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Dann geschah etwas Seltsames: genau in diesem Moment veränderte sich die Landschaft. Ich war noch immer in einem dunklen Wald, doch der Berg war verschwunden, das Land ringsum flach. Hinter mir stand der steinerne Torbogen, alles andere schien mir jedoch fremd. Selbst von den Schraten konnte ich nichts mehr hören. Diese Unholde sind allerdings für ihre Gerissenheit bekannt. Vielleicht lauerten sie mir in der Nähe auf.
Die unerwartete Wendung der Ereignisse verlieh mir jedenfalls neue Kräfte. Ich kämpfte mich weiter durchs Unterholz, bis der Wald lichter wurde und ich mehr von der Landschaft erkennen konnte. Tatsächlich befand ich mich jetzt in einem flachen Tal, doch es war nicht das Land, welches den Mons Coronus umgab.
Ich war nicht länger in Maresia. Allmählich wurde mir bewusst, dass ich es geschafft hatte. Der Felsbogen musste das Tor der Simanui sein! Ohne Ziel oder Orientierung marschierte ich weiter. Nirgendwo fand ich ein Anzeichen, dass ich auch tatsächlich bei den Simanui gelandet war. Die Nachforschungen der alten Ennia hatten sich als trügerisch erwiesen. Doch schon im nächsten Moment verwarf ich diese Zweifel wieder.
Ich stieß auf eine sonderbare Straße, schwarz und glatt, überhaupt nicht wie die gepflasterten Straßen des Imperiums. Wie aus dem Nichts tauchten plötzlich aus der Finsternis zwei Lichter auf, wie die Augen eines Drachen. Ich war vor Angst wie versteinert. War ich einem weiteren Ungeheuer in die Falle getappt? Am Ende vielleicht sogar Medusa persönlich? Tatsächlich schoss die Bestie genau auf mich zu und machte dabei einen furchtbaren Lärm. Ich vermochte nichts anderes zu tun, als die Hände vor die Augen zu halten und die Götter anzuflehen, dass es nur schnell vorbei sein möge.«
Sie stutzte und hob verwundert den Kopf.
»An alles, was danach geschah, kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich erwachte in diesem seltsamen, hellen Raum. Offenbar gehörte er zu einem Krankenhaus wie mir der freundliche Pater Felton versichert hat. Fernwelt ist bei uns in Elderwelt nur ein Mythos, gefüllt mit den tollsten Wundern. Die Wahrheit ist jedoch vielfach erstaunlicher und erschreckender, als ich je zu träumen wagte«, schloss sie ihre Erzählung.
Veyron öffnete die Augen. Mit einem plötzlichen Anfall von Hyperaktivität schnellte er aus seinem Ohrensessel hoch und marschierte mit hastigen Schritten im Wohnzimmer auf und ab.
»Ah ja, jetzt verstehe ich endlich die Zusammenhänge«, meinte er mit einer Begeisterung, die niemand sonst nachvollziehen konnte. Er lachte kurz auf, drehte sich zu seinen Klienten um und klatschte laut in die Hände.
»Hervorragend! Ich muss mich bei Euch bedanken, Prinzessin. Eure Geschichte erhellt einige meiner eigenen Rätsel der letzten Zeit. Ja, ich denke ich kann Euch helfen. Ich werde versuchen, Euch mit den Simanui in Kontakt zu bringen. Jedenfalls müssen wir Euch so schnell wie möglich wieder zurück nach Elderwelt bringen. Eure Mutter und die alte Ennia werden sich große Sorgen machen. Vorübergehend möchte ich Euch jedoch wieder der Obhut der beiden Gentlemen hier anvertrauen. Ich werde derweil Eure Rückkehr arrangieren und Inspektor Moore Bescheid geben, wohin er Euch bringen soll, wenn alles bereit ist«, erklärte Veyron, jetzt wieder sachlich und gelassen.
Die Prinzessin erhob sich, knickste vor Veyron und küsste seine Hand. Tom fand das erstaunlich, offenbar war das ein Dankbarkeitsritual in Maresia. Sie wandte sich an Inspektor Moore und Pater Felton. Letzterer war der Schnellere, sprang auf und reichte ihr die Hand. In Begleitung der beiden Constables führte er sie nach draußen.
