstaucht, aber die Angst vermag alle Schmerzen zu verdrängen. So humpelte ich in den Wald. Äste peitschten mir entgegen, Wurzeln ließen mich immer wieder stolpern. Es war so dunkel, dass ich nichts mehr sehen konnte. Nur als schwarze Schatten nahm ich Bäume und Strauchwerk wahr. Hinter mir brüllten und lachten die Schrate, die Fenrisse bellten und fauchten. Zweige brachen laut knackend, als die Ungeheuer ins Unterholz vordrangen.«
Iulia zitterte am ganzen Körper.
Inspektor Moore fühlte sich genötigt, aufzustehen und sein Jackett um ihre Schultern zu legen. Sie schenkte dem Polizisten ein dankbares Lächeln. Tom war entrüstet, dass Veyron einfach nur dasaß und nichts weiter für das Wohlbefinden der armen Frau tat.
»Bitte keine Unterbrechungen, Prinzessin. Erzählt den Rest Eures Abenteuers«, sagte er so kalt und herzlos, als wäre er nur eine Maschine.
»Der Wald wurde immer dichter, ständig verfing sich mein Haar im Geäst, und Dornen zerfetzten meine Tunika. Die Schrate hatten ihre Bestien zurückgelassen, jagten jetzt zu Fuß hinter mir her. Sie machten dabei einen furchtbaren Lärm, fluchten derb und drohten mir mit allerhand Grausamkeiten, wenn ich nicht sofort aus meinem Versteck herauskäme.
Meine Kräfte gingen zu Ende, ich brauchte eine Pause. Meine Beine zitterten, mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich gelangte schließlich auf ein flaches Plateau, das an der Westflanke des Berges lag. In der Mitte stand ein großer, steinerner Bogen, weder gemauert noch gemeißelt, sondern von Wind und Regenwasser in seine erstaunliche Form geschliffen, von oben bis unten verwittert. Drumherum war der Wald immer noch sehr dicht. Die Chancen standen nicht schlecht, dass die Schrate mich hier gar nicht fanden. Wo sollte ich auch sonst hin? Ich konnte mich ja kaum mehr auf den Beinen halten. Also schleppte ich mich zum Torbogen und stieg hindurch, wollte mich hinter den Felsen verstecken, nur für einen kurzen Moment.