Moore blieb sitzen und schüttelte den Kopf.
»Was für eine verrückte Story. Die Lady hat ja eine blühende Phantasie«, brummte er.
Veyron war anderer Meinung.
»Angesichts der Tatsache, dass sie mit jedem Wort die Wahrheit sagte, bleibt nur der Schluss übrig, dass Sie vielleicht doch ein Idiot sind, wenn Sie derartigen Unsinn von sich geben, Moore. Jetzt hören Sie mir mal gut zu! Sie sind für den Schutz dieser jungen Dame verantwortlich. Sie werden mit ihr nicht in dieses Hotel zurückkehren, sondern sie bringen sie auf die nächste Polizeiwache. Rufen Sie Gregson an und sagen Sie ihm, dass Sie von Veyron Swift geschickt werden und eine sichere Unterkunft brauchen. In genau drei Tagen brechen Sie zusammen mit der Prinzessin zu einem Ort namens Wisperton auf. Niemand außer Gregson oder Pater Felton darf Sie begleiten.
Ich wollte es vor der jungen Dame nicht erwähnen, aber sie ist auch in unserer Welt nicht sicher. Ich fürchte, sie ist da in eine Sache hineingeraten, an der weitaus größere und gefährlichere Mächte beteiligt sind, als sie sich vorstellt. Ihre Gegner haben auch hier, mitten in London, ihre willfährigen Handlager. Ich sage es ganz deutlich: Prinzessin Iulia schwebt in Lebensgefahr.«
Veyron beugte sich zu Moores Ohr und flüsterte ihm etwas zu. Seine dunkle Stimme klang so finster und drängend, dass Tom ein mulmiges Gefühl bekam.
Moore nickte, sein Blick wild entschlossen. Was immer ihm Veyron auch zugeflüstert hatte, offenbar nahm er ihn jetzt endlich ernst.
»Ich werde alles genau befolgen, Mr. Swift. Ich dachte mir schon, dass da was nicht stimmt. Ich hoffe nur, Sie bringen rechtzeitig Licht ins Dunkel. Aber vergessen Sie nicht: Das ist eine Angelegenheit der Polizei. Wenn Sie einen Hinweis haben, dann müssen Sie …«
Veyron unterbrach ihn mit einer wegwerfenden Handbewegung.
»Sie brauchen mich nicht zu belehren, Moore! Ich kenne die Gesetze! Keine Sorge, Ihre Kollegen bekommen noch genug zu tun. Ich verlange nur eines: Befolgen Sie präzise meine Anweisungen. Der Erfolg wird für sich sprechen.«
Moore nickte, verabschiedete sich von Tom und Veyron.
»Ich versichere Ihnen, Ihrer Prinzessin wird nichts geschehen«, sagte er zuletzt und verschwand durch die Haustür.
Tom hatte plötzlich ein ganz mieses Gefühl. In was für eine Sache waren sie denn nun schon wieder reingeraten?
3. Kapitel: Flucht aus London
Die Haustür war kaum ins Schloss gefallen, als Veyron Swift regelrecht in hektischer Aktivität explodierte. Er sprang mit einem gewaltigen Satz über die Couch, nahm sich ein Buch aus dem nächsten Regal und blätterte es durch. Dabei huschte er mit rasenden Schritten von einem Ende des Wohnzimmers zum Anderen. Plötzlich stieß er einen lauten Jubelschrei aus und warf Tom das Buch zu.
»Ein perfektes Match, Tom! Absolut perfekt! Wir haben einen neuen Fall, mein Lieber. Endlich ist sie um, die Zeit der Lethargie und Langeweile.«
Tom fing das Buch überrascht auf, blickte auf den Einband. Tacitus – Annalen, klassische Literatur. Englisch/Latein. Eindeutig nicht sein Fall.
»Ich versteh nicht, was das mit diesem alten Wälzer zu tun hat«, gestand er mit einem Schulterzucken und legte das Buch auf den Tisch. Veyron machte eine flehende Geste zur Zimmerdecke.
»Weißt du denn gar nichts von der Welt? Tacitus ist der Schlüssel! Seine Geschichte über die frühen Cäsaren. Tiberius, Claudius und Nero. Wir haben ein perfektes Match. Jemand in Elderwelt benutzt Tacitus als Anleitung um die hiesige Cäsarenfamilie auszulöschen, verstehst du das denn nicht?«
»Nein.«
Veyron drückte sich mit einem Seufzen die Augenlider mit den Fingern zu, seine übliche Geste, wenn er sich über die scheinbare Begriffsstutzigkeit seiner Gesprächspartner ärgerte.
»Vergiss es wieder, glaub mir einfach, dass es genauso ist. Wir sind wieder im Spiel und haben einen neuen Fall! Das wird die herbe Enttäuschung unseres letzten Abenteuers aufwiegen«, sagte er.
Tom erinnerte sich sofort wieder an diese Tommerberry-Sache, ein richtiger Flop. Die Leiche eines Buchhändlers war spurlos verschwunden, vor den Augen der Polizei. Veyron konnte jedoch blitzschnell die Wahrheit herausfinden: Der alte Tommerberry hatte seinen Tod lediglich fingiert. Nicht Magisches, keine Zauberei, keine Unwesen. Veyron war so demoralisiert gewesen, dass er sich tagelang in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen und nichts anderes getan hatte, als aus dem Fenster zu starren.
Nun schien diese depressive Phase endlich ein Ende zu haben. Lebendig wie eh und je, jagte Veyron hinauf in sein kleines Arbeitszimmer, begann in seinen Akten und Papierstapeln zu wühlen. Tom folgte ihm, denn er wollte natürlich wissen, was sein Pate als nächstes plante.
Über der Eingangstür hing das einzige Mitbringsel ihres ersten Besuchs in Elderwelt: das Daring-Schwert, festgehalten von ein paar krummen Nägeln. Tom staunte jedes Mal, wenn er die elegante Waffe sah. Es war ein Rapier, mit einem sehr kunstvoll gestalten Korb, die lange, schmale Klinge mit einem Muster aus blauen Juwelen beschlagen. Tom erinnerte sich noch genau, wie ihnen dieses Schwert einige Male wertvolle Dienste geleistet hatte. Es war eine Zauberwaffe, mit vielen erstaunlichen Fähigkeiten. Es konnte sich in Nichts auflösen, wenn man es nicht brauchte und rief man den Geist an, der in dieser Waffe steckte, so erschien sie ebenso wie aus dem Nichts. Zudem war sie federleicht und scharf wie geschliffene Diamanten. Er seufzte, als er daran dachte.
»Werden wir Elderwelt wieder besuchen? Ich würde gerne dorthin zurückkehren«, sagte er.
Veyron hielt inne. Er sah Tom für einen Moment streng an, nur um letztlich den Kopf zu schütteln.
»Im Moment wird das nicht notwendig sein. Meine Mission besteht eigentlich nur darin, diese Prinzessin heil nach Elderwelt zurückzuschicken, dafür muss ich nicht extra dorthin reisen. Iulia Livia ist ein Störfaktor und eine Schwachstelle, die ich abstellen muss, um mich dann dem wahren Problem ungestört widmen zu können«, erklärte er.
»Ein Störfaktor, eine Schwachstelle? Geht’s noch? Diese Frau hat ihr Leben riskiert um hierher zu kommen und Sie wollen sie einfach loswerden?«
Tom war entrüstet, stemmte sich die Fäuste in die Hüften. Beindrucken konnte er Veyron damit allerdings nicht.
»Kurz gesagt: ja. Das eigentliche Problem ist ganz ein anderes. Ich bin an einer gefährlichen Sache dran. Zunächst hielt ich sie für trivial, aber nun weiß ich, dass dem nicht so ist. Medusa-Morde, Tom! Versteinerte Mordopfer, das hat man nicht alle Tage. Auf so einen Fall warte ich schon seit neun Jahren.«
»Das ist ja wieder einmal typisch! Sie interessieren sich lieber für versteinerte Leichen, als für Menschen, die in Not geraten sind!«
Veyron schaute Tom voller Verständnislosigkeit an.
»Was sonst sollte mich an diesem Fall interessieren?«
»Die betroffenen Menschen zum Beispiel? Die arme Iulia, die von Fenrissen verfolgt wurde? Oder was ist mit den beiden Brüdern, die in diesem Gefängnis verhungern müssen? Aber Ihnen sind die Belange Ihrer Mitmenschen vollkommen egal. Ich erinnere Sie an Weihnachten, wo wir oben in Schottland im Schnee standen und irgendwelchen Trollen nachgespürt haben, Trolle die es gar nicht gab!«
Veyron verdrehte die Augen und winkte ab. »Das war in der Tat ein vollkommener Reinfall. Wenigstens haben wir was gelernt: Vertraue niemals deiner Urteilskraft wenn du verzweifelt einen Fall suchst.«
»Meinen Geburtstag haben Sie auch vergessen!«
Veyron zeigte sich nun regelrecht erstaunt, als er diesen Vorwurf an den Kopf geschleudert bekam. Er blinzelte überrascht und betrachtete Tom voller Skepsis.
»Wann hättest du Geburtstag gehabt?«
»Am Dritten Januar!«
Veyron zuckte mit den Schultern. »Na, so wichtig kann der nicht gewesen sein. Ansonsten hätte mich sicher jemand daran erinnert.«
Jetzt platzte Tom endgültig der Kragen. Er spürte wie sein Gesicht blutrot anlief, er musste die Fäuste ballen, um nicht einfach auf diesen Mann loszugehen.
»Nicht wichtig? Ich bin fünfzehn geworden! Und wissen Sie was? Sechzehn werde ich auch noch, aber bestimmt nicht in diesem Haus! Ich hau ab! Jetzt sofort! Sie sind ein Unmensch, hier bleib ich keine weitere Nacht!«
Er stampfte die Treppen hinauf in sein Dachbodenzimmer. Es war groß und geräumig. Das einzige, riesige Fenster bot einen Überblick über die halbe Nachbarschaft. Schnell stopfte er ein paar Sachen in seinen Rucksack und eilte wieder nach unten. Ohne sich zu verabschieden, nahm er den direktesten Weg zur Haustür. Veyron war weit und breit nicht zu sehen. Dafür erklang das angenehme Rauschen der Dusche. Sein Pate tat einfach so, als wäre alles ganz normal! Toms Wut steigerte sich noch weiter. Er ließ die Tür extra laut ins Schloss fallen, sprang die Stufen zum Gartentor hinunter und stürmte hinaus auf die Straße.
Sein Zorn war immer noch heiß, als er die Wisteria Road entlang eilte. Erst acht Straßenlaternen später gelang es ihm, sich halbwegs zu beruhigen.
Dieser elende, herzlose, grausame Mistkerl! Warum musste ich ausgerechnet bei ihm landen? Konnten meine Eltern nicht einen netteren Menschen als Paten aussuchen? Warum um alles in der Welt ausgerechnet er? ging es ihm durch den Kopf. Er war wild entschlossen diesmal nicht so schnell nachhause zurückzukehren, jedenfalls nicht mehr diese Woche. Nur: wo sollte er bis dahin unterkommen? Tom hatte ein paar Freunde an der Schule, aber deren Eltern würden es sicher nicht erlauben, dass er bei denen länger als eine Nacht untertauchte. Er konnte ja schlecht jeden Tag aufs Neue umziehen. Jane wäre dann noch eine Möglichkeit.
Jane Willkins war Polizistin, sie hatte sich um ihn gekümmert, nachdem ihn seine Tante damals allein zurückgelassen hatte. Jane war eine echte Freundin und das Beste: sie konnte Veyron auch nicht besonders gut leiden. Zu ihr war Veyron auch jedes Mal recht gemein, wenn sie miteinander zu tun hatten. Darum also zu Jane.
Tom ging bis zur nächsten Bushaltestelle und wartete. Dabei fiel ihm ein Mann auf, der ganz in der Nähe an einem Laternenpfahl lehnte und telefonierte. Immer wieder schaute der Herr zu ihm herüber. Als Tom den Blick erwiderte, drehte sich der Mann um und sprach leise in sein Telefon. Das kam ihm seltsam vor, ein unangenehmes Gefühl beschlich ihn. Mit diesem Kerl war irgendetwas nicht in Ordnung, das sagte ihm seine Intuition.
»Sei nicht albern«, ermahnte er sich, »was sollte irgendwer von dir wollen, Tom Packard? Wahrscheinlich ist es einfach nur ein Spinner.« Trotzdem wollte er die Augen offenhalten.
Mit einem typisch knallroten Londoner Stadtbus ging es zur nächsten Underground-Station. Einige Haltestellen später war er endlich in Ealing. Den komischen Kerl hatte er im Bus nicht abschütteln können und auch in der Tube nicht. Er stieg sogar in den nächsten Bus ein, der Tom in die Reigate Street brachte. Wurde er tatsächlich verfolgt? Das Verhalten dieses Mannes kam ihm jedenfalls sehr verdächtig vor. Die Geschichte der Prinzessin kam ihm wieder in den Sinn, wie sie tagelang von Medusa verfolgt wurde. Erging es ihm hier ähnlich? Hatten Iulias Feinde sie etwa auch bis nach London verfolgt? Vielleicht war es aber auch irgendein verrückter Stalker. Als sein neuer Schatten diesmal jedoch nicht ausstieg sondern weiterfuhr, verflüchtigten sich Toms Sorgen wieder.
»Offenbar werde ich langsam paranoid. Es leben acht Millionen Menschen in der Stadt und der Typ war ja nicht der Einzige, der mit dem gleichen Bus und der Tube gefahren ist«, sagte er sich.
Jane Willkins Wohnung lag im vierten Stock von 270b Reigate Street, einem schmucklosen Wohnturm aus den Siebzigern. Dort lebte sie mit ihrem aktuellen Freund, Alex Finchley. Tom kannte ihn nicht besonders gut, denn er arbeitete sehr viel, war nur wenig zu Hause. Die Wahrscheinlichkeit lag daher hoch, dass er Jane allein antraf. Sie würde bestimmt nichts dagegen haben, wenn er übers Wochenende bei ihr blieb.
Er trat zur Eingangstür, klingelte. Es verging ungewöhnlich viel Zeit, ehe sich Janes helle Stimme an der Sprechanlage meldete.
»Ja?«
»Ich bin’s, Tom. Kann ich reinkommen?«
»Tom! Warum … ach, egal. Komm rauf.«
Die Haustür summte und Tom drückte sie auf. Das Treppenhaus war stockfinster, nur zögerlich sprangen die Bewegungsmelder an, eine Lampe nach der anderen begann zu glühen. Es roch nach Putzmittel und altem Schimmel.
Tom nahm den Lift, eine Klaustrophobie hervorrufende, enge Kabine mit billiger Holzimitat-Vertäfelung. Sie ruckelte fürchterlich und er war heilfroh, als er endlich oben ankam.
Jane stand in der offenen Wohnungstür, nur in einen Bademantel gewickelt. Ihre dunklen Haare waren noch feucht und sie hatte sie hochgesteckt. Offenbar kam sie gerade aus der Dusche.
Ein atemberaubender Anblick, wie es Tom durch den Kopf schoss. Jane war von bewundernswerter Schönheit, obwohl sie ziemlich genau doppelt so alt war wie er. Ihre großen, dunklen Augen musterten ihn skeptisch.
»Was machst du denn hier? Es wird gleich dunkel, solltest du nicht längst zu Hause sein?«, begrüßte sie ihn und bat ihn, in die Wohnung zu kommen.
»Ich hab Stress mit Veyron«, lautete seine knappe Antwort. Er schlüpfte an ihr vorbei, ging ins Wohnzimmer und ließ sich auf die alte Couch fallen. Sie war so durchgesessen, dass er hart auf dem Gestell aufschlug. Den kurzen Schmerz ignorierte er, verfluchte das alte Ding jedoch heimlich.
»Ist Alex nicht da?«
»Er musste übers Wochenende auf ein Seminar, rüber auf den Kontinent. Mainz, glaube ich. Du weißt ja, er arbeitet fürs Fernsehen.«
»Als Kabeltechniker. Ist er auf einem Kabelkongress?«, warf Tom sofort ein.
Jane presste die Lippen zusammen, ihr Blick verriet ihm, dass es um ihre Beziehung nicht zum Besten stand.
»Tut mir leid, ich wollte nicht fies sein«, entschuldigte er sich sofort.
Jane winkte ab und ließ ihn wissen, dass er sich in der Küche was zum Trinken holen konnte. Sie wollte sich nur noch schnell was anziehen und schon verschwand sie im Schlafzimmer.
Wenig später kam sie zurück, in Jeans und weißer Bluse und setzte sich zu ihm. Natürlich hatte er sich nichts zum Trinken geholt, sondern die ganze Zeit einfach nur die Decke angestarrt. Sie war total vergilbt.
»Du musst wirklich mit dem Rauchen aufhören. Wir müssen das Zimmer ja schon wieder streichen«, meinte er seufzend. Erst im Frühjahr hatte er bei der Renovierung geholfen.
Jane lachte und schüttelte den Kopf. »Danke, aber ich glaub, ich würde im Moment ohne Zigaretten sterben. Sie helfen mir, mich zu beruhigen, wenn ich mich aufregen muss – und das muss ich oft. Nicht nur wegen Alex, sondern auch im Job. Irgendwie wird mir momentan alles ein bisschen zu viel. Also, was ist schon wieder zwischen euch vorgefallen? Ich dachte, dir gefällt’s bei ihm.«
»Naja, schon. Wir kommen eigentlich prima aus, aber seit einiger Zeit ist er richtig durchgeknallt. Er sperrt sich laufend in sein Zimmer ein, oder stellt irgendwelche verrückten Sachen an. Er hat Fliegen gezüchtet, weißt du? Ganze Fliegenschwärme, aus purer Langeweile. Stubenfliegen, Schmeißfliegen, und diese richtig großen, ekligen Fleischfliegen. Er war davon besessen das Summen der verschiedenen Arten voneinander unterscheiden zu können. Mrs. Fuller und ich haben ganze zwei Wochen gebraucht, diese Plage wieder loszuwerden.
Dann hat er angefangen sich nicht mehr zu waschen. Mann, er riecht wie ein Stinktier! Jetzt hat er auch noch meine Freundin bloßgestellt. Die wird nie wieder ein Wort mit mir reden! Er ist so gehässig wie nie zuvor, ein richtiger Arsch, ich hasse ihn!«
»Und, wer ist die Glückliche?«
Tom wurde ein wenig rot vor Scham. Vielleicht hätte er das besser nicht erzählen sollen. Als er Jane damals kennenlernte, war er ein klein wenig in sie verliebt gewesen. Inzwischen war er zwar über diese Phase hinweg, aber irgendwie war es ihm unangenehm, mit ihr über solche Sachen zu reden.
»Vanessa Sutton – aber das ist schon wieder aus. Sie war ein echtes Miststück. Stell dir vor: sie ist zur gleichen Zeit noch mit zwei anderen Jungs gegangen.«
Jane lachte. »Wow, das ging aber schnell. Woher willst du das wissen?«
»Veyron hat’s herausgefunden. Er spioniert mir hinterher. Ich sagte dir ja, dass er vollkommen durchgeknallt ist. Ich halt’s einfach nicht mehr aus. Dich stört’s doch nicht, wenn ich ein paar Nächte hierbleibe, oder? Nur übers Wochenende? Vielleicht kommt er ja dann zur Besinnung.«
Jane wollte gerade etwas erwidern, als es plötzlich an der Wohnungstür klopfte. Die beiden sahen sich verdutzt an. Warum klingelte der Jemand nicht? Jane stand auf, ging zur Tür, öffnete sie jedoch nicht.
»Wer ist da? Wozu gibt es Klingeln?«
»Tut mir leid, aber draußen ist es stockfinster, ich kann den Knopf nicht finden. Sie können ruhig aufmachen, Willkins. Ich bin’s, Swift.«
Jane öffnete die Tür. Tatsächlich: Draußen stand Veyron Swift, gewaschen und rasiert und anstelle des obligatorischen Morgenmantels trug er jetzt ein blaues Hemd und eine teure Stoffhose. Er winkte Tom, der sofort aufsprang.
Was wollte der denn hier?
»Ich muss mich bei dir entschuldigen, Tom. Ich weiß, dass ich nicht immer sehr einfühlsam bin. Also habe ich beschlossen, dass wir deinen Geburtstag nachholen. Etwas spät vielleicht, aber besser als nie. Wir fahren morgen nach der Schule nach Elderwelt, als nachträgliches Geschenk sozusagen«, verkündete Veyron, als er eintrat.
Willkins schloss sofort die Tür, damit keine neugierigen Ohren draußen auf dem Flur etwas davon mitbekamen.
Tom kämpfte mit sich. Eigentlich wollte er Veyron sagen wie egal ihm das war – allein um ihn zu ärgern. Aber eine neue Reise nach Elderwelt? Das war schon seit über einem Jahr sein sehnlichster Wunsch.
»Naja, wenn’s unbedingt sein muss«, brummte er, seine wahre Begeisterung niederkämpfend. Er wollte Veyron unbedingt ärgern, aber sein Pate zeigte nur seinen üblichen, stoischen Gesichtsausdruck. Ganz klar: er hatte Tom schon längst durchschaut.
Willkins trat energisch zwischen die beiden.
»Moment!«, protestierte sie, »Sie können nicht einfach so mit Tom in diese seltsame Zauberwelt aufbrechen. Er hat am Montag wieder Schule, es sind keine Ferien!«
Veyron warf ihr einen amüsanten Blick zu.
»Natürlich kann ich das, Willkins. Wir bleiben auch nicht lange, keinesfalls länger als einen Monat. Die Schule wird das schon verkraften«, konterte er mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen.
Jane fand das alles andere als lustig. »Sie bringen Tom nur wieder in Schwierigkeiten. Ich werde das nicht noch einmal zulassen, Swift! Das letzte Mal wärt ihr beide fast draufgegangen!«
»Wir bringen nur schnell eine Prinzessin nach Elderwelt zurück, das ist alles. Oder, Veyron?«, warf Tom ein.
Jane schenkte ihm einen zornigen Blick. Sie schaute wieder zu Veyron. Sein süffisantes, herablassendes Lächeln auf den schmalen Lippen forderte sie frech heraus. Tom spürte, dass es jeden Moment zu einer fürchterlichen Auseinandersetzung kommen würde, nicht lautstark, aber verbal verletzend. Jane konnte ziemlich derb werden, wenn sie wütend war – und Veyron grausam direkt.
»Vielleicht kann Jane mitkommen? Dann könnte sie dafür sorgen, dass wir schnell wieder zurückkehren. Ein kurzer, schneller Ausflug, nur übers Wochenende. Jane, du bist doch sowieso noch im Urlaub. Was meinst du?«
Jane war vollkommen sprachlos. Noch bevor sie ein Wort sagen konnte – die Ablehnung stand ihr ins Gesicht geschrieben – gab Veyron ganz unverhofft sein Einverständnis.
»Wenn du das unbedingt willst, darf Willkins uns natürlich begleiten. Es ist dein Geburtstagsgeschenk. Sagen Sie mir, Willkins, haben Sie England eigentlich jemals verlassen?«
Jane musste erneut tief durchatmen, um ruhig zu bleiben.
»Ich muss Ihnen ganz sicher nicht erzählen, wohin ich schon überall in den Urlaub gefahren bin. Ich glaube, ich hab schon mehr von der Welt gesehen als Sie«, zischte sie.
Veyron schmunzelte amüsiert in sich hinein. Sie weitete überrascht die Augen, als sie seine vermeintlichen Absichten zu durchschauen glaubte.
»Ach so ist das«, meinte sie verärgert. »Sie wollen mich provozieren! Sie meinen, ich würde mich nicht trauen. Da haben Sie sich aber geschnitten. Also gut, ich bin dabei! Wann wollen Sie losstarten?«
Veyron hob in einer kleinwenig überraschten Geste die Augenbrauen. Tom war ganz stolz auf Jane, weil sie es zum ersten Mal geschafft hatte, das sein Pate wirklich sprachlos dastand. Lange hielt dieser Zustand jedoch nicht an. Veyron war sofort wieder bei der Sache.